MIA > Deutsch > Marxisten > Zetkin
Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 26. Juli 1893.
Aus: Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. I, Berlin 1957, S. 22–31.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Wer da der Ansicht war, dass die deutschen Frauen, um mit einem berühmten französischen Schriftsteller zu reden, nur „Gluckhennen seien, welche in beständiger Anbetung vor dem Schöpfer ihrer Kinder schmachten“, wer da meinte, dass der Kreis ihrer Interessen nicht über die Ränder ihres Kochtopfes und die Wände ihrer vier Pfähle hinausreiche, dass sie des Verständnisses für das politische Leben und der Bürgertugenden ermangelten, der ist durch die Teilnahme der Frauen an den letzten Wahlen eines anderen belehrt worden. Allerdings waren es nicht die sich so gern als „deutsche Frauen“ überhaupt fühlenden Frauen der bürgerlichen Kreise, welche den Beweis erbrachten, dass große Schichten der deutschen Frauenwelt zu politischer Reife herangewachsen sind. Es waren auch nicht die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen, welche sich als die Vorkämpferinnen der Befähigung und der Rechte des weiblichen Geschlechts par excellence dünken, aber in Wirklichkeit nur die Verfechterinnen der Interessen der bürgerlichen Frauen sind. Einfache, schlichte, ungelehrte Arbeiterinnen und Arbeiterfrauen, mit Elend und Mühen reich beladene Proletarierinnen waren es, welche zeigten, dass auch die als besonders rückständig geltende deutsche Frauenwelt zum Bewusstsein ihrer neuen sozialen Aufgaben erwacht, dass sie den öffentlichen Angelegenheiten Interesse und Verständnis entgegenbringt, dass sie fähig geworden ist, für große Ziele zu kämpfen und zu opfern.
Auf der Tagesordnung des öffentlichen Lebens stand seit Monaten die hochwichtige Frage, ob Deutschland in die Bahnen freierer Kulturentwicklung einlenken oder ob es auf der schiefen Ebene des Kasernenstaats und Gamaschentums tiefer und tiefer gleiten sollte. Tief einschneidend berührt die Frage die Interessen der Frauenwelt. Als Gattin, Mutter, Schwester, aber auch als Selbstwesen wird die Frau in die innigste Mitleidenschaft gezogen durch die bestehenden und zu schaffenden militärischen Verhältnisse. Die Vermehrung der Gut- und Blutsteuer muss Hunderttausenden von Frauen empfindlich an Herz und Beutel greifen. Die unter die Fahne gerufenen jungen Männer sind Söhne, Brüder, Gatten von Frauen, die Hausfrau spürt die indirekten Steuern, welche die notwendigsten Lebensbedürfnisse verteuern und deren Ertrag zum größten Teil für Militärzwecke aufgewendet wird. Aber die bürgerlichen Frauenkreise nahmen keine Stellung zu der brennenden Tagesfrage. Die Presse der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen verzeichnete gewissenhaft weltbewegende Tatsachen von der Art, dass eine berühmte Malerin ein Gemälde vollendet, eine Studentin den Doktorhut erworben habe, aber sie schwieg über den Kampf für oder wider den Militarismus, sie brach keine Lanze für eine freiheitliche und kulturwürdige Entwicklung der politischen Verhältnisse Deutschlands!
Anders die Frauen des Proletariats. Von dem Tage an, wo die Sozialdemokratische Partei im Interesse der Arbeiterklasse und des gesamten deutschen Volkes den Ruf erhob: „Nieder mit der Militärvorlage! Nieder mit dem Militarismus“ da standen sie kämpfend in Reih und Glied derer, welche gegen den Moloch zu Felde zogen. In Hunderten von Versammlungen erhoben sie ihre Stimme, um kräftigen Einspruch dagegen einzulegen, dass die besten Säfte des Volkes mit Preisgabe aller Kulturaufgaben dem Militarismus geopfert würden, da erhoben sie ihre Stimme, um mit der allgemeinen Volksbewaffnung der Freiheit eine Gasse zu fordern. Und als die Wahlen den Kampf zum Austrag bringen sollten, stritten sie tapfer, energisch und voller Begeisterung und Hingabe Seite an Seite mit den Genossen für die gute Sache.
Nicht dem Militarismus allein galt ihr Ringen, vielmehr der ganzen alten bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft. Denn das Schlachtfeld dehnte sich aus, nicht bloß für und wider den Militarismus ward gekriegt, vielmehr für und wider den Sozialismus. Immer deutlicher und vollständiger vollzog sich eine Spaltung der Kämpfenden in zwei große Heerlager, aus deren einem tönte: „Hie Kapital und seine Übermacht!“, aus deren anderem es hallte: „Hie Arbeit und ihr gutes Recht!“ Gerade in dem Maße, als dies der Fall war, wuchs der Eifer, die Begeisterung, die Opferfreudigkeit der proletarischen Frauen. Wie für den Sozialismus wurde gestritten, das heißt für ihre eigene Befreiung, für die Freiheit und menschenwürdige Existenz ihrer Brüder, für das Glück ihrer Kinder. Und sie sollten, die Hände in den Schoß gelegt, beiseite sitzen, müßig zuschauen, weil eine reaktionäre Gesetzgebung ihnen die politischen Rechte vorenthielt? Nun und nimmermehr! War es denn nicht der Sozialismus, der als frohe Botschaft hinein geklungen in ihr tiefes Elend, war er es denn nicht, der einen Schimmer von Hoffnung, bald das Licht der felsenfesten Überzeugung von einer besseren Zukunft hineingestrahlt hatte in die Nacht ihres Elends? Von tausend Leiden gequält, von tausend Ungerechtigkeiten zu Boden gedrückt, mühsam und beladen gingen sie durchs Leben. Für fremdes Wohlleben, fremden Überfluss mussten sie schwer fronden, sie aber selbst lernten den Hunger kennen und Kummer in Fülle. Entbehrungen waren ihr Los und Rechtlosigkeit; und Entbehrungen und Rechtlosigkeit das Los, das ihrer Kinder wartete. Da trat der Sozialismus zu ihnen und sprach: „‚Es wächst hienieden Brot genug für alle Menschenkinder. [1] Kämpfet und seid frei!“ Sie, die sich so lange als Parias unter den Parias gefühlt, die es mit der stumpfsinnigen Ergebung von Sklaven hingenommen, den oberen Schichten als Kulturdünger zu dienen, sie empfanden ihre Menschenwürde, sie bäumten sich auf gegen ihre Leiden und deren Ursache, sie wollten kämpfen und frei sein, sie wollten ihre Kinder, ihre Klasse frei sehen.
Die Sozialdemokratische Partei öffnete ihnen ihre Reihen, sie nahm sie auf als gleichberechtigte Mitstreiterinnen im Klassenkampf. Die einfachen, ungelehrten Proletarierinnen wurden zu Verfechterinnen der höchsten Ideale, der freiesten Kulturentwicklung; kämpfend lernten sie, wurden sie mit dem wirtschaftlichen und politischen Bau der Gesellschaft bekannt, erhielten sie politische Reife und Schulung, erkannten sie die Ursache alles sozialen Elends und das einzige Mittel, das dieses zu beseitigen vermag. Sie, die doppelt rechtlos sind — rechtlos als Frauen, rechtlos als Angehörige des Proletariats –‚ haben in der Wahlkampagne gezeigt, dass sie nicht in blinder Verzweiflung um sich schlagen, sondern dass sie geschult und bewusst, mit Verständnis für ein klar erkanntes Ziel, zu kämpfen verstehen. Nicht mit gleicher Wehr und Waffe ausgerüstet wie ihre männlichen Klassen- und Kampfgenossen, konnten sie für ihre Ideen streiten; es war ihnen versagt, die Kugel des Stimmzettels auf den Feind abzufeuern. Aber die Waffen, welche ihnen zu Gebote standen, die haben sie wacker geschwungen, und was sie innerhalb der ihnen kärglich bemessenen Bewegungsfreiheit tun konnten, das haben sie voll und ganz getan.
Am glänzendsten und in der größten Zahl haben sich die Berliner Proletarierinnen während der Wahlkampagne betätigt.
Sie sind den Genossen ebenbürtig zur Seite gestanden, sie haben ihr redlich Teil zu dem errungenen großartigen Sieg beigetragen. Aber auch in Hamburg, München, Nürnberg, Mainz, Hanau, Kiel, Magdeburg, Karlsruhe, Mannheim usw., in der Rheinprovinz, in Schleswig, in Schlesien, in Thüringen und Sachsen haben sich die Genossinnen, wenn auch in kleinerer Zahl, so doch mit dem gleichen Eifer und der gleichen Begeisterung am Kampfe beteiligt. In allen großen und mittleren Städten, in allen bedeutenden Industriezentren das gleiche Schauspiel.
Zu den Wahlversammlungen drängen sich die Frauen. Die blasse, von später Arbeit übernächtigte Näherin, die noch schüchterne Fabriklerin, die abgespannte Verkäuferin, die dürftige Arbeiterfrau, welche ihre Wirtschaft und ein Häuflein Kinder versorgen, „nebenbei“ aber noch für den Erwerb arbeiten muss, sie alle, die tagaus, tagein schuften und schanzen, ohne mehr als das trockene Brot zu verdienen, sie stellen sich ein. Mit blitzenden Augen, Begeisterung auf den verhärmten Zügen, fast andächtig lauschen sie den Ausführungen der sozialdemokratischen Redner. Hier und da ergreifen Frauen das Wort, schildern die Ausbeutung der werktätigen Masse durch die Kapitalisten, erklären, dass nur der Sozialismus allen Enterbten das Heil bringen werde, und fordern zu kräftigem Eintreten für den sozialdemokratischen Kandidaten auf. Sie sind aber auch Täter des Wortes und nicht Hörer allein. Wo und wie sie können, helfen sie den Genossen bei den praktischen Wahlarbeiten. Frauen, die bis tief in die Nacht hinein geschafft haben, stehen am frühen Morgen in Reih und Glied, um bei der Verteilung von Flugblättern, Agitationsschriften, Programmen behilflich zu sein. Keine Treppe zu hoch, keine Gasse zu abgelegen, kein Weg zu weit und ermüdend! Es gilt ja, die Bewohner der höchsten Stockwerke, der entlegensten Winkel aufzuklären und zu gewinnen. Frauen und Mädchen, welche sich den ganzen Tag über mit Haus- und Berufsarbeit schwer abgearbeitet haben, opfern den größten Teil ihrer Nachtruhe, um Wählerlisten abzuschreiben. Andere klopfen bei allen Freunden und Bekannten, bei den Kameraden und Kameradinnen der Arbeit an, um Geld für den Wahlfonds zu sammeln. Wer irgend geben kann, der gibt. Wer zählt die Proletarierinnen, die sich während des letzten Wahlkampfes eine Freude, ein Vergnügen, aber auch manches Notwendige versagten, um ihr Scherflein in die Kriegskasse der Partei beisteuern zu können? In mündlicher Propaganda, mit scharfen und hinreißenden Worten suchen die Genossinnen der Sozialdemokratie neue Anhänger, mehr Stimmen zu werben.
Am Wahltage dann, welch rege Tätigkeit derer, die glücklich genug sind, bei den verschiedenen Hilfsarbeiten Hand ans Werk legen zu können. Hier tragen Frauen Plakate mit dem Namen des sozialdemokratischen Kandidaten durch die Straßen, dort suchen sie auf andere Weise die Aufmerksamkeit der Gleichgültigen und Stumpfsinnigen auf diesen zu lenken. In Magdeburg zum Beispiel spazieren Frauen langsam mit großen roten Schirmen hin und her, auf denen steht: „Wählt W. Klees!“ Frauen und Mädchen teilen an den Wahllokalen Stimmzettel aus, sie führen und kontrollieren Wählerlisten, sie gehen von Haus zu Haus, von Stockwerk zu Stockwerk, um säumige Wähler an ihre Pflichten zu mahnen und an die Urne zu holen. Mit sicherem Blick erkennen sie, wer noch nicht gewählt hat und wer sich eines Verrates schuldig machen würde, wenn er nicht für den sozialdemokratischen Kandidaten stimmte. Es macht einen eigentümlichen Eindruck, wenn jetzt ein alter Graubart, nun wieder ein junger, strammer Arbeiter von einer jugendlichen Proletarierin zur Urne geführt wird, wenn ihm die Begleiterin den „richtigen“ Stimmzettel in die Hand drückt, wenn sie ihm Unterweisung gibt, wie er beim Wählen zu verfahren hat. Die weibliche Überredungskunst hat dort oft Erfolg, wo alle Überzeugungsversuche der Männer scheiterten. Manch einer, der durch die triftigsten Gründe der Genossen nicht bewogen werden konnte, seinen Stimmzettel in die Urne zu werfen, der folgt halb schmollend, halb lächelnd einer Genossin zum Wahllokal. In einer Ortschaft bei Magdeburg führten Frauen einen Wähler zur Urne, der sich von keinem Manne hatte bewegen lassen, seiner Bürgerpflicht nachzukommen. „Ick musste wol“, sagte er selbst, „de verfluchten Wiewer heten mir ja de Ogen utekratzt.“
Keine polizeilichen Schikanierungen und Maßregelungen vermochten den Eifer der Genossinnen zu dämpfen, sie ließen sich auch nicht abschrecken durch Misserfolge, Grobheiten, gemeine Redensarten, durch Hohn und Spott der schlimmsten Art.
In hochgradiger, fieberhafter Spannung harrten am Abend der Wahltage Tausende und aber Tausende von Proletarierinnen der Wahlresultate. Und wie immer auch die Ergebnisse waren, sie durften sich sagen, dass sie ihre Schuldigkeit voll und ganz getan hatten, wie immer auch der Ausgang der Schlacht war, sie gelobten sich, unentwegt weiterzukämpfen für die Sache der Sozialdemokratie. Sieg wie Niederlage – Ansporn zu neuer, ernster, energischer Arbeit.
Das Wirken der Genossinnen im Wahlkampf ist nicht vergeblich gewesen, nicht vergeblich für die Sozialdemokratie, aber auch nicht vergeblich für sie selbst. Durch das Zurückdrängen und Aufgeben besonderer Forderungen und Quertreibereien, durch ihr rückhaltloses Eintreten in die allgemeine Bewegung haben sie bewiesen, dass sie politisch reif sind, dass sie die politische Lage überschauen und verstehen, ihre Sonderinteressen den allgemeinen Interessen unterzuordnen. Die praktischen Arbeiten, mit denen sie die Genossen unterstützten, haben jedenfalls dazu beigetragen, die Frauen politisch noch mehr zu schulen.
Die Genossinnen, welche tätig in den Wahlkampf eingriffen, haben die deutsche proletarische Frauenwelt politisch mündig gesprochen, sie haben den „Befähigungsnachweis“ erbracht, dass diese reif ist für die politische Gleichberechtigung, reif für den politischen Kampf. Wer möchte es der Bourgeoisie verargen, dass sie in der Beteiligung der deutschen Proletarierinnen an den Wahlkämpfen ein neues, beunruhigendes Zeichen der Zeit sieht, wenn ihr vor den „Radikalösen“ und „Versammlungsstürzerinnen“ graust? Die politisch aufgeklärte Proletarierin ist nicht länger ein willenloses, kapitalistenfrommes Ausbeutungsobjekt, sie nimmt teil am Kampfe ihrer Klasse, sie ist eine Todfeindin der Bourgeoisie.
Wann je das Wort am Platze gewesen „Die Letzten werden die Ersten sein“, so ist es dies angesichts der politischen Betätigung der deutschen Genossinnen. Die wichtigsten Kulturfragen stehen zum Entscheid, aber die bürgerliche Frauenwelt gibt kein Zeichen, dass der Flügelschlag der Zeit bis an ihr Ohr gedrungen ist. Die Proletarierinnen dagegen greifen mit tatkräftiger Hand in das politische Getriebe, sie nehmen kühn den Kampf auf für große neue Ideale, sie werfen dem barbarischen Militarismus, sie werfen der ungerechten, widersinnig gewordenen Gesellschaftsordnung den Fehdehandschuh hin. Die Bourgeoisdamen stehen an der Spitze, die Proletarierinnen auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Leiter, erstere verfügen über alle Bildungsmittel, letztere können sich nur mühsam, unter Überwindung unendlicher Schwierigkeiten Aufklärung verschaffen.
Die Letzten sind trotzdem die Ersten geworden. Ehre all den Tausenden Ungenannten, Unbekannten, die Schulter an Schulter mit den Genossen im Wahlkampfe für die Sache der Sozialdemokratie gestritten haben, ihre Namen meldet „kein Lied, kein Heldenbuch“, aber im Herzen des um seine Befreiung ringenden Proletariats werden sie unvergessen sein.
1. Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen.
Zuletzt aktualisiert am 9 August 2024