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Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Nr. 7, 28. März 1900.
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Ein Kampf hat in den letzten Tagen im deutschen Reichstag getobt, so leidenschaftlich, so stürmisch, wie sich seinesgleichen noch nie in dieser Musteranstalt parlamentarischen Wohlverhaltens abgespielt hat. Das Kampfesobjekt war der so genannte Kunst- und der so genannte Theaterparagraph der lex Heinze.
Warum im Gesetzentwurf diese schmachvolle Zusammenkoppelung von Kunst und Literatur mit Kuppelei und Zuhältertum? Weil – wie wir schon beim ersten Auftauchen der Heinzerei betonten – die Sittlichkeit die Maske ist, unter der die kulturhassende Reaktion die Freiheit der künstlerischen Entwicklung, die Freiheit des geistigen Lebens zu knebeln hofft. Die kautschukartigen Bestimmungen, mit denen die genannten Paragraphen zur höheren Ehre einer vorgeblichen Sittlichkeit – in Wirklichkeit der Furcht vor Wahrheit und Sittlichkeit – operieren, ermöglichen die Erreichung dieses Zieles. Der aufgestellte Begriff dessen, „was ohne unzüchtig zu sein, das Schamgefühl gröblich verletzt“; der andre von dem „Ärgernis erregenden Ausstellen oder Anschlagen an den Straßen, Plätzen oder anderen Orten“, öffnet unbegrenzte Weiten, wo sich die Willkür und Deutungsfreudigkeit sittlichkeitsbeflissener, aber kunstunverständiger Polizeibehörden und Richter behaglich zu tummeln vermag.
Allerdings erklären die katholischen und protestantischen Zeloten einer krankhaften, moderduftenden Sittlichkeitsauffassung, dass die Schärfe des Gesetzes fürderhin nur die Zote, das Gemeine, Niedrige treffen solle und nicht die „hohe, die reine Kunst“. Aber es wäre mehr als Torheit, es wäre ein unverzeihliches Verbrechen gegen de bedrohten Kulturgüter, wollte das deutsche Volk diesem gleisnerischen Beruhigungs-Eiapopeia glauben. Da sind die Erklärungen der Herren, um das süßsaure Gehabe, das heuchlerische Geknixe vor der „reinen Kunst“ Lügen zu strafen. Hat nicht seinerzeit Herr Spahn, ein Mitglied des Zentrums, Ibsen für unmoralisch erklärt, in dessen Schöpfungen doch eine ernstere, tiefere Moral lebt, als in vielen dickleibigen, schweinsledernen Folianten von Kirchenvätern und Krchengelehrten vorhanden ist? Der Zentrümler Herr Roeren ist der Ansicht, dass es vom Standpunkt der Sittlichkeit aus zu begrüßen wäre, wenn manche Werke Sudermanns verschwinden würden. Sein Bruder in Reaktion, Herr Rintelen, prägte mit herzerquickender Offenheit das Wort von „der Klassizität, die nichts fürs Volk ist“, ein Wort, das die ganze Kulturfeindlichkeit des Besitzenden und des Dogmengläubigen verrät. Von all den wahrhaft barbarischen Äußerungen zu schweigen, die zum Kapitel des ††† Nackten in der Kunst von Geschorenen und Gescheitelten getan worden sind, und die von der rohesten Auffassung der Kunst, wie von dem gröbsten Begreifen der Sittlichkeit zeugen.
Mit der Schärfe eines Scheinwerfers zeigt übrigens eine Tat, wohin die Herren steuern. Zentrümler und Konservative im holden Bunde haben den bei zweiter Lesung warm befürworteten Arbeitgeberparagraphen fallen lassen, die einzige wertvolle Bestimmung der lex Heinze, die einzige, die geeignet war, tatsächlich eine Quelle der Prostitution einzudämmen. Warum? Um für diesen Paragraphen unwirksame Maßregeln gegen Kuppelei und Zuhälter und vor allem um vermittelst des Kunst- und Theaterparagraphen die Knebelung des modernen Kunstlebens zu erschachern. Das Endziel – Hebung der Sittlichkeit! – ist den Herren nichts, de Bewegung – nach rückwärts – alles!
Zurück darum mit der Kunst- und Kulturentwicklung ins Mittelalter, unter das Joch der Kirche, das ist es, was die Schwarzen um Roeren wie die Schwarzen um Stöcker erstreben. Wie doch trumpfte Herr Gröber den sozialdemokratischen Antrag ab, dass die §§ 184a und 184b auf künstlerische Erzeugnisse und Darstellungen keine Anwendung finden sollten? „Für uns ist es ganz egal, ob eine Darstellung künstlerisch ist oder nicht künstlerisch, wenn sie schamlos ist.“ Schamlos aber ist für die Heinzegarde alles, was nicht vor einem Sittlichkeitsbegriff besteht, der auf dem Prokrustesbett katholischer oder protestantischer Orthodoxie zusammengepresst, gestreckt, gedehnt, kurz künstlich verkrüppelt worden ist und den lebendigen Menschen dem verknöcherten Glaubensartikel opfert.
Im brünstigen Begehren nach einer Rückwärtsrevidierung moderner Kulturentwicklung, nach der unumschränkten Herrschaft der Kirche – der die Kunst als Werkzeug dienen soll, die Geister der Menschen zu knechten – haften die tiefen Wurzeln des banausischen Hasses gegen das Nackte in der Kunst und gegen die moderne Literatur. Gewiss, dass mancher Steinwurf, den der oder jener fromme Bilderstürmer gegen die marmorne Hoheit der Venus von Milo schleudert, sich aus der Seelestimmung des alten Betbruders erklärt, der ein junger Wüstling gewesen ist. Aber diese Seelenstimmung einzelner, die aus der eigenen Unreinheit heraus nicht das Reine zu fassen vermögen, ist nicht allein und nicht in erster Linie die treibende Kraft des Kreuzzugs für versittlichende Feigenblätter und Leibbinden, wie für verlogene Erzeugnisse einer Literatur für Backfische.
Die Dunkelmänner hassen in dem Nackten das Symbol der lebendigen Menschennatur, die sich auf die Dauer nicht durch das Dogma knechten ließ. die ihr Recht forderte und erkämpfte. Sie hassen in dem Nackten den vorwärts drängenden Geist, der im Fleische wohnt und das Menschliche gegenüber dem Kirchlichen heiligte und erhöhte. Der Hass der Kirche gegen das Nackte, ihr Wüten gegen der „Augen Lust“ und des „Fleisches Lust“ kam erst mit der Rebellion des Geistes gegen die tote Satzung. Wie gut fand sich nicht die katholische Kirche bei den Fastnachtsspielen etc. mit dem Fleische ab; wie wenig forderte es ihr Einschreiten heraus, dass Ladislaus II. beim Einzug in Wien von Dirnen in durchscheinenden Gewändern empfangen wurde, der gut katholische Karl V. beim Einzug in Brügge gar von nackten Freudenmädchen; wie vorurteilslos bewunderten die fein gebildeten großen Päpste der Renaissance die Darstellung des Nackten durch die Kunst! Und eignete nicht dem vollsaftigen Luther eine sehr robuste Betrachtung des Fleisches und des Sinnlichen?
Die Dunkelmänner hassen in der modernen Literatur den modernen kritisches Geist, der ohne ehrfürchtige Scheu der Überlieferung ins weite Antlitz leuchtet, kühn die Tafeln überkommener Moralitätsbegriffe in Stücke schlägt, und neue sittliche Werte prägt. Sie hassen diesen kritischen Geist, der schonungslos aufdeckt, wie wurmstichig und faul das Alte ist, wie lebenskräftig das Neue empor und vorwärts drängt. Sie hassen in der Freiheit der künstlerischen Entwicklung eine revolutionäre Kraft, welche aus sattem, schläfrigem Behagen emporrüttelt, den Glauben vertreibt und den Zweifel einführt, die Auflehnung an Stelle der Unterwerfung setzt, zum Kampf um neue Ideale treibt. Sie hassen den neuen Inhalt, den die Kunst mit der neuen Form sucht, und der sie stets in einem gegebenen Augenblick in Gegensatz zu dem Alten, Bestehenden bringen muss. De katholischen und protestantischen Rückwärtsler spielen denn auch die „christliche Moral“, die „schlichte bürgerliche Moral“ gegen die „Künstler- und Schriftstellermoral“ aus.
Der blindwütige Hass der Reaktionäre gegen die freiheitliche Entwicklung des Geisteslebens, die sich in der Kunst widerspiegelt und ihrerseits diese fördert, erklärt die Zähigkeit, Erbitterung und Leidenschaft, mit welcher für und wider die Fesselung der Kunst und Literatur gekämpft wurde. Nicht Anhänger und Gegner etlicher beschränkter, verfehlter Bestimmungen eines verfehlten Gesetzentwurfs standen einander gegenüber. Das Mittelalter kämpfte gegen die Neuzeit, das starre Kirchendogma gegen das lebendige Menschentum, die Freiheit wider die Knechtung. Es sind zwei Weltanschauungen die um die Oberhand rangen. Freiheit des Werdens, Kultur lautet die Losung der einen; Stillstand und Rückschritt ist das Feldgeschrei der anderen.
In diesem gewaltigen bedeutungsvollen Ringen hat unbestritten die Sozialdemokratie die Führung des Kampfes für Freiheit und Kultur übernommen. Die bürgerlich freisinnigen Elemente kämpfen in der bescheidenen Rolle ihrer Gefolgschaft. Diese Tatsache ist ebenso bezeichnend wie die andre, dass der politische Verfall des deutschen Bürgertums den Ansturm der schwarzen Garde gegen die Kunst und Kultur herausgefordert hat. Indem das Bürgertum die politische Freiheit preisgab, um den kapitalistischen Profit zu sichern, bereitete es den Boden für das Attentat auf die freie Kunst- und Kulturentwicklung. Die lex Heinze stammt in gerader Linie von dem Sozialistengesetz und dem Umsturzgesetz ab.
Mit glänzendem Geschick hat die Sozialdemokratie die zweischneidige Waffe der Obstruktion gehandhabt, um die Kultur zu schützen. Durch Anträge, Geschäftsordnungsdebatten, namentliche Abstimmungen, die Forderung einer nichtöffentlichen Sitzung hat sie im Bunde mit den Freisinnigen den Versuch einer Überrumpelung zurückgeschlagen. Aber noch ist die der Kultur drohende Gefahr nur aufgeschoben, nicht aufgehoben. Nun heißt es die gewonnene Zeit nützen. Wie die Sozialdemokratie im Parlament ihre Schuldigkeit getan, so müssen nun Massendemonstrationen der Bevölkerung das ihrige tun. Schon sind die proletarischen Massen in Bewegung, um Kunst und Kultur zu verteidigen, die in der Hauptsache heute noch das Erbteil der Besitzenden sind, aber als höchster Preis des siegreichen Proletariats morgen zum Gemeingut Aller werden. Die Welt der Künstler und Gebildeten hat nur zögernd, in letzter Minute den Kampf aufgenommen, als der Hannibal des kulturfeindlichen Junker- und Muckertums bereits vor den Toren stand. Möchte sie nun wenigstens mit dem Nachdruck und der Begeisterung kämpfen, welche die führende Sozialdemokratie betätigt.
Die Horde der „roten Barbaren“, vor deren „Pöbelherrschaft“ gerade Künstler und Gelehrte den Untergang aller Kunst, aller Wissenschaft, aller Kultur prophezeien, im Vordertreffen des Kampfes, als Führerin des Kampfes für Kunst, Wissen und Kultur! Es gibt noch eine Ironie der Geschichte. Hoffentlich fürchtet [Reichskanzler] Prinz Hohenlohe nicht zu Unrecht, dass die Gebildeten und Künstler aus den Tatsachen lernen werden.
Zuletzt aktualisiert am 16. August 2024