Clara Zetkin

 

Des Umsturzrummels Glück und Ende

(29. Mai 1895)


Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, Nr. 11, 29. Mai 1895.
Vgl. Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. I, Berlin 1957, S. 74–79.
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Die Umsturzvorlage, in deren Zeichen monatelang unsere politischen Verhältnisse standen, ist gefallen. Sie fiel unter unsäglicher Verachtung draußen im Lande, unter stürmischer Heiterkeit drinnen im Parlament; sie fiel, preisgegeben und verleugnet von denen, die seinerzeit die lautesten Rufer gewesen zum Streit für „Ordnung, Religion und Sitte“.

Der Druck der öffentlichen Meinung, die in Fluss gekommene Protestbewegung, welche sich nicht auf die Masse des werktätigen Volkes beschränkte, vielmehr weit hinüber griff in die Kreise von Besitz und Bildung, war zwar nicht allein ausschlaggebend, aber doch von sehr wesentlichem Einfluss auf das Schicksal des Wechselbalgs Umsturzvorlage. Die bürgerliche Presse oppositioneller Färbung hallt deshalb wider von überschwänglichem Lob für das freiheitlich gesinnte und freiheitlich tatende deutsche Bürgertum. Sie redet gar viel von der vernichtenden Niederlage, der unsterblichen Blamage, welche die Regierung gelegentlich des Umsturzrummels davongetragen hat. Davon, dass auch dem deutschen Bürgertum, den bürgerlichen Parteien, ihr gerüttelt und geschüttelt Maß von dieser Niederlage, dieser Blamage zukommt, davon kein Wort.

Gewiss, die reaktionäre Regierung hat sich in Sachen der Umsturzvorlage bis auf die Knochen blamiert. Wir freuen uns aufrichtig der Tatsache. Aber darüber kann und darf nicht vergessen werden, dass die deutsche Bourgeoisie es war, die vor noch nicht Jahresfrist die reaktionäre Regierung aufforderte zu einem Kreuzzug gegen den Umsturz; dass sie es war, welche die reaktionäre Regierung um scharfe Maßregeln gegen die Sozialdemokratie in demütiger und wehmütiger Weise anwinselte. Und die bürgerlichen Parteien, allen voran die Nationalliberalen, stimmten in das Gewinsel ein, verhießen mehr oder minder zynisch offen oder verschämt einer „starken Regierung“ ihre „positive Mitarbeit“ zur Knebelung der Sozialdemokratie.

Die Regierung verlor den „Mut der Kaltblütigkeit“, mit dem sie geprunkt, sie brachte im Reichstage die Umsturzvorlage ein. Parlamentarische und journalistische Wortführer der bürgerlichen Parteien standen nicht an zu erklären: Die Vorlage ist ein Monstrum, ein Attentat gegen das wenige, was das deutsche Volk an politischen Freiheiten besitzt. Der Kautschuk ihrer Fassung verleiht schneidigem Bütteltum und auslegefroher Juristerei die Machtvollkommenheit, mit den verfassungsgemäß verbrieften Volksrechten nach freier Willkür vollständig aufzuräumen, jede missliebige politische und soziale Strömung totzuschlagen, Press- und Redefreiheit, Vereins- und Versammlungsrecht zu frommen Sagen zu verwandeln.

Trotz alledem besaß die bürgerliche Reichstagsmajorität weder die politische Einsicht noch den politischen Mut und Anstand, die Umsturzvorlage in erster Lesung abzulehnen, sich prinzipiell und endgültig zu verwahren gegen jede Vergewaltigung der politischen Freiheiten, gegen jede Knebelung der Überzeugung irgendeiner politischen Partei. Umgekehrt: Bis in die süddeutsche Volkspartei fanden sich Parlamentarier, welche von dem „guten“, dem „berechtigten Kern“ der Umsturzvorlage zu sprechen wagten. Diese flog nicht in den wohlverdienten Papierkorb, sie wanderte in eine Kommission.

In der Kommission aber war das Zentrum die ausschlaggebende Macht, wie es im Reichstag die ausschlaggebende Macht ist. „Du hast die Reaktion gewollt“, erklärte es der deutschen Bourgeoisie, „gut, du sollst die Reaktion haben! Aber keine halbe, die volle, die ganze Reaktion! Nicht den Stillstand der Kulturentwicklung, ihre Rückführung ins Mittelalter.“ Und das Zentrum ging ans Werk, es zog alle freiheitsmörderischen Konsequenzen, auch die äußersten, welche im Keime in der Umsturzvorlage enthalten waren. So verwandelte sich die Umsturzvorlage unter den Händen der Kommission aus einem Werkzeug zur Knebelung des klassenbewussten Proletariats zugunsten der Klassenherrschaft der Besitzenden in ein Werkzeug zur Unterdrückung der modernen Wissenschaft und Kunst, des modernen Kulturlebens zugunsten der Herrschaft der katholischen Kirche. Nicht das Proletariat allein sollte mundtot gemacht, politisch und wirtschaftlich an Händen und Füßen gefesselt werden, auch die gesamte neuzeitliche Kulturentwicklung, die doch in erster Linie und vor allem den Besitzenden zugute kommt.

Das war nicht nach dem Geschmack des „aufgeklärten“, des „gebildeten“ Bürgertums. Der aufgeklärte, gutgesinnte Bourgeois hatte zur schonungslosesten Niederbüttelung der Sozialdemokratie, der Arbeiterklasse gehetzt. Dass er selbst aber nicht mehr unbeschränkte Freiheit haben sollte, sich am Stammtische als „Freidenker“ aufzuspielen, Gott zu lästern und sich in Gedanken der illegitimen Freuden eines „zarten Verhältnisses“ über die Ehe weidlich lustig zu machen, das empfand er als eine Schmach, gegen die er sich wehren musste. Gegen die Kommissionsfassung der Umsturzvorlage kam eine Protestbewegung in Gang, die zuerst und zumeist von Gelehrten, Künstlern, Schriftstellern, Journalisten, Buchhändlern usw. getragen wurde, aber nach und nach immer weitere Kreise in der Welt der Besitzenden und Gebildeten zog. Es regnete Petitionen und Proteste gegen die dem Reichstag angesonnene Verböserung des gemeinen Rechtes.

Die oppositionelle bürgerliche Presse hat diese Kundgebungen bürgerlicher Schichten als Beweise verherrlicht für die politische Wiedergeburt der deutschen Bourgeoisie, sie hat diese selbst über den grünen Klee gepriesen als heldenhafte Vorkämpferin für politische Freiheit und modernes Kulturleben. Nichts falscher als diese Wertschätzung. Diese Kundgebungen reden laut und eindringlich vom politischen Verfall des deutschen Bürgertums. Abgesehen von einigen wenigen, die ausgehen von ehrlichen Demokraten, von ernsten Sozialreformern und schwärmenden Ideologen, protestieren sie nicht gegen den Versuch eines Umsturzgesetzes überhaupt, nicht gegen jede Bedrohung und Beschränkung der kärglichen deutschen Volksfreiheit, sondern nur gegen die „Übergriffe des Zentrums“, gegen die klerikalisierte Fassung der Kommissionsvorlage. Mit einem maskierten Sozialistengesetz, wie es die Regierung wollte, hätte sich das „gebildete“ deutsche Bürgertum mit Freuden abgefunden, von Bestimmungen wollte es nichts wissen, die neben dem Proletariat auch die Bourgeoisie in ihrer geistigen und politischen Bewegungsfreiheit getroffen hätten.

Die seichte, aber breite Protestbewegung hat den kompromisslüsternen bürgerlichen Politikern das Rückgrat gesteift, sie sprangen der Regierung nicht über den Stock. Aber nicht der Druck der öffentlichen Meinung allein war ausschlaggebend für das klägliche Ende des Umsturzrummels. Gewichtigere Umstände wirkten in der gleichen Richtung. Der Kautschuk der ausgeklügelten Knebelungsparagraphen hätte eventuell ihre Anwendung erlaubt auf jede, auch die zahmste bürgerliche Opposition. Keine bürgerliche Partei war sicher, vorkommenden Falles nicht die nämlichen Ketten tragen, die nämlichen Geißelhiebe dulden zu müssen, die sie der Sozialdemokratie gegönnt hätte. Zuletzt und nicht am wenigsten: Die einander widerstreitenden wirtschaftlichen Interessen der verschiedenen Kategorien der Kapitalistenklasse, welche von verschiedenen politischen Parteien vertreten werden, verhinderten einen Zusammenschluss zu der einen reaktionären Masse dem Umsturz gegenüber. Die bürgerlichen Parteien konnten sich nicht einigen über den politischen und wirtschaftlichen Schacherpreis, um den sie füreinander und für die Regierung feil waren. Nicht einer grundsätzlichen, einheitlichen Gegnerschaft gegen die Reaktion, gegen die Vernichtung dem Volksfreiheiten erlag die Umsturzvorlage, sie fiel infolge der Interessengegensätze innerhalb der Welt der Besitzenden und der bürgerlichen Parteien, sie fiel aus kleinlichen, geschäftlichen Augenblicksrücksichten.

Die Regierung aber hat das Ende des Umsturzrummels in dem versuchten Form beschleunigt durch das unvergleichliche Eingreifen des ministeriellen Kleeblatts, des Justizministers, des Kriegsministers und des trefflichen Polizeiministers von Köller. Das ebenso unverfrorene als täppische Auftreten dieser Herren hat die bürgerlichen Parteien zur Opposition emporgepeitscht; es war so beispiellos provozierend, dass es bei den bürgerlichen Reichstagsabgeordneten alles wachrufen musste, was sie an politischem, ja, an persönlichem Ehrgefühl besaßen.

„Die Umsturzvorlage ist tot, es lebe die Umsturzvorlage“, soll der unfreiwillige Agitator für die Sozialdemokratie, Herr von Köller, nach der entscheidenden Abstimmung ausgerufen haben. In der Tat, es ist nichts weniger als ausgeschlossen, dass dem Reichstag demnächst die Vorlage zugeht, ein unverhülltes Sozialistengesetz, ein nacktes Ausnahmegesetz gegen das kämpfende Proletariat zu fabrizieren. Im Lager der Konservativen und Nationalliberalen fordert man laut und lauter ein solches. Welche Stellung die Regierung zu dem Begehren einnehmen wird, darüber lässt sich nicht prophezeien, denn ihre Stellung hängt von Gewalten ab, die unberechenbar und unverantwortlich sind. „Plötzlich“ ist bei ihr Trumpf, und nicht bloß nach Ausnahmegesetzen gelistet es der Reaktion, auch nach dem Umsturz von oben, nach einem Staatsstreich, nach einer Meuchelung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts.

Die Sozialdemokratie, die zielbewusste Arbeiterklasse, sieht allen Möglichkeiten ruhig und gewappnet in heiterer Siegeszuversicht entgegen. Sie geht daran, den Gewinn, den ihr die Situation gebracht hat, endgültig einzuheimsen und zu bergen, völlig auszunützen. Sie war die erste politische Partei, welche die Bewegung gegen die Umsturzvorlage in die Massen getragen hat. Sie war die einzige Partei, welche im Reichstag und außerhalb seiner Mauern jedes Antasten der politischen Freiheiten der Nation grundsätzlich bekämpfte. Die Kritik, welche ihre Vertreter an der Umsturzvorlage, an den heutigen Verhältnissen übten, haben weite Kreise Indifferenter politisch wachgerüttelt. Klärlich zeigte es sich, dass die sozialistische Bewegung so innig mit der gesamten Zivilisation unserem Zeit verwachsen ist, dass man die Sozialdemokratie nicht fesseln kann, ohne gleichzeitig die moderne Kulturentwicklung schwer zu schädigen, sie zu bremsen. So ist es nur natürlich, dass der Sozialdemokratie in der Zeit des Umsturzrummels neue Scharen von Anhängern zugeströmt sind. Und dies nicht bloß aus dem Proletariat, auch aus anderen gesellschaftlichen Schichten. Nun gilt es, diese oppositionellen, unklaren Elemente der Partei zu assimilieren, ohne sich von ihnen beeinflussen zu lassen, sie aus radikalen Mitläufern zu zielbewussten Genossen zu erziehen. Die Aufgabe ist groß, sie ist schwierig, aber die Sozialdemokratie wird sich ihr gewachsen zeigen. An ihrer altbewährten revolutionären Taktik festhaltend, marschiert sie durch die Wirrnisse, welche die Situation zeitigt, von Sieg zu Siege.

 


Zuletzt aktualisiert am 6 August 2024