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Wir erleben derzeit eine Doppelkrise, eine Erschütterung der gesellschaftlichen Ordnung, wie es eine solche seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gab: Es gibt sie auf der Ebene der Pandemie. Und sie existiert in Form einer ökonomischen Krise im Ausmaß der Weltwirtschaftskrise 1929–1933. Die Kombination Pandemie und Wirtschaftskrise ist mit einem entscheidenden Gegensatz verknüpft: Die Erstgenannte kann derzeit nur wirksam eingedämmt und ein weit größeres Sterben verhindert werden durch – möglichst freiwillige – Einschränkungen im sozialen Leben. Das Beispiel des französischen Flugzeugträgers Charles de Gaulle, auf dem sich binnen weniger Tage die Hälfte der Besatzung mit dem Covid-19-Virus ansteckte (was diesen erfreulich kampfunfähig machte), zeigt, wie rasant die Infizierung unter spezifischen Bedingungen stattfindet.
Die Wirtschaftskrise wiederum fällt umso heftiger aus, je länger die Einschränkungen dauern und je tiefer sie sind. In der Konsequenz fordert das kapitalnahe Personal mit Trump, Bolsonaro oder auch Laschet (CDU NRW) „Normalisierung“, um überall die Produktion für die Profite weiterlaufen zu lassen. Wovor wiederum Virologen warnen und wogegen Beschäftigte in Italien streikten. In der Konsequenz sagte der Trump-Fan und Vize-Gouverneur des Bundesstaates Texas, Dan Patrick: „Wenn ich gefragt würde, ob ich als älterer Bürger bereit wäre, mein Leben aufs Spiel zu setzen, damit Amerika so bleibt, wie wir es alle lieben, dann würde ich sagen: Ich bin dabei.“
Auf beiden Ebenen hat die Krise erst begonnen. Trotz Eindämmung durch Maßnahmen der „sozialen Distanz“ und einem staatlichen Geldsegen in Höhe von weltweit fünf Billionen US-Dollar kann die Lage außer Kontrolle geraten. Die Doppelkrise in drei Ländern mag dies verdeutlichen.
Brasilien: Das Land hat einen Corona-Leugner und Faschisten als Präsidenten, der im Zuge der Krise seinen Gesundheitsminister feuerte und seinen Justizminister verlor. Seit der letzten Aprilwoche explodiert die Zahl der Covid-19-Toten. Betroffen sind vor allem die Armen. Jair Bolsonaro, die Bosse und die Banker intervenieren massiv gegen die Eindämmungsmaßnahmen in einzelnen Bundesstaaten. Eine tiefe Wirtschaftskrise ist sicher. Die Errichtung einer Militärdiktatur wird öffentlich debattiert.
Italien: In Europa wurde Norditalien am stärksten von der Epidemie getroffen. Bis Ende April gibt es in ganz Italien 30.000 Corona-Tote. Massiv fordert der Industriellenverband Confindustria die Aufhebung der Restriktionen. Bislang widersteht die Regierung, unterstützt von Gewerkschaften und einer großen Mehrheit in der Bevölkerung. Doch die Wirtschaftskrise ist tief. Die Arbeitslosenzahlen steigen stark. Eine soziale Zerreißprobe findet statt. Die Schuldenquote wird 2020 mit 160 Prozent auf das Niveau von Griechenland im Krisenjahr 2015 hochschnellen. Umso fataler ist das Ausbleiben von effektiven Hilfen durch die EU. Die Krise des Landes droht in eine neue Euro-Krise zu münden.
USA: In einem Zeitraum von wenigen Wochen erhöhte sich hier die Zahl der Corona-Toten massiv – bis Ende April auf 60.000. Erneut sind deutlich überproportional die Armen, die Schwarzen und die Hispanics von der Epidemie betroffen. Die Arbeitslosenquote hat sich in nur einem Monat auf gut 20 Prozent vervierfacht. Trotz gigantischen staatlichen Hilfen gibt es eine tiefe Wirtschaftskrise, die die USA auf dem Weltmarkt zurückwirft und eine Hegemoniekrise – mit dem Aufstieg Chinas auf Platz 1 – auslösen kann. Donald Trump, der mit enormen Vollmachten ausgestattete US-Präsident, ist in seinem Handeln unberechenbar. Die Doppelkrise und Trumps gefährdete Wahlchancen bei der Wahl im November begünstigen einen militärischen Abenteuer-Kurs.
Heißt das, dass all dies zum Einsturz der kapitalistischen Ökonomie und gar zum Sturz bürgerlicher Herrschaft führen kann? Nein. Es droht das Gegenteil. Die maßgeblichen Kräfte in allen Ländern – diejenigen in China inbegriffen – nutzen die Gesellschaftskrise, um einen autoritären starken Staat aufzubauen, demokratische Rechte abzubauen und die alte Wirtschaftsordnung – ergänzt um neu nach oben drängende, ebenso zerstörerische Branchen – zu festigen: die Rüstungs- und Flugzeugbauer und die Airlines werden gestärkt. Die Autoindustrie fordert Abrackprämien und Schadstoff-Grenzwerte-Anhebung. IT-Konzerne, Online-Handel und Pharma-Konzerne sind Krisengewinnler. Wenn jetzt Bundeswehr-Transporter Masken aus China nach Deutschland verfrachten, dann sollen damit Militäreinsätze im Inneren in den Bereich des Möglichen gerückt werden.
Dennoch gibt es auch diese Öffnung für emanzipatorische Politik: Die Banker, Bosse und Top-Bürokraten wurden von der Doppelkrise völlig überrascht. Ihr Handeln ist chaotisch. Das Herunterfahren der Wirtschaft offenbart, was alles unnötig und zerstörerisch ist. Keiner ruft nach Chefs. Die bislang marktgeilen Chefs betteln um mehr Staat bzw. Knete. Viele Menschen erkennen, dass Werbung und Rüstung zerstörerisch sind. Positiv registriert wird, dass Umwelt und Klima sich verbessern und Straßen mit weniger Autos Lust auf mehr Stadt machen. Nicht wenige finden Ideen zur Konversion großer Teile der Industrie interessant. Fast alle verstehen, dass das Gesundheitswesen komplett öffentlich sein muss. Hier ist anzusetzen: Deutlich zu machen, dass diese Doppelkrise vorhersehbar war, ja, dass sie wesentlich Produkt der Profitlogik und damit von den Herrschenden und Regierenden zu verantworten ist. Dass eine andere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der Gesundheit, Respekt vor der Menschenwürde und ein nachhaltiger Umgang mit der Natur das Ziel sein muss. All dies muss ohne jeden Maulkorb sagbar sein. Dafür muss demonstriert werden.
Zuletzt aktualisiert am 30. Juni 2023