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Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 21. August 1895.
Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 1, Berlin 1957, S. 80–83.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Das in einem Ziele geeinte Proletariat aller Länder betrauert gemeinsam einen der Besten und Größten aller Zeiten. Am 5. August, abends 10½ Uhr, starb in London der zweite der Geistesriesen, welche die kämpfende Arbeiterklasse als die größten ihrer Pfadfinder und Führer, als die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus ehrt. Friedrich Engels, der allzeit gewappnete, unbezwungene Streiter für die Befreiung des Proletariats, wurde im 75. Lebensjahre von dem Allbezwinger Tod dahingerafft. Nicht als müder Mann ging er von hinnen, sondern als einer, den der Sensemann von fruchtbarer Arbeit ruft. Wohl ist Engels im Greisenalter gestorben, und doch nicht als Greis, an geistiger Frische, an Energie des Willens, leidenschaftlicher Begeisterung und froher Tatkraft einer der Jüngsten, die mit uns strebten und kämpften. Seit Marx’ Tode (14. März 1883) hat das Proletariat keinen herberen Verlust erlitten.
Was Engels für den Befreiungskampf der Ausgebeuteten geleistet, es ist untrennbar mit den Leistungen Marx’ verbunden, und es verpflichtet zu ewiger Dankbarkeit. In der Geschichte des revolutionären Werdegangs der neuen Zeit steht es unverwischbar verzeichnet, und in den Annalen der Wissenschaft ist es mit flammenden Zügen eingegraben.
Als Theoretiker hat Engels mit Marx zusammen die unerschütterlich feste wissenschaftliche Grundlage für den Befreiungskampf der Enterbten aufgebaut. Mit ihm zusammen schmiedete er den klassenbewußten Arbeitern das schneidige, wuchtige geistige Rüstzeug, das den Gegner unfehlbar fällt. Und als der Freund von ihm genommen ward, ohne das Werk seines Lebens vollendet zu haben, da fiel Engels als geistigem Erben und Testamentsvollstrecker die unvergleichlich hohe und schwierige Aufgabe zu, das Unvollendete zum Abschluß zu bringen. Er hat es getan, wie kein zweiter außer ihm es zu tun vermocht.
Das Dioskurenpaar Marx-Engels – sie waren die ersten, welche die geschichtliche Aufgabe und die geschichtliche Macht des Proletariats klar erkannten. Nicht bloß mit dem warmen Herzen des Menschenfreundes fühlten sie mit der leidenden Arbeiterklasse, sondern als tiefe Forscher und kühne Denker erblickten sie in dem kämpfenden Proletariat den Hauptträger der modernen geschichtlichen Entwicklung. Sie wiesen die geschichtlich treibende Kraft der Klassenkämpfe nach. Gründlich räumten sie auf mit dem Wahnglauben an die befreiende Kraft der Attentate auf die Tränendrüsen und den Gerechtigkeitssinn der Besitzenden. Sie lehrten die Enterbten, ihre Befreiung einzig und allein zu erwarten und zu erringen durch den bewußten Kampf von Klasse gegen Klasse. Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiterklasse selbst sein. [1]
„Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ riefen sie bereits 1848 in dem unsterblichen Kommunistischen Manifest der Welt der Arbeit zu. Und wieder und wieder verwiesen sie das Proletariat auf die Eroberung der politischen Macht, der Staatsgewalt, als den einzigen Weg, der in die sonnige Zukunftsgesellschaft hinüberführt.
Von Etappe zu Etappe hat Engels den Eroberungsmarsch der zielbewußten Arbeiterklasse allerwärts begleitet, stets anregend, befruchtend, ratend, helfend mit Wort und Tat; niemals den Überblick über die allgemeine Situation verlierend, die kühle Wertung der Verhältnisse; als Taktiker und Stratege unvergleichlich wie als Theoretiker.
Was das Proletariat und insbesondere die deutsche Arbeiterklasse Engels verdankt und mit ihm verliert, ist unermeßlich. Wohl hat er selbst uns gelehrt, daß die sozialistische Bewegung aus den Verhältnissen emporwächst und nicht mit Personen steht und fällt. Aber seine Persönlichkeit ragte so hoch, sein Wirken war so umfassend und tief, daß sein Verschwinden eine klaffende Lücke läßt, die niemand auszufüllen vermag.
Die Proletarierinnen aber schulden ihm besonders dankbares Erinnern. Nicht nur für ihren Befreiungskampf als Ausgebeutete hat er die wissenschaftliche Grundlage geschaffen, auch für ihr Emanzipationsringen als Frauen.
Das Streben des weiblichen Geschlechts nach voller Gleichberechtigung ward von dem Philistertum vor allem mit dem Hinweis bekämpft auf die Unvereinbarkeit des vollen Menschseins der Frau mit dem Wesen der Familie und den Pflichten ihr gegenüber. Und die auf der Sklaverei der Frau beruhende vaterrechtliche Familie galt dem Philistertum als die Familie an und für sich, als die einzig mögliche sittliche, wirtschaftliche, soziale Norm des Zusammenlebens der Geschlechter bis in alle Ewigkeit. Wohl hatten die Utopisten [2], vor allem Fourier, wohl hatten Marx und Engels im Kommunistischen Manifest mit glänzender Schärfe gezeigt, daß der Kapitalismus „dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt“ [3] hat. Engels aber war es vorbehalten, Spießbürgers Köhlerglauben an den ewigen Bestand der vaterrechtlichen Familie für immer zu zertrümmern. Im Anschluß an die Arbeiten Morgans und Bachofens, die er erweiterte, vertiefte, als Bausteine eines wunderbar logischen und klaren Gefüges ordnete, wies er wissenschaftlich unanfechtbar nach, daß die Familie wie jedes andere soziale Gebilde unter der treibenden Kraft der Wirtschafts- und Eigentumsverhältnisse wächst und sich verändert, daß ihre Formen ein stetes Werden und Vergehen erfahren. Seine meisterhafte Studie Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats ist von grundlegender Bedeutung für den Befreiungskampf des gesamten weiblichen Geschlechts.
Mit Engels ist ein universaler Gelehrter, ist eine jener allseitig harmonisch entwickelten, kraftstrotzenden Persönlichkeiten gestorben, wie sie uns in den Zeiten der Renaissance und der Großen Französischen Revolution entgegentreten und entzücken. Eine Persönlichkeit von unsagbarem Zauber des Wesens, ein Lebenskünstler in der edelsten und umfassendsten Bedeutung des Wortes. Vom wärmsten Empfinden beseelt und opferfreudig ohne schwächliche Rührseligkeit, kraftvoll und selbstbewußt ohne Eigendünkel, tapfer und kühn ohne Ruhmredigkeit, ritterlich und dabei natürlich, einfach, schlicht und liebenswürdig nicht aus Konvention, sondern aus wahrer Herzensgüte.
Wohl ziemt uns an seinem Grabe der aufrichtige, tiefe Schmerz um das, was wir mit ihm verloren. Ebenso aber die stolze, freudige Erhebung an dem, was wir an ihm besessen und was er uns als reiches, köstliches Erbe hinterläßt. Keinen würdigeren Dank, keinen passenderen Scheidegruß für Friedrich Engels als den Ruf:
Vorwärts in den Kampf! Vorwärts zum Sieg!
1. Marx/Engels, Ausgewählte Schriften, Bd. II, S. 456.
2. Siehe ebenda, S. 107–118.
3. Ebenda, Bd. I, S. 26.
Zuletzt aktualisiert am 6. August 2024