Winfried Wolf

Corona & Krise

Die Pandemie ist real – das Versagen
der Regierenden ist global

Die mehr als 400.000 Corona-Toten hätten zum großen Teil vermieden werden können

(17. Juni 2020)


Quelle: Lunapark21, Heft 50, Juni 2020.
Kopiert mit dank aus der Winfried Wolf – Homepage.
Transkription & HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Weltweit starben bis Anfang Juni rund 400.000 Menschen an und mit dem Corona-Virus. Relativierungen der offiziellen Zahlen, die vor allem in der Frühphase der Epidemie gemacht wurden, werden bei weitem aufgewogen von der großen Dunkelziffer nicht erfasster Corona-Toter, insbesondere in den Peripheriestaaten.

Das heißt: Die Pandemie ist real. Sie dürfte im laufenden Jahr weit mehr als einer halben Million Menschen das Leben kosten. Zumal sie erst seit Mai die weniger industrialisierten Staaten und Schwellenländer wie Brasilien und Indien erfasst. Aktuell konzentrieren sich noch mehr als 70 Prozent der Corona-Toten auf Westeuropa und die USA. Der rasante Anstieg der Corona-Toten-Zahlen in Brasilien verdeutlicht dies. Dabei sind die Gefahren einer zweiten Epidemie-Welle in Europa nach dem Sommer 2020 noch nicht berücksichtigt.

Die virologischen Erkenntnisse und vor allem die praktischen Erfahrungen mit der Pandemie besagen: Würde man dieser freien Lauf lassen, so würden noch im laufenden Jahr weltweit viele Millionen Menschen den Corona-Tod finden. Das Gesundheitssystem in allen betroffenen Ländern würde kollabieren. Die niedrige Letalität („Tödlichkeit“) ist für diese Erkenntnis nebensächlich. Entscheidend ist die sehr hohe Ansteckungsgefahr, bei der diese relativ niedrige Letalität dennoch in absoluten Zahlen zu der genannten Opferzahl geführt hat. Im Fall des Zusammenbruchs der Gesundheitssysteme, wie wir sie in Norditalien und in New York erlebt haben, und wie wir sie in Teilen Brasiliens und Ecuadors aktuell erleben, erhöht sich auch die Letalität sprunghaft.

Und wie wurde und wird die Epidemie eingedämmt? Hier ist ein Blick auf die vorausgegangene SARS-Epidemie interessant. Eine auf den ersten Blick erstaunliche, doch vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie auch heute überzeugende WHO-Erkenntnis lautete: „Während die moderne Wissenschaft eine wichtige Rolle [z. B. bei der Analyse des Virus und der Entwicklung von Tests] spielt, spielte keine der top-modernen Instrumente eine wichtigere Rolle bei der Eindämmung von SARS. [...] Als wichtigste Strategien zur Kontrolle von SARS erwiesen sich die Strategien zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Gesundheit aus dem 19. Jahrhundert: die Kontaktpersonen ausfindig machen und alle Kontakte nachvollziehen, Quarantäne und Isolierung.“ [1]

2020 spielten in China und in Teilen von Asien zwar „moderne Techniken“, konkret Smartphones und darauf installierte Apps, erstmals eine größere Rolle. Bei den Maßnahmen, die konkret zur Eindämmung der Epidemie ergriffen wurden, standen jedoch erneut die „Strategien aus dem 19. Jahrhundert“ im Zentrum. Der exponentielle Anstieg der Covid-19-Infektionen konnte überall dort ausgebremst und teilweise gestoppt werden, wo diese „Techniken aus dem vorletzten Jahrhundert“ in ausreichendem Maß angewandt wurden. Wobei es in Europa zu deren Anwendung oft nicht im erforderlichen Umfang kam und deshalb viel mehr flächendeckende Eindämmungsmaßnahmen notwendig wurden als zum Beispiel in Südkorea, Singapur oder Taiwan. Der Grund: Es fehlt dafür schlicht das Personal, um die erforderlichen Techniken von Registrierung, „Tracing“ und Quarantäne (der Isolierung) anwenden zu können. [2]

Eindämmungsmaßnahmen gegen den Widerstand der Regierenden

Im Rückblick wird oft argumentiert, die Durchsetzung der Eindämmungsstrategien sei eine Sache der Regierungen und der Institutionen wie dem Robert Koch-Institut gewesen. Das trifft nicht zu. Diese Institutionen und die Regierenden wiegelten auf unverantwortliche Weise viele Wochen lang ab; sie bagatellisierten die Corona-Gefahr von Anfang Januar an. In Europa bis Anfang März. In den USA und in Russland bis Anfang April. In Brasilien bis Anfang Mai. Am 31. Dezember 2019 meldete die chinesische Regierung die Epidemie erstmals bei der WHO. Spätestens am 20. Januar 2020, als Peking massive Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Epidemie in der Provinz Hubei ergriff, war für die Fachwelt klar, wie ernst die Sache ist. Doch es geschah in Europa und in den USA – nichts. Es gab viele Wochen lang eine umfassende Bagatellisierung. In Österreich drehten sich die Skilifts in Ischgl, bis die Saison Mitte März zu Ende war. In Deutschland feierte man Karneval und ließ große Bundesligaspiele und am 15. März eine Kommunalwahl in Bayern über die Bühne gehen. Vergleichbar war das Verhalten in Italien, wo am 19. Februar in Mailand das Spiel Atalanta Bergamo gegen den FC Valencia – das Achtelfinale der Champions League – vor 44.000 Zuschauern durchgezogen wurde, was sich dann als entscheidende Virenschleuder erwies.

Zahl der Gestorbenen

Und wie kam die Wende? Warum schwenkten die Regierungen in Westeuropa auf den Kurs der Eindämmung, der Schließung großer Teile des öffentlichen Lebens und eines teilweisen Lockdowns der Wirtschaft um? Dies ist einem Mix aus drei Faktoren geschuldet. Erstens wurde gewissermaßen in Sichtweite (bis Hubei blicken können die Politiker nicht) in Italien und Frankreich gezeigt, was es heißt, wenn man die Sache laufen lässt. In Italien (und im französischen Elsass) wurde in den ersten zwei März-Wochen deutlich, dass das Gesundheitssystem beim absehbaren weiteren Anstieg der Corona-Infektionen schlicht kollabieren wird. Als in Wien und Berlin die Entscheidungen für drastische Maßnahmen fielen, gab es in Italien bereits mehr als 1.200 Corona-Tote. Damals bewegten sich in Österreich und in Deutschland die Corona-Toten-Zahlen noch im unteren einstelligen Bereich. Siehe Tabelle. Zweitens gab es im Zeitraum März bis April mehrere Wochen lang eine interessante Entwicklung, in der sich zeigte, was „Zivilgesellschaft“ sein könnte: Virologen wie in Deutschland Christian Drosten klärten – via Medien verstärkt – ein Millionenpublikum auf; die verunsicherten Regierenden zeigten sich für diese Aufklärungsarbeit offen. Große Teile der Bevölkerung sogen die Informationen in sich auf – und handelten verantwortungsbewusst. Dies geschah bereits vor den Beschlüssen mit den offiziellen Restriktionsmaßnahmen. Drittens war zum Zeitpunkt Mitte März die Wirtschaftskrise, die mit Corona bis dahin rein gar nichts zu tun hatte, soweit entwickelt, dass es den Konzernen und Banken durchaus in den Kram passte, die wirtschaftliche Tätigkeit hinter der Nebelbank „Corona“ herunterzufahren und bei den jeweiligen Regierungen und den Sozialkassen die Hand für Milliarden Subventionen und Kurzarbeitergelder aufzuhalten. Es hatte einen radikalen Nachfrageeinbruch gegeben, den man mit dem zeitweiligen und nur teilweisen Lockdown abzufedern versuchte.

Kaum flachte sich die Kurve von Infektionen und Corona-Toten ab, drängten Banken, Konzerne, Unternehmerverbände auf „Öffnung“. Seit Mitte Mai gibt es einen Wettlauf, wer zuerst den Schulbetrieb in Gänze aufnimmt, wer die Kitas weitgehend ohne Beschränkungen und vor allem wer die Grenzen wann öffnet. Im Parteienspektrum gilt die Formel: Je weiter rechts und je mehr Unternehmer-nah, desto massiver ist das Plädoyer für „Öffnung“. In dieser Situation steht die politische Welt Kopf. Der FDP-Chef Lindner entdeckt die „Leiden der bildungsfernen Kinder“, der NRW-CDU-Ministerpräsident Laschet beklagt die „Gewalt gegen Frauen“ und der FPÖ-Chef Hofer will „die Verfassung verteidigen“.
 

Die Alternative: das Schweden-Modell

Die Gegner der restriktiven Maßnahmen betonen immer wieder auf´s Neue, im Norden gäbe es eine Alternative zu den restriktiven Maßnahmen. „Die Meinungen der Experten, die sich nach dem schwedischen Vorbild für einen besonderen Schutz von gefährdeten Menschen und gegen den kompletten Shutdown ausgesprochen haben, wurden nicht gehört“. So der FPÖ-Chef Norbert Hofer Mitte Mai. [3] Das „schwedische Vorbild“ sieht aus, wie in Tabelle 2 dokumentiert.

Tote in Skandinavien, Österreich u. Deutschland

Gut erkennbar ist: Ende März lagen die Ausgangspunkte noch nicht allzu weit auseinander. Die Restriktionen in Österreich, Deutschland, Dänemark, Norwegen und Finnland hatten erst zu wirken begonnen. Doch seither kommt es zur scherenartigen Auseinanderentwicklung. In Schweden gibt es am 7. Juni 4.656 Corona-Tote. Im nicht wesentlich kleineren Österreich (8,9 zu 10,3 Millionen Einwohner) sind es „nur“ 672. Und im acht Mal größeren Deutschland „nur“ 8.685. Am 7. Juni gäbe es unter „schwedischen Bedingungen“ in Österreich 4,004 Corona-Tote – anstelle der genannten 672; es wären 6mal mehr als in Wirklichkeit. In Deutschland wären es 37.667 – das 4,4fache. Ähnlich – wie in Deutschland – die Relationen in Dänemark. In Finnland läge der „Schwedenwert“ beim 7,7fachen und in Norwegen gar beim gut 10fachen. Die skandinavischen Länder Dänemark, Norwegen und Finnland, die alle drei eine vergleichbare Corona-Politik verfolgen, wie es sie in Österreich und Deutschland gab, zählen am 7. Juni insgesamt „nur“ 1.147 Corona-Tote, weniger als ein Viertel der Zahl der Corona-Toten von Schweden. Dabei haben diese drei Länder 16,7 Millionen Einwohner; in Schweden sind es 10,3 Millionen.

Es ist schwer nachvollziehbar, warum heute die Gegner der restriktiven Maßnahmen zur Epidemie-Eindämmung weiterhin auf Schweden als Alternative und Vorbild verweisen. Im Übrigen ist die Wahrheit konkret: Aufgrund der Eindeutigkeit dieser Ergebnisse wollen im Sommer viele Länder – auch die skandinavischen Nachbarn Schwedens – ihre Grenzen für schwedische Bürgerinnen und Bürger nicht öffnen; zu groß sei das Infektionsrisiko. Schweden rangiert Anfang Juni weltweit auf Rang 5 der Länder mit der höchsten Corona-Toten-Zahl je eine Million Einwohner – hinter Belgien, Spanien, dem Vereinigten Königreich und Italien und noch vor Frankreich. Im April standen noch 63 Prozent der schwedischen Bevölkerung hinter dem Corona-Kurs ihrer Regierung. Bis Anfang Juni war die Zustimmung um knapp 20 Prozentpunkte auf 45 Prozent eingebrochen. [4] Das steht im Gegensatz zur gewachsenen Zustimmung, die die Regierungen in Helsinki, Kopenhagen, Oslo, Wien und Berlin für ihre Corona-Politik registrieren. Für Andreas Sörensen, Vorsitzender der Schwedischen Kommunistischen Partei, ist „das schwedische Modell im Endeffekt sehr zynisch. [...] Der Zynismus zeigt sich darin, dass es eine mehr oder weniger bewusste Entscheidung war, das Leben der Älteren zu opfern, um die Produktion am Laufen zu halten.“ [5] Mehr als die Hälfte der Corona-Toten in Schweden waren Seniorinnen und Senioren in Altenheimen.

Gerade die fatale Bilanz der schwedischen Corona-Politik unterstreicht: Es gibt zur Politik der Eindämmung des Virus auch mit gesetzlich unterlegten restriktiven Maßnahmen keine humane Alternative. Und es sind demokratisch-kommunistische Regierungen in Kerala, Indien, und auf Kuba, die in vorbildlicher Weise demonstrieren, dass eine solche Politik dann weit besser als in Österreich und in Deutschland funktioniert, wenn die jeweiligen Regierungen über eine große allgemeine Anerkennung in der Bevölkerung verfügen. [6]
 

„Merkel und Kurz und die WHO haben im Grunde alles richtig gemacht“

Oft wird eine nüchterne Bilanz der Corona-Politik, wie sie in Berlin und Wien betrieben wird, gleichgesetzt mit einer Zustimmung zur Politik der Regierenden. Das trifft nicht zu. Diese Regierungen reagierten, wie beschrieben, auf die Epidemie viel zu spät. Sie sind verantwortlich für den drastischen Abbau der Kapazitäten im Gesundheitssektor in den vergangenen Jahrzehnten; und sie setzen die Privatisierungspolitik bis zum heutigen Tag fort. Es gibt völlig unzureichende Kapazitäten in Kitas und Kindergärten; die Gruppengrößen waren auch in Vor-Corona-Zeiten viel zu groß bzw. die Zahl der Erzieherinnen und Erzieher viel zu klein. Deshalb waren weit drastischere Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie nötig als dies bei einer rechtzeitigen Reaktion und ausreichenden Kapazitäten der Fall gewesen wäre. Die konkreten Maßnahmen waren dann eindeutig klassenpolitisch geprägt: „Soziale Distanz“ gilt im öffentlichen Leben, natürlich nicht an den Fließbändern, bei der Gruppenarbeit in der Fertigung, in Schlachthöfen, beim Spargelstechen und in den engen Behausungen der Erntehelfer. Gottesdienste und Fußballspiele wurden als „systemrelevant“ erklärt; Demos blieben lange Zeit weitgehend untersagt. Die Besuchsverbote in Altenheimen und teilweise in Hospizen waren viel zu rigide; mit einem entsprechenden Geldeinsatz und technischem Aufwand hätten hier menschenwürdige Möglichkeiten der Kommunikation ohne Infektionsgefahren geschaffen werden können. Die Möglichkeiten für ein Homeschooling waren völlig unzureichend; hier gab es auch kaum finanzielle und technische Hilfen, sodass das Abhängen der „bildungsfernen“ Kinder und Jugendlichen beschleunigt wurde. Vor allem gewähren die Regierenden in Berlin und Wien an diejenigen Unternehmen, die selbst über Milliarden Euro Rücklagen verfügen, Milliarden-Euro-Beträge aus dem Staatssäckel und aus Sozialkassen, die an anderer Stelle – zur Stützung von Erzieherinnen und Erziehern, Künstlern und Künstlerinnen, Obdachlosen, zum Schutz von Frauen vor Gewalt, zur Absicherung von Kleinexistenzen, von gemeinnützigen Einrichtungen wie Jugendherbergen, Naturfreunde-Häusern, Kleinkunst-Einrichtungen – hätten eingesetzt werden müssen und die dort einer wesentlich größeren Zahl von Menschen, die darauf bitter angewiesen sind, Hilfe gebracht hätte.

Das Versagen setzt sich fort. Die Regierenden geben heute dem Drängen der Wirtschaft nach „Öffnung“ viel zu schnell nach; sie riskieren derzeit eine zweite Welle nach der Sommerpause. Die Öffnung zur Zivilgesellschaft und der offene Dialog mit der Wissenschaft ist weitgehend beendet. Das Robert-Koch-Institut – das im übrigen weisungsabhängig vom Gesundheitsministerium ist, dessen Chef, Jens Spahn, ein ausgewiesener Privatisierungsfreund ist – stellte die täglichen Pressekonferenzen bereits Mitte Mai ein. Die vier größten Wissenschaftseinrichtungen Deutschlands äußerten sich Mitte Mai in einer gemeinsamen Erklärung offen kritisch zur Politik der Öffnungen; ihr Rat wird jetzt souverän ignoriert. [7]

Und die WHO? Auch hier gibt es weitgehend ein Versagen. Die Weltgesundheitsorganisation konnte sich erst am 12. März dazu aufraffen, die Epidemie offiziell zur Pandemie zu erklären – was um Wochen zu spät erfolgte. Es gab in der gesamten Zeit der Epidemie nie eine offizielle Reisewarnung der WHO. Man fühlte sich vielmehr den Airlines verpflichtet – in die ja die WHO-Finanziers Gates und Buffet ebenfalls viel Geld gesteckt hatten. [8] Am 11. März veröffentlichte die WHO gemeinsam mit der Lobbygruppe der Weltluftfahrt, der ICAO, ein skandalöses „Joint Statement on COVID-19“, in dem darauf verwiesen wurde, die Fluggäste mögen doch „Hygienemaßnahmen, die den Risiken der öffentlichen Gesundheit angemessen“ wären, ergreifen. Also Händewachen und: fasten seat belts. Dabei lautete eine der wichtigsten Lehren, die die WHO 2006 aus der SARS-Epidemie zog, dass der Flugverkehr mit dem Land, in dem die Epidemie entsteht, sofort unterbrochen und gegebenenfalls der Weltflugverkehr massiv eingeschränkt werden muss. [9] Und es waren Fluggäste, vor allem Geschäftsleute, die das Virus aus Wuhan nach Deutschland und Norditalien (und wohl aus Italien nach Österreich) brachten. Nein, es gibt keine vorbildliche Politik in diesen Pandemie-Zeiten. Weder in Stockholm noch in Wien und Berlin oder in Genf, am Sitz der WHO. Der größte Teil der bislang mehr als 400.000 Menschen, die am und mit dem Corona-Virus gestorben sind, könnte heute noch leben, wenn die WHO und die Regierenden in Europa und anderswo ihren Job gemacht hätten.
 

Corona, die Krise und das Kapital

Wie in jeder Krise – und wie in jedem Boom – folgen das Kapital und seine Vertreter den eigenen Gesetzen. Und diese sind allein am Profit, an einer noch größeren Kapitalkonzentration, an einer Vernichtung kleiner Existenzen, an der Ansammlung privaten Reichtums und an der Anziehung großer staatlicher und anderer Zuflüsse orientiert. Entsprechend wird die aktuelle Krise solange weidlich im Kapitalinteresse und gegen das Allgemeininteresse genutzt, wie es keine Gegenbewegung gibt, die dem Einhalt gebietet. Was auch sonst?

In jeder Krise steckt eine Chance – das sagen sich auch die großen Kapitalvertreter. Einige von ihnen konnten in der Krise bislang Sondergewinne auf sich ziehen durch die Fertigung von Masken, von Ausrüstungen für Intensivbetten, in den Bereichen Pharma und IT, in Form von Zoom- und Skype-Konferenzen. Natürlich wird an einem Corona-Impfstoff massiv verdient werden. Und zweifellos gibt es eine fatale Verknüpfung von WHO und Bill Gates bzw. der Bill & Melinda Gates Foundation, die sich wiederum in der globalen Impfallianz GAVI konkretisieren. Und möglicherweise wäre es am besten, ein Corona-Impfstoff käme aus China und würde ohne Auflagen der Menschheit zur Verfügung gestellt, als wenn er via GAVI, Gates, Pfizer, Merck & Co. auf den Weltmarkt gelänge. Dennoch bleibt es wohl dabei, dass für die Wiederherstellung normaler sozialer Lebensverhältnisse die Existenz eines Impfstoffs die wesentliche Voraussetzung darstellt.

Bei all den Verweisen auf das Ausnutzen der Krise durch das Kapital gilt es jedoch in zweierlei Hinsicht Warnschilder aufzustellen. Warnschild 1 trägt die Aufschrift: „Proportionen wahren“. Die Summe (in Höhe von 7,5 Milliarden Euro), die für den Corona-Impfstoff eingesetzt werden soll, ist lächerlich im Vergleich zu den Pharma-Umsätzen und zu anderen Ausgaben in Corona-Krisen-Zeiten. Allein Lufthansa und Air France-KLM erhalten mehr als doppelt so viel an neuen staatlichen Zuzahlungen wie weltweit für den Corona-Impfstoff ausgegeben werden soll. Die Pharma-Konzerne sind an Impfstoff-Gewinnen eher wenig interessiert. Die Margen sind hier gering. Mehr als zwei Drittel des Umsatzes der 20 größten Pharmakonzerne werden im Bereich der Blockbuster-Medikamente (Rheumamittel, Anti-Krebs-Präparate usw.) erzielt. Und überhaupt: Wer bitte ist Big Pharma? Der addierte Umsatz der sieben größten Pharma-Unternehmen der Welt macht 400 Milliarden US-Dollar aus. Der Umsatz der sieben größten Ölkonzerne liegt mit 2,5 Billionen US-Dollar beim Sechsfachen. [10] Er übersteigt auch bei weitem die Umsätze der sieben größten IT-Konzerne. In den aktuellen Corona-Krisen-Zeiten „investieren“ die Regierungen die größten Beträge in die Airlines, in die Flugzeugbauer und in die Autokonzerne. Sie stärken damit das fossilistische Kapitel, womit sie auch die Klimakrise neu anheizen.

Das zweite Warnschild trägt die Aufschrift: „Es gibt keinen großen Plan“. Corona ist weder ein Hype noch stecken dahinter ein Projekt oder ein Plan. Diese Epidemie hat Gates ebenso auf dem falschem Fuß erwischt wie die Regierenden. Dabei erlitt die Gates-Stiftung massive Verluste. [11] Einige große Konzerne und ganz wenige Finanzinstitute mögen Krisengewinnler sein. Doch insgesamt sind die Verluste, die die weltweiten Konzerne, Banken, Versicherungen, Dienstleistungsunternehmen, auch IT-Unternehmer wie Uber und Airbnb erleiden, gewaltig. Die bislang fast acht Billionen US-Dollar, die die westlichen Regierungen für Rettungspakete ausgaben, sollen natürlich großenteils von der normalen Bevölkerung finanziert werden. Selbst wenn das gelingt, stellt das einen enormen Abzug an Nachfrage dar. Dass die Rettungspakete wirken, steht völlig in den Sternen – die eigentliche Wirtschaftskrise steht noch bevor. Und ob es gelingt, die Krisenlasten galant auf die durchschnittliche Bevölkerung umzuwälzen, ist ebenfalls offen. Zu Recht gilt die Losung aus dem Jahr 2008: Wir zahlen nicht für Eure Krise.

* * *

Anmerkungen

1. World Health Organisation – Western Pacific Region, SARS. How a global epidemic was stopped, 2006, S. 247.

2. In Deutschland wurde in den dafür zuständigen Gesundheitsämtern die Beschäftigtenzahl zwischen 2000 und 2014 von 39.000 auf 29.000 abgebaut. Seither gab es eine leichte Aufstockung. 2020 wurde fieberhaft versucht, mit Neurekrutierungen den neuen Aufgaben gerecht zu werden. Am 7. Mai 2020 wurde den Gesundheitsämtern eine neue wichtige Aufgabe zugewiesen. Nun sollen die Bundesländer sicherstellen, dass in Landkreisen mit mehr als 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen sofort wieder „ein konsequentes Beschränkungskonzept umgesetzt“ wird. Die Vorsitzende des Bundesverbands der Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD) erklärte dazu: „Das ist nicht zu schaffen. Die Gesundheitsämter werden ohne dauerhafte Personalunterstützung in die Knie gehen“. Nach: Tagesspiegel vom 8. Mai 2020.

3. Corona-Virus für FPÖ-Hofer nur ein Grippevirus das großteils nicht gefährlich sei, in: Kurier vom 13. Mai 2020.

4. ARD-Tagesschau vom 5. Juni 2020.

5. Interview mit A. Sörensen in: UZ (Unsere Zeit) vom 5. Juni 2020.

6. Zu Kerala siehe Seite 17. In Kuba (11,2 Millionen Einwohner) gab es Ende März die ersten Corona-Toten. Nach einer relativ schnellen Ausweitung bis Mitte April (24 Tote) wirkten die breit getragenen Eindämmungsmaßnahmen. Bis Ende Mai gab es nur 83 Corona-Tote. In Ecuador (17 Mio Einwohner) dagegen waren es bis Ende Mai 3334 Corona-Tote.

7. Erklärung der vier Wissenschaftseinrichtungen Fraunhofer, Helmholtz, 
Leibnitz und Max Planck Adaptive Strategien zur Eindämmung der COVID-19-Epidemie vom 28. April 2020.

8. Die Gates-Stiftung (siehe unten) ist finanziell eng mit Warren Buffets Investmentgesellschaft Berkshire Hathaway verbunden. Die wiederum hatte große Anteile an den US-Airlines. Erst nach dem Crash im Frühjahr 2020 stieg Buffet aus diesen Investments aus mit einem Verlust von 50 Milliarden US-Dollar. Siehe auch unten den Beitrag von Peter Clausing zu Bill Gates.

9. World Health Organisation – Western Pacific Region, SARS. How a global epidemic was stopped, 2006, S. 250 f.

10. Die größten Pharmakonzerne und ihr Umsatz 2018 – jeweils in Klammern in Milliarden US-Dollar) sind Johnson & Johnson (82), Hoffmann LaRoche (64), Sinopharm (60), Pfizer (52), Bayer (48), Novartis (48) und Merck & Co. (47). Die größten Ölkonzerne: Sinopec (420 Mrd. US-Dollar), Royal Dutch Shell (388), Saudi Aramco (356), Petro China (342), BP (299), Exxon (279) und Total (209). Zum Vergleich Öl-Auto und IT siehe ausführlich: Winfried Wolf, Mit dem Elektroauto in die Sackgasse, Promedia, März 2020, S. 44 ff.

11. Die größten Investments der Gates-Stiftung betrafen Anfang 2020 die erwähnte Investmentgesellschaft von Warren Buffet (siehe oben Fußnote 8), die Canadian National Railway Company (die vor allem im Transport von Öl- und Gas-Produkten engagiert ist), das Unternehmen Caterpillar und den Lebensmittelriesen WalMarts. Alle diese Unternehmen erleiden in der aktuellen Krise massive Verluste.


Zuletzt aktualisiert am 30. Juni 2023