MIA > Deutsch > Marxisten > Trotzki
Zuerst erschienen als Vorwort zu einer von Otto Rühle redigierten Kapital-Ausgabe.
Überarbeitet von Heinz Hackelberg.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Dieses Buch von Otto Rühle bringt eine sehr gedrängte Darstellung der grundlegenden Lehren von Karl Marx. Im Grunde genommen hat noch niemand die Werttheorie besser dargelegt, als Karl Marx selbst. Bestimmte Argumente von Marx, insbesondere die schwierigen des ersten Kapitels können dem uneingeweihten Leser als spitzfindig, überflüssig oder „metaphysisch“ erscheinen. In Wahrheit ist dieser Eindruck die Konsequenz der Tatsache, daß man nicht die Gewohnheit hat, die vertrautesten Erscheinungen wissenschaftlich zu betrachten. Die Ware ist ein so allgemein verbreitetes Element geworden, derart unserem täglichen Leben vertraut, daß wir uns nicht einmal zu fragen versuchen, warum sich die Menschen von Gegenständen höchster Wichtigkeit, notwendig für den Lebensunterhalt, trennen, um sie gegen kleine Scheiben aus Gold oder Silber ohne Nützlichkeit auszutauschen. Die Ware ist nicht das einzige Beispiel. Alle Kategorien der Warenwirtschart scheinen ohne Analyse erkannt zu sein, als wie sich von selbst verstehend, als ob sie die natürliche Basis der Beziehungen zwischen den Menschen bildeten. Indessen sind die Faktoren des ökonomischen Prozesses menschliche Arbeit, Rohstoffe, Werkzeuge, die Arbeitsteilung, die Notwendigkeit der Verteilung der Produkte unter alle jene, die am Produktionsprozeß teilnehmen usw., die Kategorien selbst aber, wie Ware, Geld, Löhne, Kapital, Profit, Steuer etc., nur halb mystische Reflexe der Menschen, verschiedene Aspekte des einen ökonomischen Prozesses, den die Menschen nicht verstehen, und der sich ihrer Kontrolle entzieht. Um sie zu entziffern ist eine wissenschaftliche Analyse unerläßlich.
In den Vereinigten Staaten, wo ein Mensch, der eine Million besitzt, betrachtet wird wie der Wert einer Million, sind die ökonomischen Vorstellungen tiefer gesunken als irgendwo anders. Noch vor kurzem schenkten die Amerikaner der Natur der ökonomischen Beziehungen sehr wenig Aufmerksamkeit. Im Lande des mächtigsten ökonomischen Systems blieb die wissenschaftliche Ökonomie extrem arm. Es war die heutige tiefe Krise der amerikanischen Wirtschaft nötig, um der öffentlichen Meinung mit aller Schärfe die fundamentalen Probleme der kapitalistischen Gesellschaft vor Augen zu führen. Wer nicht davon lassen kann, passiv, ohne kritischen Geist die ideologischen Reflexe des ökonomischen Prozesses hinzunehmen, der wird niemals Marx folgend, die wesentliche Natur der Ware als fundamentale Zelle des kapitalistischen Systems zu durchschauen vermögen und wird daher unfähig sein, die wichtigsten Erscheinungen unserer Epoche wissenschaftlich zu erfassen.
Der Wissenschaft die Aufgabe des Erforschens der objektiven Erscheinungen der Natur stellend, bemüht sich der Mensch hartnäckig und eigensinnig. sich selbst der Wissenschaft zu entziehen und sich besondere Vorrechte zu sichern, sei es in der Form des Anspruches auf Beziehungen zu übernatürlichen Kräften (Religion) oder auf ewige moralische Gesetze (Idealismus). Marx hat dem Menschen endgültig diese widerwärtigen Vorrechte genommen, indem er ihn als natürliches Glied im Entwicklungsprozeß der materiellen Natur erkannte, die menschliche Gesellschaft ansieht als Organisation der Produktion und Verteilung, den Kapitalismus als ein Stadium der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft.
Es lag nicht in Marx’s Absicht, die „ewigen Gesetze“ der Ökonomie zu entdecken. Solche gibt es nicht. Die Geschichte der menschlichen Gesellschaft ist die Geschichte der Aufeinanderfolge der verschiedenen ökonomischen Systeme, deren jedes seine eigenen Gesetze aufweist. Der Übergang von einem System zum anderen war immer bestimmt vom Wachstum der Produktivkräfte, d.h. der Technik und der Organisation der Arbeit. Bis zu einem bestimmten Grade haben die sozialen Veränderungen einen quantitativen Charakter, führen sie zu keinem grundlegenden Wandel im gesellschaftlichen Fundament, das heißt den herrschenden Eigentumsformen. Aber es kommt ein Zeitpunkt, wo die gesteigerten Produktivkräfte nicht mehr in den alten Eigentumsformen eingeschlossen bleiben können. Dann erfolgt in der sozialen Ordnung eine von Erschütterungen begleitete Veränderung. Dem Urkommunismus folgte, oder fügte sich hinzu, die Sklaverei; die Sklaverei wurde abgelöst von der Leibeigenschaft mit ihrem feudalem Überbau. Im 16. Jahrhundert führte die Entwicklung des Handels der europäischen Städte zum Aufkommen des kapitalistischen Systems, das in der Folge mehrere Stadien durchlief. Im Kapital erforscht Marx nicht die Ökonomie im allgemeinen, sondern die kapitalistische Ökonomie mit ihren eigenartigen Gesetzen. Von anderen ökonomischen Systemen spricht Marx nur gelegentlich und einzig zu dem Zweck, um den Charakter des Kapitalismus klarzulegen.
Die sich selbst genügende Wirtschaft der ursprünglichen bäuerlichen Familie hat keine politische Ökonomie nötig. denn sie ist einerseits von den Naturkräften, andererseits von der Tradition beherrscht. Die in sich abgeschlossene Naturalwirtschaft der alten Griechen und Römer auf Sklavenarbeit fußend, hing ab vom Willen des Sklavenhalters, dessen „Plan“ unmittelbar bestimmt war von seinem Willen und seiner Gewohnheit. Man kann dasselbe auch vom mittelalterlichen System mit seinen leibeigenen Bauern sagen. In allen diesen Beispielen waren die ökonomischen Beziehungen klar und durchsichtig, sozusagen im Rohzustand. Aber bei der gegenwärtigen Gesellschaft liegt der Fall völlig verschieden. Sie hat die alten Beziehungen der geschlossenen Wirtschaft und die Arbeitsweisen der Vergangenheit zerstört. Die neuen ökonomischen Beziehungen haben Städte und Dörfer, Provinzen und Nationen zusammengeschlossen. Die Arbeitsteilung hat den ganzen Planeten erfaßt. Nachdem Tradition und Gewohnheit gebrochen waren, hat sich dieser Zusammenschluß nicht nach einem bestimmten Plan vollzogen, sondern vielmehr unabhängig vom Bewußtsein und der Voraussicht der Menschen. Die Abhängigkeit der Menschen, der Gruppen, der Klassen, der Nationen voneinander, die sich aus der Arbeitsteilung ergibt, ist von niemandem geleitet. Die Menschen arbeiten füreinander ohne sich zu kennen, ohne die gegenseitigen Bedürfnisse zu erkunden, mit der Hoffnung und selbst der Gewissheit, daß sich die Beziehungen zwischen ihnen auf diese, oder jene Weise von selbst regeln werden. Und im Ganzen genommen ergibt sich das auch, oder vielmehr, ergab sich das ehemals gewohnheitsmäßig.
Es ist absolut unmöglich, die Ursachen der Erscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft im subjektiven Bewußtsein, in den Absichten oder Plänen Ihrer Mitglieder zu finden. Die objektiven Erscheinungen des Kapitalismus waren nicht zu erkennen, bevor nicht ernstes Studium auf sie verwendet wurde. Bis zum heutigen Tage kennt die große Mehrheit der Menschen nicht die Gesetze, welche die kapitalistische Gesellschaft beherrschen. Die große Überlegenheit der Methode von Marx bestand darin, die ökonomischen Erscheinungen nicht vom subjektiven Gesichtspunkt bestimmter Personen zu nehmen, sondern vom objektiven Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Entwicklung in Ihrer Gesamtheit, genau so, wie ein Naturforscher einen Bienenstock oder einen Ameisenhaufen vornimmt.
Für die wissenschaftliche Ökonomie hat entscheidende Bedeutung das, was die Menschen erzeugen und die Art und Weise, wie sie es erzeugen, und nicht, was sie selbst über ihr Handeln denken. Die Grundlage der Gesellschaft sind nicht Religion und Moral, sondern die natürlichen Hilfsquellen und die Arbeit. Die Marx’sche Methode ist materialistisch, weil sie vom Sein zum Bewußtsein geht und nicht umgekehrt. Die Methode Marx’s ist dialektisch, weil die Natur und Gesellschaft In ihrer Entwicklung betrachtet, und die Entwicklung selbst als beständigen Kampf der Gegensätze.
Marx hat seine Vorläufer gehabt. Die klassische politische Ökonomie – Adam Smith, David Ricardo – erreichte ihren Gipfel. noch bevor der Kapitalismus ausgereift war, bevor er begann, den morgigen Tag zu fürchten. Marx hat diesen zwei Klassikern in tiefer Dankbarkeit seinen Tribut gezollt. Nichtsdestoweniger war es der fundamentale Irrtum der klassischen Ökonomie, den Kapitalismus als Existenzform der Menschheit für alle Epochen anzusehen, und nicht als eine bloße geschichtliche Etappe in der Entwicklung der Gesellschaft. Marx begann diese politische Ökonomie zu kritisieren, er erklärte ihre Irrtümer wie auch die Widersprüche des Kapitalismus selbst und zeigte den unvermeidlichen Zusammenbruch dieses Systems. Die Wissenschaft kann ihre Vollendung nicht in der hermetisch abgeschlossenen Gelehrtenstube finden, sondern nur in der menschlichen Gesellschaft, „im Fleisch und Knochen“. Alle Interessen, alle Leidenschaften, welche die Gesellschaft zerreißen, üben ihren Einfluß auf die Entwicklung der Wissenschaft aus, vor allem auf die politische Ökonomie, die die Wissenschaft vom Reichtum und von der Armut ist. Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie nötigte die bürgerlichen Theoretiker, der wissenschaftlichen Analyse des Ausbeutungssystems den Rücken zu kehren und sich auf die einfache Beschreibung der ökonomischen Tatsachen, auf das Studium der Ökonomie der Vergangenheit zu beschränken und, was unendlich schlimmer ist, auf eine wirkliche Verfälschung der Wahrheit mit dem Ziel der Rechtfertigung des kapitalistischen Systems. Die ökonomische Theorie, welche heute an den offiziellen Lehranstalten gelehrt wird, und welche die bürgerliche Presse predigt, ist ein bezeichnender Beleg für diese Verfälschungsarbeit. Sie ist völlig unfähig, den ökonomischen Prozeß in seiner Gesamtheit zu begreifen und seine Gesetze und Perspektiven aufzudecken, was zu tun im übrigen nicht ihre Absicht ist. Die offizielle politische Ökonomie ist tot.
In der gegenwärtigen Gesellschaft ist der Handel das entscheidende Band zwischen den Menschen. Alle Arbeitsprodukte, die in den Handel gelangen, werden zu Waren. Marx hat bei seinen Forschungen mit der Ware begonnen und von dieser fundamentalen Zelle der kapitalistischen Gesellschaft, die sozialen Beziehungen, welche sich aus ihr als Grundlage des Warenaustausches, unabhängig vom Willen des Menschen, ergeben, abgeleitet. Das ist die einzige Methode, welche das fundamentale Rätsel zu lösen erlaubte: wieso haben sich in der kapitalistischen Gesellschaft, wo jeder an sich selbst und niemand an den anderen denkt, die Beziehungen zwischen den verschiedenen Zweigen der Wirtschaft entwickelt, die unentbehrlich für das Leben sind? Der Arbeiter verkauft seine Arbeitskraft, der Bauer trägt sein Produkt auf den Markt, der Geldverleiher oder Bankier vergibt Darlehen, der Kaufmann bietet seine Waren-Auswahl an, der Fabrikant baut eine Fabrik, der Spekulant kauft und verkauft Warenlager und Aktien, jeder von ihnen hat seine eigenen Erwägungen, seinen eigenen Plan, seine eigenen Interessen hinsichtlich des Lohns oder des Profits. Nichtsdestoweniger ergibt sich aus diesem ganzen Chaos individueller Anstrengungen und Aktionen ein wirtschaftliches Zusammenwirken, das, so unharmonisch es ist, dennoch der Gesellschaft erlaubt, nicht nur zu existieren, sondern auch sich zu entwickeln. Das allein zeigt schon an, daß im Grunde dieses Chaos nicht auf jede Art ein solches ist, daß es in gewissem Maße automatisch und unbewußt geregelt ist. Das Begreifen dieses Mechanismus welcher bei aller Verschiedenheit der ökonomischen Gesichtspunkte ein relatives Gleichgewicht ergibt: das ist die Entdeckung der objektiven Gesetze des Kapitalismus.
Offenkundig sind diese Gesetze, welche die verschiedenen Gebiete der kapitalistischen Ökonomie beherrschen, die Löhne, die Preise, die Grundrente, den Profit, den Zins, den Kredit, die Börse, zahlreich und verwickelt. Aber letzten Endes laufen sie alle auf ein einziges, von Marx entdecktes und gründlich erforschtes Gesetz hinaus: auf das Wertgesetz, das der grundlegende Regulator der kapitalistischen Gesellschaft ist. Das Wesen dieses Gesetzes ist sehr einfach. Die Gesellschaft verfügt über eine gewisse Reserve an lebendiger Arbeitskraft. Sich auf die Natur beziehend, erzeugen diese Kräfte, die zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse notwendigen Produkte. Infolge der Arbeitsteilung zwischen den unabhängigen Erzeugern nehmen diese Produkte die Form von Waren an. Die Waren werden in einem bestimmten Verhältnis ausgetauscht, anfangs unmittelbar, später unter Zuhilfenahme eines Vermittlers: dem Gold oder dem Geld. Die wesentliche Eigenschaft der Ware, jene Eigenschaft, welche zur Folge hat, daß sich ständig ein bestimmtes Verhältnis zwischen ihnen herstellt, ist die menschliche Arbeit, welche nötig ist, um sie zu erzeugen, – die abstrakte Arbeit, die Arbeit im allgemeinen –, Grundlage und Maß des Wertes. Die Teilung der Arbeit unter Millionen von Produzenten führt nicht zur Auflösung der Gesellschaft, weil die Waren gemäß der zu ihrer Herstellung erforderlichen gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit ausgetauscht werden. Die Ware annehmend oder von sich weisend, stellt der Markt, der Schauplatz des Tausches, fest, ob sie die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit beinhaltet oder nicht. Dadurch bestimmt er auch die Quantität der der Gesellschaft zur Verfügung stehenden verschiedenen notwendigen Warenarten und damit die Verteilung der Arbeitskraft auf die verschiedenen Zweige der Produktion.
Die tatsächlichen Vorgänge auf dem Markt sind unendlich komplizierter als wir sie in den wenigen Zeilen dargestellt haben. So liegen die Preise, um den Wert der Arbeitskraft schwingend, bald unter, bald über diesem Wert. Die Ursachen dieser Abweichungen sind ausführlich dargelegt im dritten Band des Kapital, wo Marx den Prozeß der kapitalistischen Produktion, betrachtet in ihrem Zusammenhang, beschreibt. Nichtsdestoweniger, so beträchtlich die Abweichungen der Preise sind, die Summe aller Preise ist gleich der Summe aller Werte, die von der menschlichen Arbeit geschaffen wurden und die auf dem Markt erscheinen. Selbst wenn man das „Preismonopol“ oder den „Trust“ in Rechnung stellt, können die Preise nicht diese Grenze überschreiten; dort, wo die Arbeit keinen neuen Wert geschaffen hat, kann selbst Rockefeller nichts herausschlagen.
Wenn aber die Waren gemäß der Quantität der Arbeit, welche sie beinhalten, ausgetauscht werden, wie kann sich Ungleichheit aus Gleichheit ergeben? Marx hat dieses Rätsel gelöst, besonders die Natur einer der Waren, die die Basis aller anderen Waren ist, darlegend – die Ware Arbeitskraft. Der Eigentümer der Produktionsmittel, der Kapitalist, kauft die Arbeitskraft. Wie alle anderen Waren wird diese gemäß der Menge der Arbeit, welche sie beinhaltet, geschätzt, das heißt, gemäß den Lebensmitteln, die zur Erhaltung und zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendig sind. Aber der Verbrauch dieser Ware – der Arbeitskraft – ist die Arbeit, das heißt Schaffung von neuen Werten. Die Menge dieser Werte ist viel größer als die jener Werte, welche der Arbeiter erhält, und die er für seine Erhaltung benötigt. Der Kapitalist kauft die Arbeitskraft, um sie auszubeuten. Es ist die Ausbeutung, die die Ungleichheit erzeugt. Jenen Teil der Arbeitsprodukte, der dazu dient, den Lebensunterhalt des Arbeiters zu sichern, nennt Marx das notwendige Produkt, jenen Teil, welchen der Arbeiter mehr erzeugt, Mehrwert. Der Mehrwert wurde von den Sklaven geschaffen, sonst hätte der Sklavenhalter keine Sklaven unterhalten. Mehrwert wurde von den Leibeigenen erzeugt, sonst hätte die Leibeigenschaft keinerlei Nutzen für den großgrundbesitzenden Adel gehabt. Der Mehrwert wird ebenso, – aber in unendlich größerer Proportion, – vom Lohnarbeiter geschaffen, sonst hätte der Kapitalist keinerlei Interesse, die Arbeitskraft zu kaufen. Der Kampf der Klassen ist nichts anderes als der Kampf um den Mehrwert. Jener, der den Mehrwert besitzt, ist Herr des Staates: er besitzt den Schlüssel zur Kirche, zu den Tribunalen, zu den Wissenschaften und Künsten.
Die Verhältnisse unter den Kapitalisten, die die Arbeiter ausbeuten, sind von der Konkurrenz bestimmt, welche als die Haupttriebfeder des kapitalistischen Fortschrittes wirkt. Die großen Unternehmen haben im Verhältnis zu den kleinen die viel größeren technischen, finanziellen, organisatorischen, wirtschaftlichen und „last but not least“ politischen Vorteile. Eine größere Kapitalmenge gibt unvermeidlich jenem, der sie besitzt, den Sieg im Konkurrenzkampf. So ist die Grundlage der Konzentration und Zentralisation des Kapitals beschaffen.
Den Fortschritt und die Entwicklung der Technik fördernd, zerstört die Konkurrenz nicht allein die Schicht der mittleren Unternehmer, sondern schließlich sich selbst. Auf den Kadavern und Halbkadavern der kleinen und mittleren Kapitalisten taucht eine immer kleinere Anzahl kapitalistischer Magnaten, immer mächtiger werdend, auf. So erwächst aus der ehrlichen, demokratischen und fortschrittlichen Konkurrenz unvermeidlich das schädliche, parasitäre und reaktionäre Monopol. Seine Herrschaft bahnte sich seit 1880 an und nahm um die Jahrhundertwende ihre endgültige Form an. Jetzt ist der Sieg des Monopols von den offiziellen Repräsentanten der bürgerlichen Gesellschaft offen anerkannt. (Der regulierende Einfluß der Konkurrenz – bedauert der Generalstaatsanwalt der Vereinigten Staaten, Cummings – ist beinahe ganz verschwunden und ist im Gesamten nur als schwache Erinnerung an einen früheren Zustand vorhanden.) Während Marx, durch die Analyse die Zukunft des kapitalistischen Systems voraussehend, zum erstenmal aufzeigt, daß das Monopol eine Folge der dem Kapitalismus innewohnenden Tendenzen ist, fährt die kapitalistische Welt dennoch fort, die Konkurrenz als ein ewiges Gesetz der Natur zu betrachten.
Die Ausmerzung der Konkurrenz durch das Monopol kennzeichnet den Beginn der Auflösung der kapitalistischen Gesellschaft. Die Konkurrenz war die Triebfeder, der Hauptschöpfer des Kapitalismus und die historische Rechtfertigung der Kapitalisten.
Die Ausmerzung der Konkurrenz zeigt die Umwandlung der Aktionäre in soziale Parasiten an. Die Konkurrenz erforderte gewisse Freiheiten, eine liberale Atmosphäre, eine demokratische Herrschaft und einen kaufmännischen Kosmopolitismus. Das Monopol beansprucht eine möglichst autoritäre Herrschaft, ummauerte Grenzen, „eigene“ Rohstoffquellen und eigene Märkte (Kolonien). Das letzte Wort in der Auflösung des Monopolkapitalismus ist der Faschismus.
Die Kapitalisten und ihre Advokaten bemühen sich mit allen Mitteln, vor den Augen des Volkes wie vor den Augen des Fiskus, die wirkliche Stufe der Konzentration des Kapitals zu verbergen. Zur Verschleierung der Wahrheit bemüht sich die bürgerliche Presse, die Illusion einer „demokratischen“ Verteilung der investierten Kapitalien aufrecht zu erhalten. Die New York Times bemerkt, die Marxisten widerlegen wollend, daß es drei bis fünf Millionen isolierte Arbeitgeber gäbe. Es ist gewiß, daß die anonymen Gesellschaften eine viel größere Konzentration des Kapitals vorstellen, als die drei bis fünf Millionen „individueller“ Arbeitgeber, obgleich die Vereinigten Staaten „eine halbe Million Gesellschaften“ zählen.
Dieses Jonglieren mit runden Summen und Durchschnittswerten hat den Zweck, nicht die Wahrheit zu erhellen, sondern zu verbergen. Von Kriegsbeginn bis 1923 fiel die Anzahl der Werkstätten und Fabriken vom Index 100 auf 98,7, während die Masse der industriellen Produktion vom Index 100 auf 113 stieg. Während der Jahre der großen Prosperität (1923–1929), wo es schien, die ganze Welt sei im Begriff, reich zu werden, fiel der Index der Werkstätten und Fabriken von 100 auf 93.8, während die Produktion von 100 auf 156 stieg. Indessen ist die Konzentration der industriellen Unternehmen durch ihre materiellen plumpen Körper begrenzt, gegenüber der Konzentration ihrer Seele, das heißt ihrer Guthaben, weit zurück. Im Jahre 1929 zählten die Vereinigten Staaten tatsächlich mehr als 300.000 Gesellschaften, wie die New York Times dies richtig angibt.
Man muß nur hinzufügen, daß 200 dieser Gesellschaften, also 0.07% der Gesamtzahl, die Kapitalien von 49% aller Gesellschaften direkt kontrollierten ! Vier Jahre später ist dieser Proporz schon auf 56%, und während der Jahre der Regierung Roosevelts sicherlich noch weiter gestiegen. Und unter diesen 200 anonym geleiteten Gesellschaften fällt die tatsächliche Herrschaft einer kleinen Minderheit zu. (Ein Komitee des Senats der Vereinigten Staaten hat im Februar 1937 festgestellt, daß in den vergangenen zwanzig Jahren die Entscheidungen der zwölf größten Gesellschaften gleichbedeutend waren mit Entscheidungen für den größeren Teil der amerikanischen Industrie. Die Zahl der Verwaltungspräsidenten dieser Gesellschaften ist beinahe die gleiche wie die Zahl der Kabinettsmitglieder des Präsidenten der Vereinigten Staaten, der Regierung der Republik. Aber die Mitglieder dieser Verwaltungsräte sind unendlich mächtiger als die Mitglieder des Kabinetts.)
Derselbe Vorgang kann im System der Banken und Versicherungen beobachtet werden. Fünf der größten Versicherungsgesellschaften der Vereinigten Staaten haben nicht nur die anderen Versicherungsgesellschaften, sondern auch mehrere Banken aufgesaugt. Die Gesamtzahl der Banken verringerte sich durch Aufsaugung, hauptsächlich unter der Form die man Fusionen nennt. Dieser Vorgang beschleunigte sich rapid. Über die Banken erhebt sich die Oligarchie der Überbanken. Das Bankkapital fusioniert sich mit dem Industriekapital in der Form des „Finanzkapitals“.
Angenommen, daß die Konzentration der Industrie und der Banken im selben Rhythmus wie während des letzten Vierteljahrhunderts anhält – in der Tat ist dieser Rhythmus in fortschreitender Entwicklung – so werden die Männer der Trusts im nächsten Vierteljahrhundert die ganze Wirtschaft des Landes überwuchert haben.
Wir bedienen uns hier der Statistiken der Vereinigten Staaten aus dem einzigen Grunde, weil sie sehr genau und charakteristisch sind. In seinem Wesen trägt der Prozeß der Konzentration internationalen Charakter. Durch die verschiedenen Stufen des Kapitalismus, durch alle Phasen der Konjunkturzyklen, durch alle politischen Regimes, durch friedliche wie durch Perioden bewaffneter Konflikte, setzte sich und wird sich der Prozeß der Konzentration der ganz großen Vermögen in eine immer kleinere Handvoll bis zum Ende fortsetzen. Während der Jahre des großen Krieges, als sich die Nationen zu Tode bluteten, die fiskalischen Systeme, die Mittelklassen mit sich reißend, dem Abgrund zurollten, rafften die Trustherren aus Blut und Dreck Gewinne zusammen wie nie zuvor. Während der Kriegsjahre verdoppelten. verdrei-, vervier-, verzehnfachten die größten Gesellschaften der Vereinigten Staaten ihr Kapital, und ihre Dividenden schwollen an bis zu 300, 400, 900 und mehr Prozenten.
Im Jahre 1840, acht Jahre vor der Veröffentlichung des Manifests der Kommunistischen Partei von Marx und Engels schrieb der bekannte französische Schriftsteller de Tocqueville in seinem Buch Die Demokratie in Amerika: „Die großen Vermögen sind daran, zu verschwinden, die kleinen Vermögen sind daran, sich zu vermehren.“ Diese Gedanken sind bei jeder Gelegenheit für die Vereinigten Staaten, in der Folge für andere junge Demokratien, wie Australien und Neuseeland, zahllose Male wiederholt worden. Wahrlich, die Idee Tocqueville’s waren schon zu seiner Zeit falsch ! Als indessen die wirkliche Konzentration des Kapitals nach dem amerikanischen Bürgerkrieg begann, starb die Auffassung de Tocquevilles. Zu Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts besaßen 2% der Bevölkerung der Vereinigten Staaten schon mehr als die Hälfte der Vermögen des Landes; im Jahre 1929 besaßen diese 2% drei fünftel des nationalen Vermögens. In derselben Epoche besaßen 36.000 reiche Familien das gleiche Einkommen wie 11 Millionen mittlerer oder armer Familien. Während der Krise von 1929–1933 hatten die Trusts nicht nötig, einen Appell an die öffentliche Nächstenliebe zu richten, im Gegenteil, sie schwangen sich über den allgemeinen Verfall der nationalen Wirtschaft immer höher empor. Während der durch die Hefe des New Deal erzeugten neuerlichen industriellen Unsicherheit nahmen die Männer der Trusts neue Gewinne vorweg. Während die Zahl der Arbeitslosen im besten Falle von 20 auf 10 Millionen fiel, steckte im selben Zeitraum die Spitze der kapitalistischen Gesellschaft, im besten Falle 6.000 Personen, phantastische Profite ein. Das enthüllte, auf Zahlen gestützt, der Generalstaatsanwalt Robert Jackson. Für uns aber kleidet sich der abstrakte Begriff des Monopolkapitals in Fleisch und Blut. Das, was das ökonomische und politische Schicksal einer großen Nation bedeutet, ist eine durch verwandtschaftliche Beziehungen und gemeinsame Interessen verbundene Handvoll von Familien einer geschlossenen kapitalistischen Oligarchie. Man muß anerkennen, daß sich das marxistische Gesetz von der Konzentration immerhin konform mit den Tatsachen offenbart. Der amerikanische Schriftsteller Ferdinand Lundberg, trotz seiner wissenschaftlichen Ehrlichkeit eher ein konservativer Ökonom, hat in einem Buch, das großes Aufsehen hervorrief, geschrieben: „Die Vereinigten Staaten sind heute in wucherischen Händen und beherrscht von der Hierarchie der 60 aller reichsten Familien, denen sich 90 weniger reiche Familien anschließen. Zu diesen beiden Gruppen muß als dritte hinzugefügt werden ungefähr 300 weitere Familien, deren Einkommen 100 Millionen Dollar im Jahr beträgt. Die beherrschende Stellung kommt der ersten Gruppe zu, die nicht allein die Wirtschaft, sondern auch die Hebel der Regierung beherrscht. Sie stellt die wirkliche Regierung dar, die Regierung des Geldsacks in einer Demokratie des Dollars“.
Die Frage der Konkurrenz, der Konzentration des Kapitals und des Monopols führen natürlich zu der Frage, ob die ökonomische Theorie von Marx in unserer Epoche nicht mehr als ein historisches Interesse, – wie zum Beispiel die Theorie von Adam Smith hat oder, ob sie noch immer aktuell ist. Das Kriterium, das die Beantwortung dieser Frage erlaubt ist einfach.
Wenn die Marx’sche Theorie erlaubt, besser den Kurs der sozialen Entwicklung festzustellen und die Zukunft vorauszusehen als die anderen Theorien, so bleibt sie die fortgeschrittenste Theorie unserer Zeit, selbst wenn sie mehrere Jahrzehnte alt ist.
Der bekannte deutsche Ökonom Werner S o m b a r t, der am Beginn seiner Karriere ein wirklicher Marxist war, später aber seine revolutionären Ansichten revidierte, stellte dem Kapital von Marx seinen eigenen Der moderne Kapitalismus [1] gegenüber, der wahrscheinlich die bekannteste apologetische Darstellung der bürgerlichen Ökonomie der letzten Zeit ist. Sombart schrieb: „ Karl Marx hat vorausgesagt: erstens, die fortschreitende Entwicklung des Elends der Lohnarbeiter, zweitens, die allgemeine Konzentration mit dem Verschwinden der Klassen der Handwerker und Bauern, drittens, den Zusammenbruch des Kapitalismus. Nichts von alldem ist eingetroffen.“
Dieser irrigen Prognose stellt Sombart seine eigene „streng wissenschaftliche“ Prognose gegenüber. Der Kapitalismus wird gemäß Sombart fortfahren, sich innerlich in jene Richtung umzuformen, in die er sich schon umzuformen begonnen hat in der Epoche seiner vollen Blüte. Alternd, wird er nach und nach ruhig, still, vernünftig. Wir versuchen nicht mehr, als in großen Zügen zu sehen, wer von beiden Recht hat: entweder Marx mit seiner Prophezeiung der Katastrophe, oder Sombart, der im Namen der ganzen bürgerlichen Ökonomie versprochen hat, daß die Dinge sich „ruhig“, „still“, und „vernünftig“ gestalten werden. Der Leser wird zugeben, daß die Frage verdient, geprüft zu werden.
„Die Akkumulation des Kapitals auf dem einen Pol“, schrieb Marx 60 Jahre vor Sombart, „hat zur Folge die Akkumulation des Elends, der Leiden, der Sklaverei, der Unwissenheit, der Brutalität, der geistigen Entwürdigung auf dem entgegengesetzten Pol, das heißt, auf der Seite jener Klassen, deren Produkt die Form von Kapital annimmt.“ Diese Theorie von Marx, bekannt unter dem Namen „Verelendungstheorie“, ist der Gegenstand ununterbrochener Angriffe der demokratischen Reformisten und Sozialdemokraten gewesen, insbesondere während der Periode 1890–1914, da sich der Kapitalismus rapid entwickelte und den Arbeitern, vor allem ihrer führenden Schicht, gewisse Konzessionen gewährte. Nach dem Weltkrieg, als die von ihren eigenen Verbrechen erschreckte und von der Oktoberrevolution in Angst versetzte Bourgeoisie sich auf den Weg, allgemein gepriesener Reformen begab, Reformen, die in der Tat durch Inflation und Arbeitslosigkeit unmittelbar wieder aufgehoben wurden, erschien den Reformisten und bürgerlichen Professoren die Theorie der fortschrittlichen Umformung der kapitalistischen Gesellschaft vollkommen gesichert. „Die Kaufkraft der Lohnarbeit“, versicherte uns Sombart im Jahre 1908 und 1928, „hat sich im direkten Verhältnis zur Expansion der kapitalistischen Produktion vergrößert!“
In der Tat jedoch verschärfte sich der ökonomische Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat selbst in der gedeihlichsten Periode der kapitalistischen Entwicklung, wenn auch die Hebung des Lebensstandards bestimmter, für den Moment genügend umfangreicher Arbeiterschichten, die Verminderung des Anteils des ganzen Proletariats am nationalen Einkommen maskierte. So stieg zwischen 1920 bis 1930, eben vor dem Fall in die Krise, die industrielle Produktion der Vereinigten Staaten um 50%, während die an Löhnen ausbezahlte Summe sich nur um 30% erhöhte. Dies zeigt also eine außerordentliche Verminderung des Anteils der Arbeiter am nationalen Einkommen an. Im Jahre 1930 begann ein Anwachsen der Arbeitslosigkeit, was 1933 eine mehr oder weniger systematische Hilfe für die Arbeitslosen erzwang, die in Form von Unterstützungen kaum mehr als die Hälfte von dem, was sie an Löhnen verloren hatten, erhielten.
Die Illusionen des ununterbrochenen „Fortschrittes“ aller Klassen verschwand spurlos. Der relative Verfall des Lebensstandards der Massen hat einem absolutem Verfall Platz gemacht. Die Arbeiter beginnen an ihren mageren Vergnügungen, dann an ihrer Kleidung und zuletzt an der Nahrung zu sparen. Die Artikel und Produkte von mittlerer Qualität werden durch Schund und der Schund durch Ausschuß ersetzt. Die Syndikate beginnen jenem Menschen zu gleichen, der sich hoffnungslos am Treppengeländer festhält, indessen er eine steile Treppe hinabpurzelt.
Mit 6% der Erdbevölkerung besitzen die Vereinigten Staaten 40% des Weltkapitals. Dessen ungeachtet lebt ein Drittel der Nation, wie das Roosevelt selbst zugab, unterernährt, schlecht gekleidet, und unter menschenunwürdigen Bedingungen. Wie ist nun die Lage in den viel weniger privilegierten Ländern? Die Geschichte der kapitalistischen Welt seit dem letzten Kriege hat unwiderruflich die Theorie, genannt Verelendungstheorie, bekräftigt.
Das faschistische Regime, das nur die Grenzen des Verfalls bis zum äußerstem hinausschiebt, und das die dem imperialistischen Kapitalismus innewohnende Reaktion ausdrückt, wird unumgänglich, ob der Neigung des Kapitalismus zur Entartung, die Möglichkeit zur Aufrechterhaltung der Illusion von der Hebung des Lebensstandards des Proletariats vernichten. Die faschistische Diktatur läßt offen die Tendenz zur Verelendung erkennen, indessen die viel reicheren imperialistischen Demokratien sich noch bemühen, diese zu verbergen. Wenn Mussolini und Hitler den Marxismus mit solchem Haß verfolgen, so nur deshalb, weil Ihr eigenes Regime die schreckliche Bestätigung der marxistischen Prophezeiung ist. Die zivilisierte Welt entrüstete sich, oder heuchelte, sich zu entrüsten, als Göring mit dem scharfrichterlichen und possierlichen Ton, der ihn charakterisiert, erklärte, „Kanonen sind viel notwendiger als Butter“, oder als Mussolini den italienischen Arbeitern erklärte, daß sie lernen müßten, den Gürtel um ihr schwarzes Hemd enger zu schnallen. Aber passiert nicht im Grunde genommen die selbe Sache in den imperialistischen Demokratien? Überall dient Butter zum Fetten der Kanonen. Die Arbeiter Frankreichs, Englands, der Vereinigten Staaten lernen ohne Schwarzhemd, den Gürtel enger zu schnallen.
Die industrielle Reservearmee bildet einen untrennbaren Teil der sozialen Mechanik des Kapitalismus, genau wie die Maschinen und Rohstoffe in einer Fabrik, oder wie ein Lager von Fabrikerzeugnissen in den Magazinen. Weder die allgemeine Ausdehnung der Produktion, noch die Anpassung an die periodische Ebbe und Flut industrieller Zyklen, war ohne eine Reserve an Arbeitskräften möglich. Von der allgemeinen Tendenz der kapitalistischen Entwicklung, – Anwachsen des konstanten Kapitals (Maschinen und Rohmaterial) auf Kosten des variablen Kapitals (Arbeitskräfte), – zieht Marx folgenden Schluß: „Je größer der gesellschaftliche Reichtum ist, desto größer ist die Masse der ständigen Überbevölkerung ... desto größer ist die industrielle Reservearmee ... desto größer ist das offizielle Massenelend. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation.“ Diese, unlöslich mit der „Verelendungstheorie“ verknüpfte und durch Jahrzehnte für „übertrieben“, „tendenziös“, „demagogisch“ erklärte These ist jetzt das tadellose Bild der Wirklichkeit. Die gegenwärtige Arbeitslosenarmee kann nicht mehr als industrielle Reservearmee betrachtet werden, weil ihre Hauptmasse nicht mehr hoffen kann, Arbeit zu finden; im Gegenteil, sie ist bestimmt, zu einer konstanten Flut neuer Arbeitsloser anzuschwellen. Die Auflösung, der Zerfall des Kapitalismus hat eine ganze Generation junger Leute geschaffen, die noch niemals einen Beruf gehabt haben, und die keinerlei Hoffnung haben, einen zu finden. Diese neue Unterklasse zwischen Proletariat und Halbproletariat ist genötigt, auf Kosten der Gesellschaft zu leben. Man hat kalkuliert, daß die Arbeitslosigkeit während neun Jahren, von 1930–1938, der menschlichen Gesellschaft mehr als 43 Millionen Jahre menschlicher Arbeit gekostet hat. Wenn man bedenkt, daß im Jahre 1929, am Gipfelpunkt der Prosperität der Vereinigten Staaten, zwei Millionen Arbeitslose vorhanden waren, und daß während der letzten neun Jahre die wirkliche Zahl der Arbeiter sich um 5 Millionen vermehrte, vervielfacht sich die Gesamtsumme der verlorenen Arbeitsjahre. Eine Gesellschaftsordnung, die von einer derartigen Geißel verwüstet wird, ist todkrank. Die genaue Diagnose dieser Krankheit wurde schon vor nahezu 80 Jahren gegeben, als die Krankheit selbst erst ein bloßer Keim war.
Die Ziffern, die die Konzentration des Kapitals zeigen, zeigen zur selben Zeit, daß das spezifische Gewicht der Mittelklasse in der Produktion, und sein Anteil am nationalen Einkommen nicht aufgehört hat, abzunehmen. Zur selben Zeit, da die kleinen Unternehmen herabgedrückt und ihrer Unabhängigkeit beraubt wurden, sind sie ein reines Symbol unerträglicher Leiden und höchster und hoffnungsloser Not geworden. Es ist wahr, die Entwicklung des Kapitalismus hat im selben Moment das Anwachsen der Armee von Technikern, Geschäftsführern, Beamten, Medizinern, mit einem Wort jener, welche man die „neue Mittelklasse“ nennt, beträchtlich gefördert. Aber diese Schicht, deren Anwachsen schon für Marx kein Mysterium war, ähnelt der alten Mittelklasse wenig, die im Besitz ihrer eigenen Produktionsmittel eine fühlbare Garantie ihrer Unabhängigkeit fand. Die „neue Mittelklasse“ ist von den Kapitalisten abhängiger, als die Arbeiter. In der Tat steht sie in hohem Maße unter der Vorherrschaft dieser Klasse; im Übrigen ist eine beträchtliche Überproduktion an dieser „neuen Mittelklasse“ festzustellen, mit ihrer Folge: sozialer Degradation.
„Die statistischen Informationen zeigen glaubwürdig, daß zahlreiche industrielle Unternehmen ganz verschwunden sind, und daß sich eine fortschreitende Ausmerzung der kleinen Unternehmer als Faktor des amerikanischen Lebens ergibt“, erklärt der Generalstaatsanwalt der Vereinigten Staaten, Cummings, ein vom Marxismus weit entfernter Mann, den wir schon zitiert haben. Sombart aber wendet ein, „die allgemeine Konzentration, ungeachtet des Verschwindens der handwerklichen und bäuerlichen Klasse“, ist noch nicht eingetreten. Wie alle Theoretiker, begann Marx die grundlegenden Tendenzen in ihrer reinen Form zu isolieren; andernfalls wäre es gänzlich unmöglich gewesen, das Geschick der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu verstehen. Marx war indessen fähig, die Lebenserscheinungen im Lichte der konkreten Analyse zu sehen, als Produkt der Verkettung der verschiedenen historischen Faktoren. Die Newton’schen Gesetze werden durch die Tatsache, daß die Geschwindigkeit des Falls der Körper variiert gemäß den verschiedenen Bedingungen, oder daß die Bahn der Planeten diesen Variationen unterworfen ist, nicht entkräftet. Um das, was man die „Zählebigkeit“ der Mittelklasse nennt, zu verstehen, ist es gut, nicht zu übersehen, daß die zwei Tendenzen, – der Verfall der Mittelklassen und die Umwandlung dieser ruinierten Klassen in Proletarier, – sich weder gleichmäßig, noch in den selben Grenzen entwickeln. Aus dem wachsenden Übergewicht der Maschinen über die Arbeitskraft ergibt sich, wie weit der Verfall der Mittelklassen vorangeschritten ist, wie weit der Prozeß ihrer Proletarisierung vor sich geht; in der Tat kann dieser in einem gewissen Moment vollkommen aufhören und selbst zurückgehen.
In derselben Weise, wie das Wirken der physiologischen Gesetze in einem gesunden oder in einem verfallenden Organismus verschiedene Ergebnisse hervorbringt, bestätigen sich die ökonomischen Gesetze der marxistischen Ökonomie unterschiedlich in einem sich entwickelnden oder sich auflösenden Kapitalismus. Dieser Unterschied erscheint mit einer besonderen Klarheit in den wechselseitigen Beziehungen zwischen Stadt und Land. Die Landbevölkerung der Vereinigten Staaten, welche im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung in einem viel langsameren Rhythmus anwächst, hat sich bis zum Jahre 1910 zahlenmäßig beständig vermehrt, dem Jahre wo sie 32 Millionen überschritt. Während der folgenden 20 Jahre fiel diese Zahl ungeachtet des rapiden Wachstums der Gesamtbevölkerung auf dem Lande auf 30,4 Millionen, das heißt, sie verminderte sich um 1,6 Millionen. Aber im Jahre 1935 stieg sie von neuem auf 32,8 Millionen, vermehrte sich also um 2,4 Millionen im Verhältnis zu 1930. Diese Umkehrung der Tendenz widerlegt, obgleich sie auf den ersten Blick überrascht, in keiner Weise weder die Tendenz der Stadtbevölkerung, sich auf Kosten der Landbevölkerung zu vermehren, noch die Tendenz der Mittelklassen, sich zu atomisieren, – aber gleichzeitig zeigt sie sehr treffend die Auflösung des kapitalistischen Systems in seiner Gesamtheit. Das Anwachsen der Landbevölkerung während der Periode der höchsten Krise von 1930–1935 erklärt sich einfach durch die Tatsache, daß ungefähr 2 Millionen Städter, oder genauer, 2 Millionen ausgehungerte Arbeitslose auf das Land, auf kleine, von Farmern verlassene Grundstücke oder auf die Farmen ihrer Eltern und Freunde flüchteten, um ihre von der Gesellschaft zurückgewiesene Arbeitskraft durch produktive Arbeit in der Naturalwirtschaft zu verwenden, um an Stelle einer ganz elenden Existenz eine halbelende zu führen.
In diesem Falle handelt es sich also nicht um die Stabilität der kleinen Farmer, Handwerker und Händler, sondern vielmehr um das schreckliche Elend ihrer Lage. Weit entfernt eine Garantie des Kommenden zu sein, ist die Mittelklasse eine unglückliche und tragische Spur der Vergangenheit. Außerstande, sie vollkommen verschwinden zu machen, drückt sie der Kapitalismus bis zum letzten Grad der Degradation und höchsten Not herab. Der Farmer sieht sich nicht allein des Verkaufes seines Stückchens Erde und des Profits seines investierten Kapitals beraubt, sondern auch eines guten Teiles seines Lohns. Auf dieselbe Art haben die kleinen Leute der Stadt nach und nach ihre Reserven aufgeknabbert und schlagen in eine Existenz um, die nicht viel besser ist als der Tod. Die Verarmung der Mittelklasse ist nicht der einzige Grund ihrer Proletarisierung. Es ist daher schwer, in dieser Tatsache ein Argument gegen Marx zu finden, außer man beschönigt den Kapitalismus.
Die industrielle Krise
Das Ende des letzten Jahrhunderts und der Beginn des gegenwärtigen waren durch einen derartig gigantischen Fortschritt des Kapitalismus gekennzeichnet. daß die zyklischen Krisen nicht mehr zu sein schienen als „zufällige“ Unannehmlichkeiten. Während der Jahre des nahezu allgemeinen kapitalistischen Optimismus versicherten uns die Kritiker Marx’s, daß die nationale und internationale Entwicklung der Trusts, Syndikate und Kartelle auf dem Markt eine geplante Kontrolle einleite und verkündeten den endgültigen Sieg über die Krisen. Nach Sombart sind die Krisen schon vor dem Krieg, durch den Mechanismus des Kapitalismus selbst „vertilgt“ worden, so daß das „Problem der Krisen uns heute nahezu gleichgültig läßt“. Jetzt, kaum zehn Jahre später, klingen diese Worte wie ein Scherz, weil sich gerade in unseren Tagen die Prophezeiung von Marx in ihrer ganzen tragischen Kraft verwirklicht. Es ist merkwürdig, daß sich die kapitalistische Presse anstrengt, das Monopol zu leugnen, aber zum selben Monopol Zuflucht nimmt, um die kapitalistische Anarchie zu leugnen. Wenn 60 Familien das ökonomische Leben der Vereinigten Staaten kontrollieren, bemerkt ironisch die New York Times, so erhärtet das, daß der amerikanische Kapitalismus, weit entfernt anarchisch und vom Fehlen eines Planes zu sein, – mit großer Sorgfalt organisiert ist. Diesem Argument fehlt der Sinn. Der Kapitalismus war bis zum Ende unfähig gewesen, eine einzige seiner Tendenzen voll zu entwickeln. Selbst die Konzentration des Kapitals konnte nicht die Mittelklassen, das Monopol nicht die Konkurrenz vernichten, sie konnten nichts als wie sie verdrängen, einengen und hinunterdrücken. Wie dem immer auch sei, dies ist der Plan, jeder der 60 Familien, deren verschiedene Varianten dieser Pläne sich nicht im mindesten kümmern um die Koordinierung der verschiedenen Zweige der Ökonomie, sondern vielmehr um das Anwachsen der Profite ihrer monopolistischen Clique auf Kosten der anderen Cliquen und der ganzen Nation. Der Zusammenstoß aller dieser Pläne vertieft im Endergebnis nur die Anarchie in der nationalen Wirtschaft. Die Krise brach 1929 in den Vereinigten Staaten aus, ein Jahr nachdem Sombart die vollkommene Gleichgültigkeit seiner „Wissenschaft“ zum Problem der Krise selbst proklamiert hatte. Wie nie zuvor war die Wirtschaft der Vereinigten Staaten vom Gipfel einer noch nicht da gewesenen Prosperität in den Abgrund schrecklicher Abzehrung gestürzt. Niemand aus der Zeit Marxens hätte ein derartiges Ausmaß dieser Zuckungen ersinnen können. Das nationale Einkommen der Vereinigten Staaten belief sich Im Jahre 1920 zum ersten Mal auf 69 Milliarden Dollar, um im folgenden Jahr auf 50 Milliarden (d.h. um 27%) zu fallen. Infolge menschlicher Arbeit stieg das nationale Einkommen 1929 auf seinen höchsten Punkt, das heißt auf 81 Milliarden Dollar, um im Jahr 1932 auf 40 Milliarden, also um mehr als die Hälfte zu fallen. Während der neun Jahre, 1930–1938 wurden annähernd 43 Millionen Jahre menschlicher Arbeit und 133 Milliarden Dollar an nationalem Einkommen verloren! Arbeit und Einkommen wurden auf der Basis der Zahlen von 1939 berechnet. Wenn das alles nicht Anarchie ist, was könnte dieses Wort sonst bedeuten?
Die Gemüter der Intellektuellen der Mittelklasse und der Gewerkschaftsbürokraten waren fast gänzlich hypnotisiert von den Resultaten des Kapitalismus in der Epoche vom Tode Karl Marx’s bis zum Ausbruch des Weltkriegs. Die Idee der Evolution schien für immer gesichert zu sein, während die Idee der Revolution als ein Weg der Barbarei betrachtet wurde. Der Prophezeiung Marx’s stellte man die gegenteilige Prophezeiung einer besser angeglichenen Verteilung des nationalen Einkommens durch die Milderung der Klassengegensätze und durch eine stufenweise Reform der kapitalistischen Gesellschaft entgegen. Jean Jaurès, der begabteste Sozialdemokrat dieser klassischen Epoche, hoffte, der politischen Demokratie wieder sozialen Inhalt zu geben. Darin besteht das Wesen des Reformismus. Dies war die Marx entgegengestellte Prophezeiung. Was ist von ihr übrig geblieben? Das Leben des Monopolkapitalismus ist eine Kette von Krisen. Jede Krise ist eine Katastrophe. Der Wunsch, diesen Katastrophen teilweise mit den Mitteln befestigter Grenzen, Inflation, Anwachsen der Staatsausgaben, Zoll, etc. zu entgehen, bereitet das Gebiet für neue, tiefere und ausgedehntere Krisen vor. Der Kampf um die Märkte, die Rohstoffe, um die Kolonien, macht die militärische Katastrophe unvermeidlich. Dies alles bereitet unausweichlich revolutionäre Katastrophen vor. Es ist wahrhaft nicht leicht, mit Sombart gelten zu lassen, daß der Kapitalismus mit der Zeit mehr und mehr „still, ruhig, vernünftig“ wird. Es wird richtiger sein zu sagen, dass er auf dem Weg ist, seine letzten Spuren von Vernunft zu verlieren. Auf alle Fälle gibt es keinen Zweifel. daß die Zusammenbruchstheorie über die Theorie der friedlichen Entwicklung triumphiert hat.
Wenn die Kontrolle der Produktion durch den Markt die Gesellschaft viel gekostet hat, ist es nicht weniger wahr, dass die Menschheit bis zu einer bestimmten Etappe, an- nähernd bis zum ersten Weltkrieg, sich durch alle Teil- und allgemeinen Krisen schob, bereicherte und entwickelte. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln war in dieser Epoche ein relativ fortschrittlicher Faktor. Heute erweist sich die blinde Kontrolle durch das Wertgesetz als unbrauchbar. Der menschliche Fortschritt steckt in einer Sackgasse.
Trotz der letzten Triumphe der Technik wachsen die natürlichen Produktivkräfte nicht an. Das klarste Symptom des Verfalls ist der weltumfassende Stillstand, welcher in der Bauindustrie herrscht, als Folge des Stopps der Investitionen in die fundamentalen Zweige der Industrie. Die Kapitalisten sind nicht mehr im Stande, an die Zukunft ihres eigenen Systems zu glauben. Der Anreiz zur Bautätigkeit durch den Staat bedeutet eine Vermehrung der Steuern und spontane Verminderung des nationalen Einkommens, vor allem deshalb, weil der größte Teil der staatlichen Investitionen direkt für Kriegszwecke bestimmt ist.
Der Niedergang hat insbesondere in der Sphäre der ältesten menschlichen Tätigkeit, welche aufs engste mit den fundamentalen Lebensbedürfnissen des Menschen verbunden ist, einen degradierenden Charakter angenommen – in der Landwirtschaft. Nicht zufrieden mit dem Hindernis, welches das Privateigentum in seiner reaktionärsten Form, jener des kleinbürgerlichen Eigentums, vor die Entwicklung der Landwirtschaft stellte, sehen sich die kapitalistischen Staaten immer häufiger genötigt, sie mittels gesetzlicher und administrativer Maßnahmen, gleich jenen, welche die Handwerker von den Zünften in der Epoche ihres Verfalls abgeschreckt hatten, künstlich zu begrenzen.
Die Geschichte zeigt, daß die Regierungen der mächtigsten kapitalistischen Länder den Bauern Prämien geben, damit sie ihre Pflanzungen reduzieren, das heißt künstlich, das schon fallende Nationaleinkommen zu vermindern. Die Ergebnisse sprechen für sich selbst : Trotz grandioser Produktionsmöglichkeiten, Ergebnis von Erfahrung und Wissenschaft, macht sich die Agrarwirtschaft nicht frei von einer Krise der Fäulnis, während die Zahl der Ausgehungerten des größten Teils der Menschheit, anhaltend viel schneller anwächst, als die Bevölkerung unseres Planeten. Die Konservativen sehen die Verteidigung einer sozialen Ordnung, die bis zu einem gewissen Grade destruktivem Wahnsinn verfallen ist, als gefühlsmäßige, humanitäre Politik an und verurteilen den sozialistischen Kampf gegen einen solchen Wahnsinn als destruktiven Utopismus!
Zwei Methoden rivalisieren auf der Weltarena, um den historisch verurteilten Kapitalismus zu retten : Der Faschismus und der New Deal. Der Faschismus gründet sein Programm auf die Auflösung der Arbeiterorganisationen, auf die Zerstörung sozialer Reformen und auf die komplette Annullierung der demokratischen Rechte, um eine Wiedergeburt des Klassenkampfes zu verhindern. Der faschistische Staat legalisiert offiziell die Degradation der Arbeiter und die Verarmung der Mittelklassen im Namen des „Heils der Nation“ und der „Rasse“, dünkelhafte Worte, hinter welchen sich der verfallende Kapitalismus verbirgt. Die Politik des New Deal, welche sich in Übereinstimmung mit der Arbeiter- und Farmeraristokratie, diese privilegierend, anstrengt, die imperialistische Demokratie zu retten, ist in ihrer breitesten Anwendung nur für sehr reiche Nationen anwendbar und in diesem Sinne echt amerikanische Politik. Die amerikanische Regierung hat versucht einen Teil der Kosten dieser Politik auf die Schultern der Trustherren abzuwälzen, mit dem Versuch die Löhne zu erhöhen und den Arbeitstag zu verkürzen, um so die Kaufkraft der Bevölkerung zu steigern und die Produktion zu entwickeln. Léon Blum versuchte diese Predigt in die französische Elementarschule zu übertragen. Vergeblich! Der französische wie der amerikanische Kapitalist produziert nicht aus Liebe zur Produktion, sondern für den Profit. Er ist immer bereit, die Produktion einzuschränken, selbst Waren zu zerstören, wenn sein eigener Teil des nationalen Einkommens keinen Zuwachs aufweist.
Am unbeständigsten ist das Programm des New Deal darin, daß es einerseits an die kapitalistischen Magnaten Predigten auf die Vorteile der Teuerung hält, und daß andererseits die Regierung Prämien verteilt, um die Produktion zu senken. Kann man sich eine größere Konfusion vorstellen? Die Regierung verwirrt ihre Kritiker mit der Herausforderung : Könnt ihr es besser machen? Der Sinn aus all dem ist der, daß die Lage auf der Basis des Kapitalismus hoffnungslos ist. Seit Ende 1933, d.h. während der letzten sechs Jahre, haben die Bundesregierung, die Bundesstaaten und die Städte an die Arbeitslosen nahezu 15 Milliarden Dollar an Unterstützung verteilt, eine an sich ungenügende Summe, welche kaum die Hälfte der verlorenen Löhne repräsentiert, aber gleichzeitig eine kolossale Summe, wenn man die Verminderung des Nationaleinkommens betrachtet. Im Laufe des Jahres 1938, das ein Jahr der relativen Wiedergeburt der Wirtschaft wurde, vermehrte sich die Schuld der Vereinigten Staaten um 2 Milliarden Dollar und betrug 38 Milliarden, d.h., daß sie den höchsten Punkt zu Ende des ersten Weltkriegs um 12 Milliarden überschritt.
Zu Beginn 1939 überschritt sie 40 Milliarden. Und nachher? Das Anwachsen der nationalen Schuld ist unzweifelhaft eine Last für die künftigen Generationen. Aber der New Deal ist nur möglich auf Grund des kolossalen akkumulierten Vermögens der vorangegangenen Generationen. Nur eine sehr reiche Nation konnte sich eine derart extravagante Politik erlauben. Aber, auch eine derartige Nation kann nicht unbegrenzt fortfahren, auf Kosten vergangener Generationen zu leben. Die Politik des New Deal mit ihren Scheinresultaten und dem wirklichen Anwachsen der nationalen Schuld muß unweigerlich zu einer blutdürstigen kapitalistischen Reaktion und einer verheerenden Explosion des Imperialismus führen. Mit anderen Worten, sie führt zu dem gleichen Ergebnis wie die Politik des Faschismus.
Der Staatssekretär des Inneren der Vereinigten Staaten, Harold Ickes, betrachtet die Tatsache, daß Amerika seiner Form nach demokratisch, seinem Inhalt nach autokratisch ist, als eine sonderbare Anomalie der Geschichte: „Amerika, das Land in dem die Mehrheit regiert, wurde zumindest bis zum Jahre 1933 (!) durch die Monopole kontrolliert, welche auf ihre Art von einer kleinen Anzahl von Aktionären kontrolliert werden.“ Das Urteil ist korrekt, mit Ausnahme der Zuflüsterung Roosevelts, daß die Herrschaft des Monopols aufgehört oder sich abgeschwächt hat. Indessen ist das, was Ickes „eine der sonderbarsten Anomalien der Geschichte“ nennt, in der Tat die unbestreitbare Norm des Kapitalismus. Die Beherrschung der Schwachen durch die Starken, der viel größeren Zahl durch einige wenige, der Arbeiter durch die Ausbeuter, ist ein fundamentales Gesetz der bürgerlichen Demokratie. Was die Vereinigten Staaten von den anderen Ländern unterscheidet, ist einzig der weit größere Raum, und die größere Ungeheuerlichkeit der kapitalistischen Widersprüche, Fehlen der feudalen Vergangenheit, immense natürliche Hilfsquellen, ein energisches und unternehmendes Volk, mit einem Wort, alle jene Bedingungen, die eine ununterbrochene demokratische Entwicklung ankündigten, haben in der Tat eine phantastische Konzentration des Reichtums erzeugt. Uns versprechend, diesmal den Kampf gegen die Monopole bis zum Sieg zu führen, nimmt Ickes unvorsichtiger Weise Thomas Jefferson, Andrew Jackson, Abraham Lincoln, Roosevelt und Woodrow Wilson zu Zeugen, als Vorläufer von Franklin Roosevelt. „Alle unsere großen historischen Gestalten“, sagte er am 30. Dezember 1937, „sind gekennzeichnet durch ihren hartnäckigen, mutigen Kampf für die Verhinderung der Kontrolle durch den Reichtum und dessen Überkonzentration, sowie gegen die Konzentration der Macht in wenigen Händen.“ Aber es zeigen seine eigenen Worte, daß das Ergebnis dieses „hartnäckigen und mutigen Kampfes“ die vollkommene Beherrschung der Demokratie durch die Plutokratie ist.
Aus einem unerklärlichen Grunde denkt Ickes, daß dieses Mal der Sieg gesichert ist, vorausgesetzt, daß das Volk versteht, daß der „Kampf“ sich nicht zwischen dem New Deal und den mittleren Unternehmern abspielt, sondern zwischen dem New Deal und den „60 Familien“, welche trotz Demokratie und den Anstrengungen der „größten historischen Gestalten“, ihre Herrschaft über den Rest der mittleren Unternehmer aufgerichtet haben. Die Rockefellers, die Morgans, die Mellons, die Vanderbilts, die Guggenheims, die Fords und Co. sind nicht von außen in die Vereinigten Staaten eingedrungen, wie Cortez in Mexiko, sie sind organisch aus dem „Volk“, oder genauer gesagt, aus der Klasse der „industriellen und mittleren Geschäftsleute“ hervorgegangen und repräsentieren heute, gemäß Marx’ens Voraussage, den natürlichen Gipfelpunkt des Kapitalismus. Wenn eine junge und starke Demokratie in ihren besten Tagen nicht im Stande gewesen ist, der Konzentration des Reichtums Einhalt zu gebieten, solange dieser Prozeß noch an seinem Beginn war, ist es da möglich, auch nur eine Minute zu glauben, daß eine absteigende Demokratie imstande sein sollte, die Antagonismen der Klassen, welche ihre äußerste Zuspitzung erreicht haben, abzuschwächen? Es steht fest, daß die Erfahrungen des New Deal keinerlei Grund für irgendwelchen Optimismus geben.
Die Anklage der Schwerindustrie zurückweisend, hat R.H. Jackson, ein in den administrativen Sphären hochgestellter Mann, sich auf Zahlen stützend, bewiesen, daß die Profite der Kapitalmagnaten unter der Präsidentschaft Roosevelts eine Höhe erreicht haben, von welcher sie während der Präsidentschaft Hoovers zu träumen aufgehört hatten, was auf alle Fälle zeigt, daß der Kampf Roosevelts gegen die Monopole von keinem viel größeren Erfolg gekrönt war als der seiner Vorgänger.
Man kann mit Professor L.S. Douglas, dem ehemaligen Budget-Direktor der Administration Roosevelts, nur übereinstimmen, wenn er die Regierung verurteilt, weil sie die Monopole auf einem Gebiet „attackiert“ und auf vielen anderen ermutigt. Es kann indessen in Wirklichkeit, nicht anders sein: Nach Marx „ist die Regierung der geschäftsführende Ausschuß der herrschenden Klasse.“ Diese Regierung kann nicht dermaßen gegen die Monopole im allgemeinen kämpfen, das heißt, gegen die Klasse, mit deren Willen sie regiert.
Während sie bestimmte Monopole attackiert, ist die Regierung genötigt, Verbündete in anderen Monopolen zu suchen. In Allianz mit den Banken und der Leichtindustrie kann sie gelegentlich einen Schlag gegen die Trusts der Schwerindustrie führen, die deshalb nicht aufhören, unterdessen phantastische Gewinne zusammenzuraffen.
Lewis Douglas opponiert nicht der offiziellen Scharlatanerie der Wissenschaft. Er sieht die Quelle des Monopols nicht im Kapitalismus, sondern im Protektionismus und zieht den Schluß, daß das Heil der Gesellschaft nicht in der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, sondern in der Herabsetzung der Zolltarife zu suchen sei. „Solange die Freiheit der Märkte nicht wieder hergestellt ist“, predigt er, „ist zu bezweifeln, ob die Freiheit der Institutionen, Unternehmen, des Wortes, der Erziehung, der Religion weiter bestehen kann.“ Mit anderen Worten: Wenn man nicht die Freiheit des internationalen Handels wiederherstellt, muß die Demokratie überall und in dem Maße, wie sie überlebt ist, den Platz an eine revolutionäre oder faschistische Diktatur abtreten. Aber die internationale Handelsfreiheit ist undenkbar bei Herrschaft des Monopols. Unglücklicherweise hat sich, Douglas, genau wie Ickes, wie Jackson, wie Cummings und wie Roosevelt selbst, nicht die Mühe gegeben, uns seine eigenen Heilmittel gegen den Monopolkapitalismus und folglich gegen eine Revolution oder ein totalitäres Regime zu zeigen.
Die Handelsfreiheit, sowie die Freiheit der Konkurrenz, der Wohlstand der Mittelklassen, gehören der Vergangenheit an. Uns wieder die Vergangenheit zurückzubringen, ist heute das einzige Heilmittel, der demokratischen Reformisten des Kapitalismus: Wiedererlangen von mehr „Freiheit“ für die kleinen und mittleren Industriellen und Unternehmer. Änderung des Geld- und Kreditsystems zu ihren Gunsten, den Markt von der Herrschaft der Trusts befreien, die Börse, die Berufsspekulanten abschaffen, die internationale Handelsfreiheit wiederaufrichten und so fort in unendlicher Folge. Die Reformisten träumen selbst davon, die Benützung der Maschinen zu begrenzen und ein Verbot auf die Technik zu legen, die das soziale Gleichgewicht stört und zahllose Umwälzungen verursacht.
Die Gelehrten und der Marxismus
In einem am 7. Dezember 1937 gehaltenen Vortrag für die Verteidigung der Wissenschaft machte Dr. Robert Millikan, einer der besten Physiker Amerikas, folgende Bemerkung: Die Statistiken der Vereinigten Staaten zeigen, daß der Prozentsatz der Bevölkerung, welcher „lukrativ arbeitet, während der letzten 50 Jahre, während welcher die Wissenschaft am erfolgreichsten gewesen ist, nicht aufgehört hat, sich zu vergrößern“.
Diese Verteidigung des Kapitalismus in Form einer Verteidigung der Wissenschaft, kann nicht als sehr glücklich betrachtet werden. Gerade während des letzten halben Jahrhunderts hat sich die Wechselwirkung zwischen der Ökonomie und Technik tief geändert. Die Periode, von der Millikan spricht, umfaßt sowohl den Beginn des Verfalls des Kapitalismus als auch den Höhepunkt des kapitalistischen Wohlstands. Den Beginn dieses Verfalls, der weltumfassend ist, zu verhüllen, bedeutet, sich zum Apologeten des Kapitalismus machen. Mit Argumenten, welche selbst eines Henry Ford kaum würdig sind, den Sozialismus ungezwungen verwerfend, sagt uns Dr. Millikan, daß ohne Hebung des Produktionsniveaus kein Verteilungssystem die Bedürfnisse der Menschen zufrieden stellen kann. Das ist unbestreitbar, aber es ist bedauerlich, daß der gefeierte Physiker den Millionen amerikanischer Arbeitslosen nicht erklärt hat, w i e sie an der Vermehrung des nationalen Einkommens teilnehmen könnten. Die Predigten auf die wunderbare Gnade der individuellen Initiative und auf die Höchstproduktion der Arbeit, verschaffen den Arbeitsuchenden bestimmt keine Arbeit, stoppen nicht das Fortschreiten des Budgetdefizites und bringen die nationale Wirtschaft nicht aus der Sackgasse.
Was Marx auszeichnet, ist die Universalität seines Genies, seine Fähigkeit, die Erscheinungen und den dazugehörigen Prozess auf den verschiedenen Gebieten in ihrem inneren Zusammenhang zu begreifen. Ohne Spezialist der Naturwissenschaften zu sein, war er einer der ersten, der die Bedeutung der großen Entdeckungen auf diesem Gebiet zu schätzen wußte, so z.B. die Theorie des Darwinismus. Was Marx diesen Vorrang sicherte, war vor allem seine Methode. Die von den Ideen der Bourgeoisie durchdrängten Wissenschaftler können glauben, sie stünden turmhoch über dem Sozialismus. Aber der Fall Robert Millikans ist vor allem eine Bestätigung der Tatsache, daß sie auf dem Gebiet der Soziologie nur hoffnungslose Scharlatane sind.
In seiner Botschaft an den Kongreß zu Beginn des Jahres 1937 drückte Roosevelt den Wunsch aus, das nationale Einkommen auf 90 oder 100 Milliarden Dollar zu erhöhen, ohne aber anzuzeigen, wie er das zustande bringen will. Dieses Programm ist an sich außerordentlich bescheiden. Im Jahre 1929 erreichte das nationale Einkommen 81 Milliarden, während es ungefähr zwei Millionen Arbeitslose gab. Die Aktivierung der tatsächlichen Produktivkräfte würde genügen, nicht nur das Programm Roosevelts zu verwirklichen, sondern es sogar beträchtlich zu überschreiten. Maschinen, Rohmaterial, Arbeitskraft, nichts fehlt – selbst nicht die Bedürfnisse der Bevölkerung. Trotz alle dem ist dieser Plan nicht zu verwirklichen. Der einzige Grund dafür ist der hemmende Antagonismus, der sich zwischen dem kapitalistischen Eigentum und dem Bedürfnis der Gesellschaft nach einer steigenden Produktion entwickelt. Die berüchtigte Nationale Kontrolle der Produktionskapazität, unter der Gönnerschaft der Regierung, kam zu der Schlußfolgerung, daß sich die Gesamtkosten der Produktion und des Transportes im Jahre 1929, auf Basis der Detailpreise errechnet, auf ungefähr 94 Mrd. erhöhten. Wenn indessen alle Möglichkeiten der Produktion wirklich ausgenützt worden wären, so würde sich diese Ziffer auf 135 Milliarden erhöhen, was durchschnittlich 4.370 Dollar pro Jahr und Familie ergeben würde, eine Summe, die ein anständiges, komfortables Leben sichern würde. Es muß hinzugefügt werden, daß die Kalkulation der „Nationalen Kontrolle“ auf der gegebenen Organisation der Produktion der Vereinigten Staaten beruhen, auf jener, zu der sie die anarchische Geschichte des Kapitalismus gemacht hat. Wenn diese Organisation auf dem Boden eines einheitlichen sozialistischen Planes reorganisiert würde, so könnten die Produktionsziffern beträchtlich überschritten werden und der ganzen Welt würde ein hoher Lebensstandard sowie Komfort auf Grundlage einer außerordentlich kurzen Arbeitszeit gesichert sein.
Um die Gesellschaft zu retten, ist es weder notwendig, die Entwicklung der Technik aufzuhalten, Fabriken zu schließen, Prämien für die Farmer festzusetzen, um die Landwirtschaft zu sabotieren, ein Drittel der Arbeiter in Bettler zu verwandeln, noch einen Appell an wahnsinnige Diktatoren zu machen. Alle diese Maßregeln, entschieden die Interessen der Gesellschaft gefährdend, sind unnötig. Unbedingt nötig ist die Trennung der Produktionsmittel von ihren parasitären Besitzern und die Organisation der Gesellschaft nach einem rationalen Plan. Dann erst wird es möglich sein, die Gesellschaft wirklich von ihren Übeln zu heilen. Alle, die arbeiten können, werden Arbeit finden. Die Länge des Arbeitstages wird stufenweise vermindert werden. Die Bedürfnisse aller Mitglieder der Gesellschaft werden mehr und mehr befriedigt werden. Die Worte „Armut“, „Krise“, „Ausbeutung“ werden aus dem Sprachgebrauch verschwinden. Die Menschheit wird endlich die Schwelle zur wahren Menschlichkeit überschreiten.
„Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten“, sagt Marx, „wächst die Masse des Elends, des Druckes, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse: Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Enteigner werden enteignet.“ Das ist die sozialistische Revolution. Das Problem der Rekonstruktion der Gesellschaft bringt für Marx keine durch eine persönliche Vorliebe motivierten Vorschriften hervor; sie resultiert als historische, unerbittliche Notwendigkeit, einerseits aus dem Anwachsen der Produktivkräfte bis zu Ihrer vollen Reife, andererseits aus der Unmöglichkeit der Weiterentwicklung dieser Produktivkräfte unter der Herrschaft des Wertgesetzes.
Die Auslassungen bestimmter Intellektueller, nach welchen, trotz der Schule von Marx, der Sozialismus nicht unvermeidlich, sondern nur möglich ist, entbehrt jeden Sinnes. Es ist klar, daß Marx niemals sagen wollte, daß sich der Sozialismus ohne bewußte Intervention der Menschen verwirklichen läßt: eine derartige Idee ist einfach absurd.
Marx hat gelehrt, daß, um aus der ökonomischen Katastrophe herauszukommen, zu welcher die kapitalistische Entwicklung unweigerlich führen muß – und diese Katastrophe vollzieht sich vor unseren Augen – kein anderer Ausweg bleibt, als die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Die Produktivkräfte benötigen einen neuen Organisator und einen neuen Herrn und, das Sein bestimmt das Bewußtsein, Marx bezweifelte nicht, daß die Arbeiterklasse, selbst um den Preis von Irrtümern und Rückschlägen, dazu gelangen wird, der Situation gerecht zu werden und früher oder später die praktischen Schlußfolgerungen zu ziehen, die sich aufdrängen.
Daß die Vergesellschaftung der von den Kapitalisten geschaffenen Produktionsmittel einen enormen ökonomischen Vorteil bietet, kann man heute nicht allein in der Theorie, sondern auch durch die Erfahrungen in der UdSSR, trotz ihrer Begrenztheit, als erwiesen ansehen. Es ist wahr, daß sich die kapitalistischen Reaktionäre nicht ohne Geschicklichkeit des stalinistischen Regimes gleich einer Vogelscheuche gegen die Idee des Sozialismus bedienen. Tatsächlich hat Marx jedoch niemals gesagt, daß sich der Sozialismus in e i n e m Lande verwirklichen lasse und noch viel weniger In einem rückständigen Land. Die Entbehrungen, denen die Massen in der UdSSR ausgesetzt sind, die Allgewalt der privilegierten Kaste, die sich über die Nation und ihre Not erhoben hat, die unverschämte Willkür der Bürokraten ist nicht die Konsequenz des Sozialismus, sondern die der Isoliertheit und der historischen Rückständigkeit der UdSSR, die von der kapitalistischen Einkreisung in die Zange genommen ist. Das Erstaunlichste ist, daß es der planifizierten Wirtschaft auch unter außergewöhnlich ungünstigen Bedingungen gelungen ist, ihre unbestreitbare Überlegenheit zu beweisen.
Alle Retter des Kapitalismus, demokratischer wie faschistischer Art, bemühen sich, die Macht der Kapitalmagnaten zu begrenzen oder zumindestens zu verbergen, letzten Endes die „Enteignung der Enteigner“ zu verhindern. Sie alle anerkennen, und gewisse unter ihnen geben das offen zu, daß die Niederlage ihrer reformistischen Versuche unweigerlich zur sozialistischen Revolution führen muß. Es ist Ihnen allen gelungen zu zeigen, daß Ihre Methoden zur Rettung des Kapitalismus nichts sind als reaktionäre und machtlose Scharlatanerie. Marxens Voraussage über die Unvermeidlichkeit des Sozialismus wird so durch die Absurdität bestätigt.
***
Die Propaganda der „Technokratie“, die in der Periode der großen Krise von 1929–1932 blühte, stützte sich auf die richtige Prämisse, daß die Wirtschaft nur durch die Verbindung mit der Technik auf die Höhe der Wissenschaft gehoben, mit dem in den Dienst der Gesellschaft gestellten Staat rationalisiert werden kann. Hier beginnt die große revolutionäre Aufgabe. Um die Technik aus dem Ränkespiel der Privatinteressen zu befreien und den Staat in den Dienst der Gesellschaft zu stellen, muß man die „Enteigner enteignen“. Nur eine kräftige, an ihrer eigenen Befreiung interessierte und den kapitalistischen Enteignern entgegengesetzte Klasse kann diese Aufgabe lösen. Nur in Verbindung mit einem proletarischen Staat kann die qualifizierte Schicht der Techniker eine wirklich wissenschaftliche, wirklich rationale, das heißt sozialistische Wirtschaft aufbauen. Natürlich würde das beste sein, dieses Ziel auf dieses Ziel auf friedlichem, schrittweisem, demokratischen Weg zu erreichen. Aber die soziale Ordnung, die sich selbst überlebt hat, tritt niemals ohne Widerstand ihren Platz an ihren Nachfolger ab. Wenn die junge und kräftige Demokratie sich als unfähig erwies, das Wuchern des Reichtums und die Macht der Plutokratie zu verhindern, ist es da möglich zu hoffen, daß die senile und verwüstete Demokratie sich fähig zeigt, eine soziale Ordnung, die auf der schrankenlosen Vorherrschaft von 60 Familien fußt, umzuformen? Die Theorie und die Geschichte lehren, daß die Ersetzung einer sozialen Ordnung durch eine andere, höhere, die höchstentwickelte Form des Klassenkampfes voraussetzt, d.h. die Revolution. Selbst die Sklaverei in den Vereinigten Staaten konnte nicht ohne Bürgerkrieg abgeschafft werden. „Die Gewalt ist die Geburtshelferin jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht“. Noch niemand ist imstande gewesen, Marx in diesem fundamentalen Prinzip der Soziologie der Klassengesellschaft zu widerlegen. Einzig die sozialistische Revolution kann die Bahn zum Sozialismus freilegen.
Der Marxismus in den Vereinigten Staaten
Die nordamerikanische Republik ist auf dem Gebiet der Technik und Organisation der Produktion den anderen Ländern weit voraus. Es ist nicht allein Amerika, sondern die ganze Menschheit, welche auf diesen Grundlagen weiterbauen wird. Die verschieden Phasen des sozialen Prozesses in einer und derselben Nation folgen indessen verschiedenen Rhythmen, die von bestimmten historischen Bedingungen abhängig sind. Während die Vereinigten Staaten auf dem Gebiete der Technik ein grandioses Übergewicht haben, bleibt das ökonomische Denken dieses Landes ,sowohl nach rechts, wie nach links, außerordentlich zurück. John L. Lewis hat annähernd dieselben Gesichtspunkte wie Roosevelt. Wenn man die Natur seiner Funktion in Rechnung zieht, ist die von Lewis ungleich konservativer, um nicht zu sagen reaktionärer als jene Roosevelts. In bestimmten amerikanischen Kreisen ist eine Neigung vorhanden, diese oder jene revolutionäre Theorie ohne die mindeste wissenschaftliche Kritik der Einfachheit halber als „unamerikanisch“ zu verwerfen. Aber wo können sie das Kriterium finden, welches erlaubt zu unterscheiden, was amerikanisch ist, und was nicht amerikanisch ist? Das Christentum wurde zur selben Zeit in die amerikanischen Staaten eingeführt wie die Logarithmen, die Poesie Shakespeares, die Begriffe der Menschen- und Bürgerrechte und bestimmte andere, nicht unwichtige Erzeugnisse des menschlichen Denkens. Heute findet sich der Marxismus in der selben Kategorie. Der amerikanische Staatssekretär für Landwirtschaft, H.A. Wallace, hat dem Autor dieser Zeilen „eine dogmatische Beschränktheit, im höchsten Maße unamerikanisch“ zugeschrieben und stellt dem „russischen Dogmatismus“ den opportunistischen Geist Jeffersons entgegen, der mit seinem Gegner zu verhandeln wußte. Augenscheinlich ist es Wallace niemals in den Sinn gekommen, daß eine Kompromißpolitik nicht der Ausdruck eines nationalen, immateriellen Geistes ist, sondern ein Produkt der materiellen Bedingungen. Eine Nation, deren Reichtum rapid wächst, hat genügend Reserven, um die Klassen und die feindlichen Parteien zu versöhnen. Wenn sich dagegen die sozialen Gegensätze verschärfen, so heißt das, daß die Basis, der Kompromißpolitik dahinschwindet. Wenn die Amerikaner „dogmatische“ Beschränktheit nicht gekannt haben, so deshalb, weil sie über einen großen Überfluß an jungfräulichem Boden und unerschöpfliche Quellen natürlichen Reichtums verfügten und auch, schien es, die Möglichkeit unbegrenzter Bereicherung zu geben. Indessen verhinderte der Kompromißgeist, selbst unter diesen Bedingungen, nicht den Bürgerkrieg, als seine Stunde schlug. Alles in allem rücken heute die materiellen Bedingungen, welche die Basis des „Amerikanismus“ formen, immer mehr in den Bereich der Vergangenheit. Daher die schwere Krise der traditionellen amerikanischen Ideologien. Das empirische Denken, auf die Zusammenfassung der unmittelbaren Aufgaben beschränkt, scheint sowohl in Arbeiter als auch in Bourgeoisiekreisen zu genügen, obgleich schon lange das Wertgesetz von Marx das Denken eines jeden ergänzte. Aber heute erzeugt dieses Gesetz selbst eine entgegengesetzte Wirkung. Anstatt die Ökonomie zu fördern, ruiniert es ihre Grundlagen. Das versöhnliche eklektische Denken, mit seiner feindlichen und verachtenden Stellung gegen den als „Dogma“ betrachteten Marxismus und mit seinem philosophischen Ausdruck, dem Pragmatismus, wird absolut unangemessen, immer unbeständiger, reaktionär und lächerlich. Im Gegenteil, die traditionellen Ideen des Amerikanismus sind ein Dogma ohne Leben geworden, sind versteinert, nur Irrtümer und Konfusion erzeugend. In der selben Zeit hat die ökonomische Lehre von Marx ein günstiges Terrain gefunden und in den Vereinigten Staaten ein speziell passendes. Obgleich das Kapital in seinen theoretischen Grundlagen auf internationalem Material ruht, vor allem auf englischem, ist es eine Analyse des reinen Kapitalismus, des Kapitalismus als solchem. Unzweifelhaft ist der Kapitalismus, der auf dem jungfräulichen Boden Amerikas und ohne Geschichte gewachsen ist, dem Idealtyp des Kapitalismus sehr nahe. Zum Verdruß von Mr. Wallace hat sich Amerika wirtschaftlich nicht nach den Prinzipien Jeffersons entwickelt, sondern nach den Gesetzen von Marx. Es ist nicht sehr beleidigend für den nationalen Stolz, zuzugeben, daß sich Amerika gemäß den Gesetzen des Kopernikus um die Sonne dreht. Das Kapital gibt eine genaue Diagnose der Krankheit und eine unersetzliche Prognose. In dieser Richtung ist die Lehre von Marx viel mehr vom neuen „Amerikanismus“ durchdrungen als die Ideen von Hoover und Roosevelt, oder Green und Lewis.
Es ist wahr, daß in den Vereinigten Staaten eine originelle Literatur, den Krisen der amerikanischen Wirtschaft gewidmet, sehr verbreitet ist. Im dem Maße, wie die Ökonomen gewissenhaft ein objektives Bild der zerstörerischen Tendenzen des amerikanischen Kapitalismus zeichnen, erscheinen die Ergebnisse ihrer Forschungen, wie direkte Illustrationen zur Lehre von Marx. Die konservative Tradition dieser Autoren scheint indessen auf, wenn sie mit Starrsinn richtige Schlußfolgerungen abweisen, borniert zu nebulösen Prophezeihungen oder moralischen Banalitäten flüchten wie: „Das Land muß verstehen, daß ...“, „die öffentliche Meinung muß ernstlich erwägen ...“ usw. Ihre Bücher gleichen Messern ohne Klingen.
Die Vereinigten Staaten haben in der Vergangenheit Marxisten gehabt, das ist wahr, aber das waren Marxisten eines eigenartigen Typs, oder besser dreier Typen. An erster Stelle waren es aus Europa vertriebene Emigranten, die taten, was sie konnten, denen es aber nicht gelang ein Echo zu finden. An zweiter Stelle gab es amerikanische Gruppen, isoliert wie die Leonisten, welche im Laufe der Ereignisse und in Folge ihrer eigenen Fehler sich in Sekten verwandelten. An dritter Stelle gab es Dilettanten, die, von der Oktoberrevolution angezogen, mit dem Marxismus, gleich einer ausländischen Lehre, welche mit den Vereinigten Staaten nichts gemein hat, sympatisierten. Diese Epoche ist vorbei. Heute beginnt eine neue Epoche, die der unabhängigen Klassenbewegung des Proletariats und damit die Epoche des wahren Marxismus. Auch auf diesem Gebiete wird Amerika Europa mit einigen Sprüngen einholen und es überholen. Seine fortschrittliche Technik und seine fortschrittliche ökonomische Struktur wird sich einen Weg in das Gebiet der Doktrin bahnen. Die besten Theoretiker des Marxismus werden auf amerikanischem Boden erscheinen. Marx wird der Führer der amerikanischen Arbeiter, ihrer Avantgarde werden. Für sie wird der dargestellte Auszug des ersten Bandes des Kapitals nur der erste Schritt zum vollständigen Studium von Marx sein.
Der ideale Spiegel des Kapitalismus
In der Epoche, wo der erste Band des „Kapital“ veröffentlicht wurde, war die Weltherrschaft der englischen Bourgeoisie noch unbestritten. Die abstrakten Gesetze der Warenwirtschaft fanden natürlicherweise ihre vollkommenste Bestätigung in den Ländern, in denen der Kapitalismus seine höchste Entwicklung erreicht hatte, das heißt, die am wenigsten den Einflüssen der Vergangenheit unterworfen waren. So sehr Marx sich für seine Analyse auf England gestützt hat, hatte er nicht nur England, sondern die ganze kapitalistische Welt im Auge. Er hat das England seiner Zeit als besten Spiegel des Kapitalismus jener Epoche genommen.
Heute bleibt nur eine Erinnerung der britischen Hegemonie. Die Vorteile der kapitalistischen Erstgeburt haben sich in Nachteile verwandelt. Die technische und ökonomische Struktur Englands ist unbrauchbar geworden. Das Land bleibt hinsichtlich seiner Weltposition eher abhängig von seinem Kolonialreich, dem Erbe der Vergangenheit, als von seinem aktiven ökonomischen Potential. Das erklärt nebenbei die von Chamberlain geschaffene Nächstenliebe, welche die Welt wahrhaft in Erstaunen versetzt hat. Die englische Bourgeoisie kann sich nicht zurückziehen, sie weiß, daß ihr ökonomischer Verfall zur Gänze mit ihrer Position in der Weit unvereinbar geworden ist, und daß ein neuer Krieg den Fall des britischen Empire herbeizuführen droht. Die ökonomische Grundlage des „Pazifismus“ Frankreichs ist im wesentlichen von der selben Natur.
Deutschland hat dagegen für seinen rapiden kapitalistischen Aufstieg die Vorteile seiner historischen Rückständigkeit benutzt, um sich mit der vollkommensten Technik Europas auszurüsten. Nur über eine national beschränkte Grundlage und wenige natürliche Hilfsquellen verfügend, wandelte sich die kapitalistische Dynamik Deutschlands mit Notwendigkeit zu einem explosiven, außerordentlich kräftigen Faktor im Gleichgewicht der Weltkräfte. Die epileptische Ideologie Hitlers ist nichts anderes als der Reflex der Epilepsie des deutschen Kapitalismus.
Abgesehen von den zahlreichen, unschätzbaren Vorteilen ihres historischen Charakters hat die Entwicklung der Vereinigten Staaten den ausnahmsweisen Vorteil gehabt, ein unermeßlich weit ausgedehntes Territorium mit unvergleichlich größerem natürlichem Reichtum als Deutschland zu besitzen. Großbritannien beträchtlich zurückdrängend, ist die nordamerikanische Republik mit Beginn dieses Jahrhunderts zur Hauptfestung der Weltbourgeoisie geworden. Alle Möglichkeiten, die der Kapitalismus enthielt, fanden in diesem Lande ihren höchsten Ausdruck. Die Bourgeoisie kann in keinem Teil unseres Planeten und in keiner Weise die Ergebnisse der kapitalistischen Entwicklung in der Dollarrepublik, die der vollkommene Spiegel der Entwicklung des Kapitalismus im 20. Jahrhundert geworden ist, überholen.
Aus denselben Gründen, die Marx veranlaßten, seine Darlegung auf englischen Statistiken zu basieren, haben wir in unserer bescheidenen prinzipiellen Einleitung zu den der ökonomischen und politischen Erfahrung der Vereinigten Staaten entlehnten Beweisen Zuflucht genommen. Unnütz zu ergänzen, daß es nicht schwer sein würde, Tatsachen und analoge Ziffern anzuführen aus dem Leben anderer kapitalistischer Länder, welche es auch seien. Aber das würde nichts Wesentliches hinzufügen. Die Schlußfolgerungen würden dieselben sein und nur die Beispiele weniger schlagend.
Die Volksfrontpolitik in Frankreich ist, wie das einer ihrer Finanziers ausdrückte, eine Ausgabe des New Deal „für Liliputaner“. Es ist vollkommen klar, daß es in einer theoretischen Analyse bequemer ist, zyklopische Größen zu handhaben als liliputanische. Selbst die Ungeheuerlichkeit des Experiments Roosevelts zeigt uns, daß nur ein Wunder die kapitalistische Weltordnung retten kann. So ergibt sich, daß die Entwicklung der kapitalistischen Produktion endigt mit der Produktion von Wundern. Darüber hinaus ist es klar, daß, wenn dieses Wunder der Wiederverjüngung des Kapitalismus sich vollziehen könnte, das nur in den Vereinigten Staaten möglich wäre. Aber die Verjüngung vollzieht sich nicht. Das, was für die Zyklopen unmöglich ist, ist noch viel weniger möglich für die Liliputaner. Die Begründung dieser einfachen Schlußfolgerung war Gegenstand unseres Ausfluges in die Nordamerikanische Wirtschaft.
„Das industriell meist entwickelte Land“, schrieb Marx im Vorwort zur ersten Ausgabe seines Kapital, „zeigt den weniger entwickelten Ländern das Bild Ihrer eigenen Zukunft“. Dieser Gedanke darf unter keinen Umständen wörtlich genommen werden. Das Anwachsen der Produktivkräfte und die Vertiefung der sozialen Gegensätze sind unzweifelhaft das Schicksal aller Länder, die an den Weg der bürgerlichen Entwicklung gebunden sind. Die Ungleichheit in den „Rhythmen“ und Maßen, die sich in der Evolution der Menschheit zeigen, werden indessen nicht allein besonders scharf unter dem Kapitalismus, sondern haben zur Entstehung einer vollständigen gegenseitigen Abhängigkeit zwischen den Ländern verschiedener ökonomischer Typen geführt, die sich in Unterwerfung, Ausbeutung und Unterdrückung äußert. Nur eine Minderheit der Länder hat die systematische und logische Entwicklung vom Handwerkertum über die Manufaktur zur Fabrik, eine Entwicklung, die Marx einer sehr detaillierten Analyse unterzogen hat, ganz durchgemacht. Das kommerzielle, industrielle und finanzielle Kapital ist von außen in die zurückgebliebenen Länder eingedrungen, die primitiven Formen der Naturalwirtschaft zum Teil zerstörend und sie zum Teil dem Industrie- und Banksystem des Okzidents unterwerfend. Unter der Peitsche des Imperialismus haben sich die Kolonien und Halbkolonien genötigt gesehen, die Zwischenstadien zu vernachlässigen, sich völlig dem einen oder dem anderen Niveau künstlich anzuschließen. Die Entwicklung Indiens hat nicht die Entwicklung Englands reproduziert; es hat sie kombiniert. Um die Art der kombinierten Entwicklung der rückständigen und unterworfenen Länder wie Indien zu verstehen, ist es immer nötig, jenes klassische Schema vor Augen zu haben, das Marx aus der Entwicklung Englands gewonnen hat. Die Werttheorie leitet gleicherweise die Berechnungen der Londoner Spekulanten wie die Operationen der Geldwechsler in den zurückgezogensten Winkeln Bombays, mit dem beinahe einzigen Unterschied, daß sie in letzterem Falle viel einfachere und weniger verschlagene Formen annehmen.
Die Ungleichheit der Entwicklung hat den fortgeschrittenen Ländern enorme Vorteile geschaffen, welche, obgleich in verschiedenem Grade, sich weiterentwickelten auf Kosten der rückständigen Länder, diese ausbeutend, als Kolonie unterwerfend, oder zumindest ihren Aufstieg zur kapitalistischen Aristokratie verhindernd. Die Vermögen Spaniens, Hollands, Englands, Frankreichs sind nicht allein durch Plünderung ihres eigenen Kleinbürgertums, sondern auch durch die systematische Plünderung ihrer überseeischen Besitzungen entstanden. Die Ausbeutung der Klassen wurde vervollständigt und ihre Macht wuchs durch die Ausbeutung der Nationen. Die Bourgeoisie der Mutterländer ist imstande gewesen, ihrem eigenen Proletariat, vor allem dessen oberer Schicht, mittels eines Teils der aufgehäuften Überprofite aus den Kolonien eine privilegierte Position zu sichern. Ohne das würde die Beständigkeit der demokratischen Regimes unmöglich gewesen sein. In ihrer entwickeltsten Form ist und bleibt die Demokratie immer eine Regierungsform, welche nur den aristokratischen und ausbeutenden Nationen zugänglich Ist. Die antike Demokratie fußte auf Sklaverei, die imperialistische Demokratie fußt auf der Ausplünderung der Kolonien.
Die Vereinigten Staaten, die formell fast keine Kolonien haben, sind nichtsdestoweniger die privilegierteste aller Nationen der Geschichte. Die aus Europa gekommenen aktiven Einwanderer ergriffen, die eingeborene Bevölkerung vertilgend, sich des besten Teils Mexikos bemächtigend, den Löwenanteil des Weltreichtums erwuchernd, Besitz von einem außergewöhnlich reichem Kontinent. Die so akkumulierten Fettreserven wurden, selbst jetzt in der Epoche des Zerfalles, fortdauernd zum Fetten der Getriebe und Räder der Demokratie benutzt.
Die jüngste geschichtliche Erfahrung wie auch die theoretische Analyse bezeugen, daß das Niveau der Entwicklung der Demokratie und ihre Stabilität im umgekehrten Verhältnis zur Schärfe der Klassengegensätze stehen. In den weniger privilegierten Ländern (auf der einen Seite Rußland, auf der anderen Deutschland, Italien etc.), die außerstande waren, eine Arbeiteraristokratie hervorzubringen, wurde die Demokratie niemals breit entwickelt und unterlag mit relativer Leichtigkeit der Diktatur. Die fortdauernde progressive Paralyse des Kapitalismus bereitet den Demokratien der privilegiertesten und reichsten Nationen das gleiche Schicksal vor. Der einzige Unterschied liegt in den Fristen. Das unwiderstehliche Absinken der Lebensbedingungen der Arbeiter erlaubt der Bourgeoisie immer weniger, den Massen das Recht zur Teilnahme am politischen Leben, selbst im begrenzten Rahmen des kapitalistischen Parlamentarismus, zu gewähren. Alle anderen Erklärungen dieses augenscheinlichen Prozesses der Entthrohnung der Demokratie durch den Faschismus, sind nichts als eine idealistische Verfälschung der Wirklichkeit, Betrug oder Selbstbetrug.
Während der Imperialismus in den alten kapitalistischen Mutterländern die Demokratie zerstört, hemmt er in der selben Zeit die Entwicklung der Demokratie in den zurückgebliebenen Ländern. Die Tatsache, daß in der gegenwärtigen Epoche nicht eine der Kolonien oder Halbkolonien ihre demokratische Revolution durchführte, speziell in der Agrarfrage, ist zur Gänze Schuld des Imperialismus, der zur Hauptbremse des ökonomischen und politischen Fortschritts geworden ist. Die natürlichen Reichtümer der zurückgebliebenen Länder vollkommen ausplündernd, und die Freiheit ihrer selbständigen Industrie hemmend, gewähren die Trustmagnaten und ihre Regierungen den halbfeudalen Gruppen eine finanzielle, politische und militärische Stütze zur Aufrechterhltung der reaktionärsten, parasitärsten Ausbeutung der Eingeborenen. Die künstlich erhaltene Agrarbarbarei ist heute gleichzeitig die schlimmste Geißel der Weltwirtschaft. Der Kampf der Kolonialvölker um ihre Befreiung verwandelt sich, die Zwischenetappen überspringend, mit Notwendigkeit in einen Kampf gegen den Imperialismus und unterstützt dadurch den Kampf des Proletariats in den Mutterländern. Die kolonialen Aufstände und Kriege untergraben die Fundamente der kapitalistischen Welt und machen das Wunder ihrer Wiedergeburt weniger denn je möglich.
Die planifiziertte Weltwirtschaft
Der Kapitalismus hat das doppelte historische Verdienst, die Technik auf ein hohes Niveau gebracht, und alle Teile der Welt durch das Band der Wirtschaft geeint zu haben. Auf diese Weise hat er die zur systematischen Nutzung aller Hilfsquellen unseres Planeten erforderlichen materiellen Bedingungen geschaffen. Jedoch ist der Kapitalismus nicht imstande, diese dringliche Aufgabe auszuführen. Die Basis seiner Expansion ist immer der Nationalstaat mit seinen Grenzen, Zöllen und Armeen. Indessen überschritten die Produktivkräfte längst die Grenzen des Nationalstaates, verwandeln auf diese Art das, was einst ein historisch fortschrittlicher Faktor war, in einen unerträglichen Zwang. Die imperialistischen Kriege sind nichts anderes als die Explosion der Produktivkräfte gegen die für sie zu eng gewordenen Grenzen des Staates. Das Programm der „Autarkie“ ist nichts als ein Zurückgehen zu einer selbstgenügsamen Wirtschaft innerhalb der eigenen Grenzen. Es zeigt einzig und allein an, daß man die nationale Basis für einen neuen Krieg vorbereitet.
Nach der Unterzeichnung des Vertrages von Versailles glaubte man allgemein, daß der Erdball sehr gut aufgeteilt sei. Die neuesten Ereignisse haben uns aber wieder ins Gedächtnis gerufen, daß unser Planet noch immer Gebiete enthält, die noch nicht oder nicht genügend ausgeplündert wurden. Der Kampf um die Kolonien bleibt immer ein Teil der Politik des imperialistischen Kapitalismus. Dieser Kampf hört niemals auf, selbst wenn die Welt zur Gänze aufgeteilt ist, immer wieder verbleibt eine neue Wiederverteilung, konform mit den entstandenen Veränderungen im imperialistischen Kräfteverhältnis, auf der Tagesordnung. Das ist heute der wahre Grund der Aufrüstung, der diplomatischen Krisen und der Kriegsvorbereitung.
Alle Anstrengungen, den kommenden Krieg als einen Zusammenstoß zwischen den Ideen des Faschismus und der Demokratie darzustellen, gehören auf das Gebiet der Scharlatanerie oder der Dummheit. Die politischen Formen wechseln, die kapitalistischen Appetite bleiben. Wenn sich morgen ein faschistisches Regime beiderseits des Ärmelkanals etablieren würde – und man wird schwerlich wagen, diese Möglichkeit zu leugnen – so würden die Diktatoren von Paris und London ebenso außerstande sein, von ihrem Kolonialbesitz zu lassen, wie Hitler und Mussolini von ihren kolonialen Forderungen. Der wahnsinnige und hoffnungslose Kampf auf eine neue Wiederaufteilung der Welt bricht unwiderstehlich aus der tödlichen Krise des kapitalistischen Systems hervor.
Die Teilreformen und Flickschusterei führen zu nichts. Die historische Entwicklung ist an einer ihrer entscheidenden Etappen angelangt, wo einzig die direkte Intervention der Massen fähig ist, die reaktionären Hindernisse wegzufegen und die Grundlagen einer neuen Ordnung zu errichten. Die Vernichtung des Privatbesitzes an den Produktionsmitteln ist die erste Bedingung einer Ära der Planwirtschaft, das heißt der Intervention der Vernunft auf dem Gebiete der menschlichen Beziehungen, zuerst im nationalen Maßstab, und in der Folge im Weltmaßstab. Hat die soziale Revolution einmal begonnen, wird sie sich mit einer unendlich größeren Kraft, viel größer als die Kraft, mit der sich der Faschismus ausbreitete, von einem Land zum anderen ausbreiten. Durch das Beispiel und mit Hilfe der fortgeschrittenen Länder werden die zurückgebliebenen Länder ebenfalls in den großen Strom des Sozialismus einbezogen. Die völlig verfaulten Zollschranken werden fallen. Die Gegensätze, welche Europa und die ganze Welt teilen, werden ihre natürliche und friedliche Lösung im Rahmen der vereinigten sozialistischen Staaten finden, in Europa und in den anderen Teilen der Erde. Die befreite Menschheit wird ihrem höchsten Gipfel zustreben.
1. Band 3 1908, 2. Aufl. 1928 – der Übersetzer.
Zuletzt aktualiziert am 22.7.2008