Clara Zetkin

 

Wider den Brotwucher!

(8. Juni 1898)


Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 8. Juni 1898.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 126–133.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


„Wie teuer ist das Brot, und wie bald ist ein Laib aufgegessen!“ Welche proletarische Hausfrau und Mutter hat nicht schon diesen Seufzer ausgestoßen und dabei bekümmert die hungrigen Mägen überzählt, die an ihrem Tische tagtäglich gefüllt sein wollen. Ganz besonders aber in den letzten Wochen muss die bange Sorge ihr wieder und wieder den Ausruf abgepresst haben. Die Brot- und Mehlpreise sind gewaltig in die Höhe gegangen, um 2, fast 3 Pfennig für das Pfund. In Chemnitz ist zum Beispiel der Preis für den Sechspfundlaib von 62 auf 68 Pfennig gestiegen; in Aachen kostete der Vierpfünder vor etwa anderthalb Monaten 32 Pfennig, jetzt dagegen kommt er auf 40 bis 42 Pfennig zu stehen; in Breslau wird das vierpfündige Schwarzbrot mit 47 statt mit 31 Pfennig bezahlt, das Weißbrot gleichen Gewichts mit 50 statt mit 33 Pfennig usw. Wo der Preis des Brotes nicht gestiegen ist, hat sich das Gewicht bedeutend verringert. So wiegt zum Beispiel in Leipzig das „Sechsgroschenbrot“ nur noch 4½ statt 6 Pfund. Aus anderen Orten wird die gleiche Tatsache gemeldet. Die Semmeln und Weißbrötchen haben überall an Gewicht abgenommen und sind ihrer Größe nach mehr als zierlich geworden. Die witzigen Berliner haben den winzigen Brötchen bezeichnenderweise den Namen „Kanitzbrötchen“ beigelegt. Hier und da berichten die Zeitungen von einer Verschlechterung des Gebäcks: Minderwertige Mehlsorten werden den besseren beigemischt. Kurz, überall Klagen, dass der Käufer für das gleiche Geld wie früher weniger Brot der Menge oder dem Nährwert nach erhält.

Und der Grund der Erscheinung, die sich nicht auf Deutschland allein beschränkt? Die Getreidepreise sind bedeutend gestiegen. Der Doppelzentner Weizen, der früher 15‚8 Mark im Preise stand, kostet in einem gegebenen Augenblick 24 Mark, 24,6 Mark, ja 24,8 Mark; der Preis des Doppelzentners Roggen ist von 10,9 auf 17,8 Mark in die Höhe gegangen. Der Spanisch-Amerikanische Krieg ist es, der den augenblicklichen Anstoß zum Anziehen der Getreidepreise gegeben hat, die vermehrte Nachfrage nach Getreide und Mehl behufs Verproviantierung der Truppen wurde von den Spekulanten ausgenützt. Allein das Jobbertum vermochte nur Kapital aus der von dem Kriege geschaffenen Situation zu schlagen, weil die Lage auf dem Getreideweltmarkt dies ermöglichte. Infolge vorangegangener Missernten in Russland und Indien und anderer Umstände noch sind verhältnismäßig wenig Getreidevorräte vorhanden. Es musste deshalb ein anhaltendes Steigen der Getreidepreise bewirken, als schlaue Spekulanten in Amerika große Mengen von Brotfrucht aufkauften und zurückhielten, ohne dass noch vorhandene bedeutende Vorräte davon auf den Markt geworfen wurden und einen Preisdruck ausüben konnten. Klar, offensichtlich erhärten die einschlägigen Verhältnisse, wie die Vorgänge des politischen, des allgemeinen wirtschaftlichen Lebens Einfluss ausübend in die Existenz der Frau eingreifen, wie dringend in der Folge deren Pflicht ist, sich um politische Angelegenheiten zu kümmern, wie unabweisbar ihr Recht, als vollberechtigte Staatsbürgerin an der Gestaltung der öffentlichen Verhältnisse mitwirken zu können.

Aber nicht die augenblicklich entfesselte, reiche Profite einsäckelnde Spekulation allein ist es, die der deutschen Proletarierin und ihren Angehörigen das Brot verteuert und sie zum härteren Entbehren zwingt. Schwerer als sie belastet seit Jahren der Getreidezoll das Budget der Armen, der kleinen Leute. Bereits 1879 eingeführt – kaum dass die deutsche Arbeiterklasse durch das Sozialistengesetz geknebelt worden –, ist er mit verständnisinniger Sorge für den Geldbeutel der schreienden, Strohdächer flickenden Junker wiederholt erhöht worden. Von 1887 bis 1891 betrug er sogar je Doppelzentner Weizen und Roggen den stattlichen Satz von 5 Mark und trieb den Brotpreis entsprechend in die Höhe. In dem letztgenannten Jahre wurde er auf 3,50 Mark herabgesetzt, so dass ihm zufolge diese ganzen Jahre über das Kilo Brot „bloß“ noch um 4 Pfennig verteuert worden ist. Denn es ist eine unbestreitbare Tatsache: Der Zoll treibt um seinen Betrag nicht nur den Preis für das eingeführte ausländische Getreide in die Höhe, er verteuert vielmehr auch die inländische Brotfrucht und damit Mehl und Brot um die entsprechende Summe. Die deutschen Brotesser müssen mithin nicht nur als Zollträger an den Staat die Millionen entrichten, welche der Zoll in die Kassen des Fiskus leitet, sondern sie müssen auch den Getreideproduzenten – das sind in erster Linie die Großgrundbesitzer – Hunderte und aber Hunderte von Millionen mehr für das inländische Getreide bezahlen.

Gerade weil dem so ist, ist ja die Einführung und Festlegung möglichst hoher Getreidezölle dem deutschen Junkertum ein Ziel, aufs innigste zu wünschen. Im Interesse der Not leidenden Kleinbauern, so deklamieren mit dem Augenaufschlag frommer Nächstenliebe die erb- und schlossgesessenen Herren Ochsengrafen. In Wirklichkeit aber nur im Interesse der Großgrundbesitzer, welche genug Ackerboden ihr eigen nennen, um große Mengen Körnerfrucht auf den Markt bringen zu können. Das Kleinbäuerlein hat keinen Nutzen, dagegen vielfach nur Schaden von den hohen Getreidepreisen. Der Ernteertrag, den es von seinem Äckerchen einheimst, ist so gering, dass er oft nicht den Bedarf der Familie deckt. Diese Tatsache haben wieder und wieder nicht bloß die „umstürzlerischen“ Sozialdemokraten nachgewiesen, sie wurde seinerzeit als durchaus richtig von dem damaligen Reichskanzler Caprivi anerkannt. Freilich, das Zeugnis des Mannes „ohne Ar und ohne Halm“, dem kein fühlendes Herz für die Not der champagnerbedürftigen „Edelsten und Besten“ in der Brust schlug, wurde von den Herren Agrariern als verdächtig erklärt. Ihn, wie den Herrn von Marschall, der sich um das Zustandekommen der Handelsverträge so verdient gemacht, holte zur Strafe für die Unbotmäßigkeit gegen der Krautjunker Wünsche der Lucanus. Jedennoch wurde der angeführte Standpunkt vollauf bestätigt durch die Ausführungen, die im März 1895 gelegentlich der Beratung des ersten Antrags Kanitz der jetzige Reichskanzler, Fürst Hohenlohe, zur Sache machte. Und Fürst Hohenlohe nennt gar viele Are und Halme sein eigen, nicht bloß in Deutschland, auch in schöner Betätigung der Internationalität im Lande des „Erbfeindes“ im Westen, im Lande des „Erbfreundes“ im Osten, dazu in Böhmen und Ungarn.

Nicht weniger als rund 280 Millionen Mark ziehen jährlich, dank dem Getreidezoll, die Großgrundbesitzer aus den Taschen der deutschen Brotesser, denn um diesen Betrag wird die Menge des auf den Markt gebrachten inländischen Getreides infolge des Zolles verteuert. 280 Millionen Mark, die Reichen und Reichsten zufließen und aus dem Säckel der Armen und Ärmsten entnommen werden. Entnommen werden Pfennig für Pfennig, indem das notwendigste Lebensmittel, indem jeder Bissen Brot verteuert wird. Merkt euch das, deutsche Proletarierin, Frau des Handwerkers, kleinen Kaufmanns, Beamten usw., die ihr allesamt nicht bloß mit dem Groschen, sondern mit dem Pfennig rechnen müsst, unter harten Sorgen wirtschaftet und vieles entbehrt!

Gewiss, eine Verteuerung des Kilo Brotes um 4 Pfennig ist eine Mehrausgabe, welche die mit Hilfe ihres „gewandten Stubenmädchens“ und der „perfekten Köchin“ ihren Ruhm als „gute deutsche Hausfrau“ erwerbende Dame nicht schreckt und belastet, in deren Haushalt das Brot nur als nebensächliche Zukost vorkommt, weil Fleisch, Geflügel, Butter, Eier, Gemüse usw. in mehr als zureichender Menge verzehrt werden können. Die jährliche Mehrbelastung der fünfköpfigen Familie um 30 bis 40 Mark infolge des verteuerten Brotes kann Familienväter und Mütter kalt lassen, die oft den zehnfachen, ja hundertfachen Betrag der Laune eines Augenblicks zu opfern vermögen.

Wie anders liegen aber die Verhältnisse für die Arbeiterin, für die Frau in der Familie des Arbeiters, des kleinen Mannes. Das Kilo Brot 4 Pfennig teurer – und die Arbeiterin, die sich mit einem Tagesverdienst von 1,50 Mark, ja von 1 Mark, von 90 oder gar 60 Pfennig begnügen muss, sie ist gezwungen, sich das Stück trockenen Brotes schmäler zu schneiden, das sie in die Zichorienbrühe taucht. Durch minderwertige Nahrung muss sie ihren Hunger stillen oder richtiger täuschen. Die Notwendigkeit tritt an sie heran, mit den Ausgaben für das enge Bodenkämmerchen, für die dürftige Kleidung, Wäsche usw. noch mehr als sonst zu sparen, von der Unmöglichkeit, einmal ein paar Pfennige für ein Vergnügen, eine Zerstreuung usw. zu verausgaben, gar nicht erst zu reden. Und die Hausfrau in der Familie des Proletariers, des kleinen Mannes, sieht sie nicht infolge der höheren Brotpreise ihre Sorgen wachsen, ihre Lebensverhältnisse sich verschlechtern? Gar knapp bemessen, meist allzu knapp, ist das Wirtschaftsgeld, das der Mann wöchentlich in ihre Hand legt. „Nun sieh zu, Mutter, dass du damit auskommst“, meint er. Eine Aufgabe, die leichter gestellt als gelöst ist!

Da fällt eine jährliche Mehrausgabe von 30 bis 40 Mark für fünf Köpfe recht schwer ins Gewicht. 30 bis 40 Mark ist ein ganzes Kapital für die 70 Prozent der preußischen Bevölkerung, die ein Jahreseinkommen von unter 900 Mark besitzen, für die 67,4 Prozent der sächsischen Bevölkerung, die jährlich unter 300 bis 800 Mark vereinnahmen. 30 bis 40 Mark ist eine stattliche Summe nicht bloß für die weitaus meisten Proletarier, sondern auch für den Haushalt zahlreicher Handwerker, Kaufleute, Lehrer, Subalternbeamten usw. Für die betreffenden Kreise ist das Brot, um mit den Engländern zu reden, „der Stab des Lebens“, das Hauptnahrungsmittel. Denn hier, wo Schmalhans Küchenmeister ist, kann die Hausfrau nicht genügend Fleisch, Butter, Eier, Speck usw. auftischen. Sie spürt es bei dem starken Brotbedarf der Familie empfindlich, wenn der Preis des Brotes höher und höher steigt, wenn Groschen um Groschen mehr dafür ausgegeben werden muss. Hohe Brotpreise, und der Magen des hart schaffenden Mannes, der im Wachsen begriffenen Kinder fordert doch sein Recht! Das Mehr, das täglich, wöchentlich zum Bäcker getragen werden muss, gilt es, an anderen Ausgaben zu sparen. Und da das geringe Einkommen meist von vornherein zum Sparen am Überflüssigen zwingt, so muss am Nötigen gedarbt werden. Die Brotpreise ziehen an, die Anschaffung der Schuhe muss unterbleiben, deren das Töchterchen so dringend bedarf. Man darf nicht an den Ankauf nötiger Wäsche denken, Fleisch, Butter usw. kommen in noch winzigeren Portionen als sonst auf den Tisch, dagegen muss der Hunger mehr und mehr mit Kartoffeln gestillt werden, es erscheint gelegentlich ein Braten von Hottehü auf dem Küchenzettel. Vielleicht kommt die Familie gar mit der Miete in Rückstand, die Frau muss dies und das auf Borg nehmen, den Weg zum Leihhaus finden. Und trotz allem lernt die Mutter möglicherweise noch Tage kennen, wo sie blutenden Herzens die Bitte des Kindes um mehr Brot, mehr Nahrung abweisen muss.

Mag die Frau der werktätigen Masse als Arbeiterin selbst ein kärgliches Einkommen erwerben, mag sie als Hausfrau mit dem bescheidenen Verdienst des Mannes wirtschaften: sie hat ein Lebensinteresse daran, dass das Brot nicht durch Getreidezölle verteuert wird. Die gegenwärtigen Notstandspreise müssen ihr das klar zum Bewusstsein bringen, müssen ihr offensichtlich zeigen, dass der Kapitalistenstaat einzig im Interesse der Besitzenden handelt, insbesondere aber zu Nutz und Frommen der junkerlichen Nimmersatte, wenn er durch Getreidezölle die Preise für Mehl und Brot künstlich in die Höhe schraubt.

Angesichts der infolge des Spanisch-Amerikanischen Krieges gestiegenen Brotpreise wäre es Pflicht einer volksfreundlichen Regierung und wirklich ernster Volksvertreter gewesen, durch Aufhebung der Getreidezölle die eine große Ursache der hohen Brotpreise zu beseitigen. Die Sozialdemokratie hat diese Maßregel beantragt, sie hat kein Gehör für ihre Forderung gefunden. „Agrarisch“ ist Trumpf in der Regierung und in der bürgerlichen Majorität. Bei der einen wie der anderen kann die Frau des werktätigen Volkes sich bedanken, wenn gegenwärtig ihre Sorgen wachsen, ihre Entbehrungen steigen.

Begreift die Frau des Volkes ihr Interesse in der Frage der Getreidezölle, so muss sie auch ihre Pflicht erkennen, gegen die Politik und die Politiker des Brotwuchers zu kämpfen. Die Begehrlichkeit der edlen Nachfahren der reitenden und raubenden Stegreifritter will sich nicht einmal mit den gesicherten Millionen aus dem Hunger des Volkes begnügen. Die Herren schreien nach höheren Liebesgaben aus dem Säckel der Armen. Die Aufhebung der Handelsverträge und die dann mögliche Einführung höherer Getreidezölle soll der deutschen Arbeiter- Familie das Brot jährlich statt um 30 bis 40 Mark um 70 bis 80 Mark verteuern. Von der eventuellen Annahme des Antrags Kanitz, demzufolge der Staat das Getreide zu Wucherpreisen von den Junkern kaufen und an die Konsumenten verkaufen soll, hoffen die „Edelsten und Besten“ noch reichlicheren Gewinn. Einen Raubzug größten Stils auf die Taschen des armen Mannes, der armen Frau planen sie, und um ihn zu ermöglichen, sollen die Reichstagswahlen der „Politik der Sammlung“ zum Triumphe verhelfen, sollen sie eine Kartellmajorität in das deutsche Parlament bringen. Eine Kartellmajorität, welche zunächst die politischen Rechte des deutschen Volkes knebelt und meuchelt und dann den Säckel der wehrlosen, stummen Masse den Agrariern und Agrariergenossen zur Plünderung ausliefert.

Frau des arbeitenden Volkes, sei auf der Hut! Tue deine Pflicht, trage das deinige dazu bei, dass die Beutepolitiker, dass Konservative, Nationalliberale und Zentrümler, die auf der Bank der Schutzzöllner sitzen, eine gründliche Niederlage erleiden. Biete deinen Einfluss auf, damit die Sozialdemokratie einen glänzenden Sieg erficht, denn sie ist die energischste Gegnerin der Politik des Brotwuchers, die energischste Vorkämpferin für die Beseitigung aller Zölle und Abgaben auf notwendige Lebensbedürfnisse. Jeder von der Sozialdemokratie eroberte Reichstagssitz, jeder Zuwachs an sozialdemokratischen Stimmen ist ein wuchtiger Schlag auf die raffgierigen Finger, die in deinen Beutel fassen und noch tiefer und tiefer hineinfassen wollen. Verteidige dein Brot, das Brot deines Mannes, vor allem das Brot deiner Kinder! Wider den Brotwucher, das sei eine der Losungen, unter der du für den Sieg der Sozialdemokratie streitest!

 


Last updated 15 August 2023