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Quelle: Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der
Arbeiterinnen, Stuttgart. Nr. 22, 29. Oktober 1896.
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Die moderne Frauenfrage ist das Ergebnis der durch die kapitalistische Produktionsweise gezeitigten wirtschaftlichen Umwälzungen. Sie tritt deshalb in den verschiedenen Klassen auf, die der modernen Gesellschaft eigentümlich sind, nimmt aber in jeder derselben eine andere Form an.
In der Klasse der oberen Zehntausend ist die Frau als Besitzerin eigenen Vermögens ökonomisch vom Manne unabhängig, aber als Ehefrau ist sie rechtlich ihm noch vielfach unterworfen und kann in der Regel nicht frei über ihren Besitz verfügen. Der Besitz führt in dieser Klasse zur Geldehe und zu ihrem Gegenstück, dem Ehebruch; er fördert die Auflösung des Familienlebens und enthebt die Frau ihren Pflichten als Gattin und Mutter. Im Vordergrund der Forderungen, welche die Frauen dieser Klasse stellen, steht die rechtliche Sicherung des Vermögensbesitzes und das freie Verfügungsrecht darüber für das weibliche Geschlecht. Der Emanzipationskampf dieser Frauenklasse ist ein Kampf für die Beseitigung aller sozialen Unterschiede, die nicht auf dem Vermögensbesitz beruhen. Die Verwirklichung ihrer Forderungen bedeutet die letzte Stufe der Emanzipation des Privatbesitzes.
In der kleinen und mittleren Bourgeoisie, sowie in der bürgerlichen ‚Intelligenz‘ wird die Familie durch wesentliche Begleiterscheinungen der kapitalistischen Produktion zersetzt. Es wächst die Zahl der ehelosen Frauen, die dadurch auf eigenen Verdienst angewiesen werden; es wächst die Zahl der Familien, denen der Erwerb des Mannes nicht genügt. Die weiblichen Angehörigen dieser Schichten werden zur Erwerbsarbeit auf dem Gebiet der liberalen Berufe gedrängt. Im Vordergrund ihrer Forderungen steht deshalb das Recht auf gleiche Berufstätigkeit und Berufsbildung für beide Geschlechter, für völlig freie Konkurrenz auf allen Gebieten. Der Kampf der Frauen für diese Forderungen ist ein wirtschaftlicher Interessenkampf zwischen Männern und Frauen jener Schichten. Und da jeder wirtschaftliche Interessenkampf ein politischer wird, drängt er die Frauen auch zur Forderung der politischen Gleichstellung mit dem Manne.
Im Proletariat ist es das Ausbeutungsbedürfnis des Kapitals, das die Frau zur Erwerbsarbeit zwingt und die Familie zerstört. Durch ihre Erwerbsarbeit wird die proletarische Frau dem Manne ihrer Klasse wirtschaftlich gleichgestellt. Aber diese Gleichstellung bedeutet, das sie, wie der Proletarier, nur härter als er, vom Kapitalisten ausgebeutet wird. Der Emanzipationskampf der Proletarierinnen ist deshalb nicht ein Kampf gegen die Männer der eigenen Klasse, sondern ein Kampf im Verein mit den Männern ihrer Klasse gegen die Kapitalistenklasse. Das nächste Ziel dieses Kampfes ist die Errichtung von Schranken gegen die kapitalistische Ausbeutung. Sei Endziel ist die politische Herrschaft des Proletariats zum Zwecke der Beseitigung der Klassenherrschaft und der Herbeiführung der sozialistischen Gesellschaft.
Als Kämpferin in diesem Klassenkampf bedarf die Proletarierin ebenso der rechtlichen und politischen Gleichstellung mit dem Manne als die Klein- und Mittelbürgerin und die Frau der bürgerlichen Intelligenz. Als selbständige Arbeiterin bedarf sie ebenso der freien Verfügung über ihr Einkommen (Lohn) und über ihre Person als die Frau der großen Bourgeoisie. Aber trotz aller Berührungspunkte in rechtlichen und politischen Reformforderungen hat das Proletariat in den entscheidenden ökonomischen Interessen nichts Gemeinsames mit den Frauen der anderen Klassen. Die Emanzipation der proletarischen Frau kann deshalb nicht das Werk sein der Frauen aller Klassen, sondern ist allein das Werk des gesamten Proletariats ohne Unterschied des Geschlechts.
Die Agitation unter den proletarischen Frauen muss daher in erster Linie sozialistische Agitation sein. Ihre Hauptaufgabe ist, die proletarischen Frauen zum Klassenbewusstsein zu wecken und für den Klassenkampf zu gewinnen. Die Arbeiterin muss aus einer Schmutzkonkurrentin des Mannes zu dessen Kampfgenossin, aus einer hemmenden zu einer treibenden und tätigen Kraft im Klassenkampf werden. Die proletarische Frauenagitation muss sich also streng im Rahmen der allgemeinen Arbeiterbewegung halten und muss an alle Fragen anknüpfen, die für die Arbeiterklasse jeweilig von besonderer Wichtigkeit sind. So weit bestimmte dringende Aufgaben nicht vorliegen, ist in der Agitation für Reformen einzutreten, die im Interesse der Proletarierin als Arbeiterin und als Frau liegen. Insbesondere ist zu agitieren:
Hand in Hand mit der mündlichen Agitation muss die schriftliche Agitation unter den proletarischen Frauen betrieben werden. Als vorzüglichstes Mittel, Anregung und Aufklärung unter die Massen der noch indifferenten Proletarierinnen zu tragen, empfiehlt sich die periodische Verbreitung von Flugblättern, die bestimmte, praktische Fragen behandeln. Zur weiteren Belehrung und Schulung sind besondere Broschüren geeignet, die der Proletarierin den Sozialismus näher bringen und zwar als Arbeiterin, als Frau und vor allem auch als Mutter. Die sozialdemokratische Presse muss systematisch für die wirtschaftliche und politische Aufklärung der proletarischen Frauen wirken.”
Zuletzt aktualisiert am 12. August 2024