Clara Zetkin

 

Und doch!

(30. März 1898)


Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Nr. 7, Stuttgart, 30. März 1898.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Wie in der vorigen Nummer der Gleichheit mitgeteilt, hat Frl. Dr. juris Augspurg in Nr. 5 der Frauenbewegung versucht, den Vorwurf der Inkonsequenz abzuwehren, den ich ihr gemacht habe, weil sie die Arbeiterinnen behufs Erringung des Wahlrechts zu den Gewerbegerichten auf den Weg der „praktischen Geltendmachung des Rechts“ verweist, dagegen das Recht der Frau, Laienrichter zu sein, auf dem Wege der Petition erstrebt. Sie betont in ihrer Entgegnung, dass im ersteren Falle die „Selbsthilfe“, im letzteren dagegen „nur die Gesetzeshilfe im Wege der Petition zum Ziele führt“. Ihre Ansicht von der Notwendigkeit des Bittganges um Gesetzeshilfe in Sachen des Rechts der Frauen, als Schöffen zu fungieren, stützt sie auf folgenden Umstand.

„Die Auswahl der Schöffen seitens der Amtsrichter und anderer Funktionäre geschieht auf Grund von Urlisten, gegen deren Lücken nur Einsprachen an eben diesen Ausschuss aber nicht Beschwerden an eine höhere Instanz zulässig sind.“

Meiner Ansicht nach hindern die betreffenden Verstimmungen keineswegs die „praktische Geltendmachung des Rechts“, wie sie Frl. Augspurg den Arbeiterinnen behufs Erringung des Wahlrechts zu den Gewerbegerichten angepriesen hat. Genau so gut wie unter Berufung auf einen unbestimmt gefassten Gesetzestext die Arbeiterinnen die Ausübung des Wahlrechts zu den Gewerbegerichten versuchen können, genauso gut können die Frauen versuchen, ihre Eintragung in die Urlisten durchzusetzen, aufgrund derer die Auswahl der Schöffen erfolgt. Englische und französische Frauenrechtlerinnen haben z. B. die „praktische Geltendmachung“ des ihnen nicht ausdrücklich entzogenen Wahlrechts wiederholt dadurch versucht, dass sie von den Behörden eine Eintragung in die Wählerlisten forderten. Die Frauenbewegung bringt erst in Nr. 5 ein Beispiel dafür. Die „praktische Geltendmachung des Rechts“ ist also auch in dem Falle möglich, wo Frl. Augspurg einzig und allein den Weg der Petition beschritten wissen will.

Aber, wendet meine Opponentin ein, in Sachen der Gewerbegerichte ist die „praktische Geltendmachung des Rechts“ nicht aussichtslos, eine höhere richterliche Instanz kann auf Grund eines unklar gefassten Gesetzestextes zu Gunsten der Frauen entscheiden. In Sachen der Schöffen ist dagegen keine solche Instanz vorhanden, bei der die Frauen ihr Recht suchen können. Frl. Augspurg rechnet bei ihrer Schlussfolgerung nur mit dem, was auf Grund von Formeln möglich sein könnte, sie rechnet nicht mit dem, was angesichts unseres geschichtlichen Milieus aufgrund von Tatsachen allein sicher ist. Das bloße Vorhandensein einer obern Instanz und eines unklar gefassten Gesetzestextes verbürgt ihr schon die Sicherheit eines den Frauen günstigen Entscheids. Das heißt, die Tatsachen übersehen und im Glauben an die alleinseligmachende Macht der Worte und Formeln zu schwelgen. Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer höheren Instanz, an welche sich die Frauen bei der praktischen Geltendmachung eines ihnen nicht ausdrücklich vorenthaltenen Rechts wenden können, ist für die Entscheidung der frage ganz unwesentlich. In Deutschland gibt es gegenwärtig keine einzige richterliche Instanz, die um die schönen Augen eines Gesetzestextes willen die strittige Angelegenheit zu Gunsten der Frauen entscheiden würde. Nicht einmal in England mit seiner so demokratischen Entwicklung und seinem höheren Verständnis für die Frauenforderungen, haben in ähnlichen Fällen die Gerichte den Frauen ihr Recht zuerkannt, sie haben vielmehr, aller Gesetzestexte ungeachtet, das frauenrechtlerische Begehren abgewiesen. Die englischen Frauenrechtlerinnen sind denn auch vom Wege der „Selbsthilfe“ abgekommen und streben danach, das Wahlrecht durch „Gesetzeshilfe“ zu erlangen.

Als Kern der „praktischen Geltendmachung“ des Frauenrechts bleibt im Falle der Gewerbegerichte wie der Schöffengerichte nur eins zurück: die Demonstration des Bedürfnisses und des Willens der Frauen, die betreffenden Rechte auszuüben. Die Demonstration für das vorhandene Bedürfnis der Arbeiterinnen und ihren Willen, das Wahlrecht zu den Gewerbegerichten zu erlangen, ist meiner Ansicht vorhanden in Gestalt des diesbezüglichen Antrags der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, hinter der 1¾ Millionen Wähler stehen; ist vorhanden in Gestalt der diesbezüglichen Forderungen, die seit Jahren in Versammlungen, Vereinen und bei Parteitagen formuliert worden sind. Die Agitation muss dafür sorgen, dass in Zukunft weiter und mehr noch als bisher für die einschlägige Forderung „demonstriert“ wird.

Das vorliegende praktische Bedürfnis wird mit der Zeit machtvoll zwingend die Frage zu Gunsten der Arbeiterinnen entscheiden, nicht aber der Triumph irgendwelcher knifflichen und tüftlichen, dreh- und deutelbaren Rechtsformel. Frl. Augspurg meint zwar, es „sei der einzige Weg, einen rechtlich fundierten Ausgangspunkt für die Forderung politischer Gleichberechtigung zu schaffen, indem man zunächst den Beweis einer bisherigen Nichtberechtigung erbringt, der aus der jetzigen Fassung des gesetzlichen Textes nicht hervorgeht.“ Allein sie stellt damit die Dinge auf den Kopf und macht verknöchernde und verknöcherte Rechtsformeln zum Ausgangspunkt der geschichtlichen Entwicklung, statt diese Rechtsformeln aus der geschichtlichen Entwicklung und als deren Frucht zu begreifen.

Am Ende ihrer Ausführungen meint Frl. Augspurg philosophisch, in dieser Frage stände sich Ansicht und Ansicht gegenüber. Sie vorenthält aber – im Gegensatz zur Gleichheit – den Leserinnen der Frauenwelt alle sachlichen Gründe, auf welche gestützt ich ihre Ansicht bekämpfte. Ihre Entgegnung muss den irreführenden Glauben erwecken, als habe ich mich lediglich gegen ihre Inkonsequenz gewendet. Und doch bildeten meine diesbezüglichen Ausführungen nur einen unwesentlichen Punkt meines Artikels und wurden von mir noch besonders durch das Einleitungswort „Übrigens“ als nebensächlich charakterisiert. Ich selbst hatte in meinem Artikel die von Frl. Augspurg für ihre Ansicht angezogenen Gründe angeführt. Diesen Tatsachen gegenüber darf ich mir erlauben, Frl. Augspurg auf den schulmeisterlich erhobenen Finger zu klopfen, der mich zur „sachlichen und unpersönlichen“ Vertretung meiner Ansicht mahnt. Eine Polemik, welche die wesentlichen sachlichen Gründe einer gegnerischen Ansicht verschweigt und nur einen unwesentlichen Nebenpunkt herausgreift, ist sicher bequem, sie ist aber meines Erachtens weder sachlich noch „fair“, gerecht und loyal.

 


Last updated 15 August 2023