Clara Zetkin

 

Zum Parteitag in Hannover

(27. September 1899)


Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 27. September 1899.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 176–184.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Kein Parteitag der Sozialdemokratie seit dem zu Erfurt kann sich an Bedeutung mit der bevorstehenden Tagung in Hannover messen. So wichtig für die äußere Erstarkung und innere Entwicklung der Sozialdemokratischen Partei die Beratungen und Entscheidungen mehr als eines Kongresses gewesen sind, wir nennen als Beispiel nur die Stellungnahme zum Staatssozialismus in Berlin, zur Agrarfrage in Breslau, so werden sie an Bedeutsamkeit doch von der Aufgabe des diesjährigen Parteitags übertroffen. Denn hier handelt es sich nicht nur um die Erörterung und Entscheidung über eine einzelne Frage, sondern um die Prüfung der wesentlichsten Grundsätze selbst, zu denen sich die Sozialdemokratie bekennt und die für ihren Charakter und ihre Tätigkeit ausschlaggebend sind.

Die gleiche Aufgabe hatte die Sozialdemokratie in Erfurt zu lösen; in den Auseinandersetzungen mit den „Unabhängigen“ und mit Vollmar galt es, die Grundsätze und die Taktik der Partei nach links und nach rechts hin festzulegen. Heute liegen die Dinge so, dass die Sozialdemokratie nur noch nach rechts hin ihren grundsätzlichen Charakter und ihre taktische Haltung abzugrenzen hat. In einer lebenskräftigen Partei, wie sie es ist, die arbeitend kämpft und kämpfend arbeitet und die durch ihre Existenzbedingungen gezwungen ist, Sektiererei und Unfruchtbarkeit scharf von sich zu weisen, musste die Praxis mit der Bewegung der „Unabhängigen“ schnell und gründlich aufräumen. Die nämlichen Umstände aber, welche nach links hin die Klärung begünstigten und beschleunigten, müssen sie nach rechts hin erschweren. Die Tagesarbeiten, welche die Sozialdemokratie bewältigen muss und die in Deutschland infolge der Schwäche und des Verrats des bürgerlichen Liberalismus besonders zahlreich und verwickelt sind, führen in Situationen, wo für einzelne Personen und bestimmte Schichten der Opportunismus nahe liegt, der kurzsichtig um des Augenblickserfolgs willen den proletarisch-revolutionären Charakter der Partei abschwächen möchte, der gewillt ist, das „politische Geschäft“ an Stelle des proletarischen Klassenkampfes zu setzen, der Staatsmännelei von Führern mehr Bedeutung beizulegen als der politischen Aktion der Massen, das sozialistische Endziel des proletarischen Klassenkampfes durch die überschätzte Reform in den Hintergrund zu drängen.

Weil die Entwicklung der Sozialdemokratischen Partei sich nicht im luftleeren Raum von Abstraktionen vollzieht, sondern in einer Welt tatsächlicher Verhältnisse und Verknüpfungen, so haben deshalb opportunistische Strömungen den Werdegang unserer Partei begleitet und werden auch fürderhin im Parteileben zutage treten. Aber nichts ist irriger, als aus dieser Tatsache die Berechtigung, ja Notwendigkeit abzuleiten, den possibilistischen Tendenzen gegenüber die Hände in den Schoß zu legen und als „Fanatiker des Dogmenglaubens“ auf die allmächtig waltende geschichtliche Entwicklung zu bauen, die, Irrungen und Wirrungen ungeachtet, den Kampf des Proletariats auf der richtigen Linie vorwärts treiben müsse. Irrungen und Wirrungen gehen auf Kosten der Einheitlichkeit und Kraft des proletarischen Befreiungsringens. Die Auseinandersetzungen in Hannover über die Grundanschauungen und die taktische Haltung der Sozialdemokratie, wie sie Punkt 6 und 7 der Tagesordnung vorsehen, sind zur unabweisbaren Notwendigkeit geworden.

Bernsteins Buch ist zwar der Ausgangspunkt der betreffenden Debatten und wird vielfach in deren Mittelpunkt stehen, läge aber nichts weiter vor als dieses Buch und die es erklärenden Artikel – die Sozialdemokratie brauchte wahrlich nicht zu den Angriffen auf ihre Grundsätze und ihre Taktik Stellung zu nehmen. Was die Stellungnahme dringlich macht, ist vielmehr der Umstand, dass Bernstein der Theoretiker einer kleinen, aber einflussreichen Gruppe in der Partei ist. Innerhalb der sozialdemokratischen Bewegung sind Erscheinungen aufgetaucht, zu denen die Partei Stellung nehmen muss, dafern sie mit ihrem proletarisch-revolutionären Charakter ihre alte Einheitlichkeit und Geschlossenheit bewahren will. In Sachen des Militarismus, des Schutzzolls, der Kolonialpolitik, der sozialen Reform usw. haben Schippel, Auer, Heine, Vollmar und noch andere einer Auffassung das Wort geredet, in der sich ein schrittweises Verlassen des grundsätzlichen Bodens ankündigt, auf dem die Sozialdemokratie bisher gestanden hat. In Hamburg befürworteten Schippel und Auer die Bewilligung von Kanonen im Namen der „nationalen Interessen“; Heine empfahl in seiner viel umstrittenen Wahlrede das Tauschgeschäft „Kanonen für Volksrechte“; in seiner Artikelserie gegen die Miliz zog Schippel die letzte Konsequenz der begonnenen Mauserung, indem er an Stelle des grundsätzlichen Kampfes gegen den Militarismus die lendenlahme kleinbürgerliche Bekrittelung dessen Auswüchsen setzte.

Das Lebensinteresse der Partei heischt um so gebieterischer eine gründliche Abrechnung mit dem Opportunismus, als dieser heute nicht mehr wie in Erfurt von dem einzigen Vollmar gepredigt wird, vielmehr von einer ganzen Reihe von Genossen, die 1891 die schärfsten Angriffe gegen die von Vollmar angepriesene Taktik der offenen Hand für den guten Willen richteten. Erklärlich genug. Die überreiche Fülle der reformlerischen Tagesarbeiten, welche die Sozialdemokratie leisten muss, trübt bei manchem den Blick für die großen geschichtlichen Entwicklungslinien, lässt das revolutionäre sozialistische Endziel im Nebel der Zukunft verschwinden und verleiht dafür den zu erringenden oder errungenen Reförmchen übermächtige Dimensionen. Dazu noch eins: Als einzige ernste Oppositionspartei in Deutschland, welche den Kampf gegen die Reaktion und für den Fortschritt, für freie Entwicklung auf allen Gebieten führt, muss die Sozialdemokratie zahlreiche Elemente aus dem Bürgertum anziehen, die ihre alte bürgerliche Auffassung nur sehr schwer oder auch nie völlig loswerden und denen deshalb die milde Reformsabbelei eines opportunistischen Sozialismus sympathischer sein muss als der revolutionäre Sozialismus, der auf dem Boden des Klassenkampfes steht. Da das Gebiet der positiven Arbeiten der Sozialdemokratie sich stetig erweitert, da der Zuzug bürgerlicher Elemente ein um so stärkerer werden muss, je mehr die bürgerlichen liberalen Parteien der Zersetzung anheim fallen, wird es eine immer wichtigere Aufgabe der Partei, den auftauchenden opportunistischen Strömungen nachdrücklich entgegenzuwirken, sie in das Bett des revolutionären Sozialismus zu lenken, statt diesen in das Flachland einer opportunistischen, grundsatzlosen Erfolgspolitik „von Fall zu Fall“ übertreten zu lassen. Die Spuren schrecken. Die Geschichte sämtlicher bürgerlichen Parteien ist ein einziger Beweis dafür, wohin die Preisgabe eines festen, grundsätzlichen Programms und einer diesem Programm entsprechenden Taktik führt.

Aber nicht allein die wachsende Ausdehnung der opportunistischen Tendenzen fordert die Stellungnahme der Partei heraus. Vielmehr auch und nicht zum wenigsten der Umstand, dass die hervorragendsten Wortführer des Opportunismus einflussreiche Parteistellungen bekleiden, als Gemeinderäte, Reichstags- und Landtagsabgeordnete, Redakteure usw. verhältnismäßig leicht auf breite Kreise der proletarischen Massen zu wirken vermögen und durch ihre Haltung deren Klasseninstinkt trüben können, statt ihn zum klaren Klassenbewusstsein und zum energischen Klassenwillen zu erziehen.

Allerdings wird von opportunistischer Seite behauptet, dass ein Gegensatz zwischen einem Rechts und Links in der Partei nicht vorhanden sei. Nach den Ausführungen der Genossen Gradnauer, Heine und Fischer hat Bernstein, haben die ihm Beipflichtenden auch nicht ein Titelchen der sozialdemokratischen Grundsätze preisgegeben, stehen sie unentwegt auf dem prinzipiellen Boden, auf dem die Masse der Genossen steht. Nur die Unfähigen oder Böswilligen des „starren marxistischen Dogmenglaubens“ missverstehen schnöde die Ärmsten und missdeuten, was diese „gedacht“ und „gemeint“. Hierauf ist zu erwidern, dass es nicht die Aufgabe der Sozialdemokratie ist, Herz und Nieren der opportunistischen Führer auf gute Absichten zu prüfen, die in Frage zu stellen niemand einfällt. Wohl aber gilt es, die für den proletarischen Befreiungskampf schädlichen Folgen aufzuzeigen, die trotz allen guten Meinens und Wollens aus einer Mauserung des grundsätzlichen Charakters der Sozialdemokratie hervorgehen müssten.

Wenn betont wird, dass keine Gegensätze, nur „Missverständnisse“ vorliegen, so hören wir das alte Lied, das Vollmar in der Rolle der verkannten Unschuld vom Lande bereits in Erfurt anstimmte, das Schippel behufs einer Möchtegern-Rechtfertigung seines Isegrimm-Artikels erschallen ließ. Es ist eine Variation der Auerschen Weise, dass es in der Partei nicht grundsätzliche Gegensätze gebe, sondern nur Verschiedenheit des Temperaments und der Sprache. Dass der Opportunismus vor jeder ernsten, grundsätzlichen Auseinandersetzung hinter das Dickicht des „Missverstandenwordenseins“ flüchtet, ist eines seiner charakteristischen Merkmale. Ohne die hierfür maßgebenden Gründe „missverstehen“ und „missdeuten“ zu wollen, scheint es doch, dass er die Maxime für ersprießlich hält: „Im Dunkeln ist gut munkeln.“

Anhänger des Opportunismus bezeichnen übrigens die verlangte unzweideutige Stellungnahme des Parteitags nicht bloß als überflüssig, sie weisen sie vielmehr im Namen der „Freiheit der Kritik und der Wissenschaft“ als eine Schädigung der Partei zurück. Gewiss, für keine Partei ist die freieste Kritik ein gleiches Lebensbedürfnis wie für die Sozialdemokratie. Sicher, dass keine Partei so wie sie von der Achtung vor der Wissenschaft durchdrungen ist, von dem Bestreben beseelt wird, ihr Sein und Tun mit den Ergebnissen der Forschung in Einklang zu bringen. Die Sozialdemokratie wohnt nicht in dem Wolkenkuckucksheim schöner Ideologien und philosophischer Spekulationen, sie wurzelt in dem festen Grund der tatsächlichen, lebendigen Wirklichkeit und kann sich nur gesund fortentwickeln, solange sie sich durch stete kritische Nachprüfung ihres Besitzstandes an Wissen und Erkenntnis in innigster Fühlung mit dieser Wirklichkeit hält und sie zu beherrschen vermag. Wenn sie die Ergebnisse der Kritik und Forschung der Tutti-quanti-Opportunisten zurückweist, so keinesfalls, weil sie jede Kritik als ein Attentat, jede Forschung als ein Verbrechen wider ihre Grundsätze bewertet. Vielmehr lediglich deswegen, weil die Resultate dieser Kritik und Forschung wohl bestechend schillern, jedoch bei tieferer Prüfung sich als unstichhaltig erweisen.

Wäre dem nicht so, die ureigensten Lebensinteressen würden die Sozialdemokratie zwingen, sich zur opportunistischen Heilsbotschaft zu bekehren, allen Schriften von Marx und Engels ungeachtet; ja, wenn die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus noch lebten, sie würden die ersten sein, Theorien zu zertrümmern, die sie auf irrtümlichen Voraussetzungen aufgebaut. Was die Opportunisten jedoch unter dem Schlagwort „Freiheit der Kritik und Wissenschaft“ begehren, ist die Kritiklosigkeit gegenüber dem Evangelium von der alleinseligmachenden „praktischen Politik“, ist die unbesehene Annahme der angepriesenen neuen Taktik. Kritik an dem „alten marxistischen Dogma“, welch erhabenes, verdienstvolles Werk! Kritik an den Ergebnissen der Bernsteinschen „freien Forschung“, welch Scheuel und Gräuel! Nur der „pfäffische Unfehlbarkeitsdünkel“ eingefleischter „Marx-Gläubiger“ kann sich seiner schuldig machen.

Eine solche Kritik deckt ja den tatsächlich vorhandenen schroffen Gegensatz auf, in welchen sich der Opportunismus zu den Prinzipien der Sozialdemokratie, zu ihrem innersten Wesen stellt. Denn nicht darin beruht dieser Gegensatz, dass die Opportunisten vor allem Befürworter der praktischen Reformarbeit sind, während die revolutionären „Dogmenfanatiker“ alles Heil von einer sozialen Katastrophe erwarten und im Köhlerglauben an deren Allmacht jede Reform von sich weisen. Der Gegensatz besteht vielmehr in der grundsätzlich verschiedenen Bewertung der Reformarbeit. Die Auffassung der opportunistischen Rechten lässt die Reformarbeit zum Selbstzweck werden, denn jedes Reförmlein bedeutet für sie ein Stückchen verwirklichter Sozialismus. Für die revolutionäre Linke ist die Reformarbeit nur Mittel zum Zweck, nur die unerlässliche Vorbedingung dafür, dass das Proletariat auf jene Stufe des Wissens, Wollens und Könnens gehoben wird, die ihm ermöglicht, die politische Macht zu erobern und mittels ihrer die kapitalistische durch die sozialistische Gesellschaft zu ersetzen. Wir erinnern an die Tatsache, dass der revolutionäre Parvus nicht die soziale Revolution proklamiert wissen wollte, sondern einen energischen Kampf forderte für die Einführung des Achtstundentages, die Aufhebung der Getreidezölle usw.

Aufgabe des Parteitags zu Hannover ist es, die Bestrebungen zur Vertuschung und Überkleisterung der vorhandenen Gegensätze abzuwehren, diese Gegensätze vielmehr scharf in Erscheinung treten zu lassen und in reinlicher Scheidung die Grenzlinie zwischen dem Opportunismus und dem grundsätzlichen Charakter der Sozialdemokratie zu ziehen. Es gehört eine starke Dosis von Kindlichkeit dazu, wenn einzelne Persönlichkeiten sich diese reinliche Scheidung nicht anders vorstellen können als in Form eines „Ketzergerichts“ mit obligatem Bannfluch gegen Personen. Es handelt sich um eine reinliche Scheidung der grundsätzlichen Auffassungen, die einander entgegenstehen, nicht aber um den Ausschluss „Ungläubiger“ und die Kanonisierung (Heiligsprechung) „Rechtgläubiger“. Hat die Vertretung der Gesamtpartei in einer Resolution festgelegt, welche Grundsätze für das Sein und Tun der Sozialdemokratie ausschlaggebend sind, so ist es Sache jeder einzelnen opportunistelnden Person, mit ihrem Gewissen auszumachen, ob sie der Partei angehören könne oder nicht. Allerdings genügt es zu diesem Behuf nicht, dass die Resolution erklärt, was die Sozialdemokratie nicht will, sie muss vielmehr klipp und klar sagen, dass diese nach wie vor auf dem Boden des Klassenkampfes steht, an ihrem proletarisch-revolutionären Charakter, an ihrer proletarisch-revolutionären Taktik festhält und die Eroberung der politischen Macht erstrebt als Vorbedingung für die Verwirklichung des sozialistischen Endziels. Wenn die Vertretung der deutschen Sozialdemokratie in Fühlung mit den proletarischen Massen, in Übereinstimmung mit deren Auffassungen berät und beschließt, so ist es für uns kein Zweifel, wie die Stellungnahme des Parteitags ausfallen muss. In fester Geschlossenheit wird die Masse der Genossen zusammenstehen als die alte zielklare, siegesgewisse revolutionäre Sozialdemokratie.

 


Zuletzt aktualisiert am 16. August 2024