Leo Trotzki

 

Die Entscheidungsstunde naht

Zur Lage in Frankreich

(14. Dezember 1938)


Aus: Unser Wort, Mitte Februar 1939.
Heruntergeladen mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker. [1*]
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Jeden Tag können wir uns erneut davon überzeugen, dass die Erde – ob wir es wollen oder nicht – sich weiter um ihre Achse dreht. Ebenso wirken die Gesetze des Klassenkampfes unabhängig davon, ob wir sie anerkennen oder nicht. Sie bleiben in Wirkung trotz der Politik der Volksfront. Der Klassenkampf macht die Volksfront zu seinem Instrument. Nach der tschechoslowakischen Erfahrung ist jetzt Frankreich an der Reihe, die beschränktesten und rückständigsten Politiker haben erneut Gelegenheit, etwas zu lernen.

Die Volksfront ist eine Koalition von Parteien. Jede Koalition, d.h. jedes dauerhafte politische Bündnis hat notwendigerweise das Programm der gemäßigtsten der verbündeten Parteien zum Aktionsprogramm. Die französische Volksfront bedeutete von Beginn an, dass die Sozialisten und Kommunisten ihre politische Aktivität der Kontrolle der Radikalen unterstellten. Die französischen Radikalen stellen den linken Flügel der imperialistischen Bourgeoisie dar. Auf der Fahne der radikalen Partei steht geschrieben: „Patriotismus“ und „Demokratie“. „Patriotismus“ bedeutet: Verteidigung des französischen Kolonialreichs. „Demokratie“ bedeutet eigentlich nichts Reales, sondern dient ihnen dazu, die kleinbürgerlichen Klassen an den Karren des Imperialismus zu spannen. Eben weil die Radikalen den räuberischen Imperialismus mit der Fassade der Demokratie schmücken, sind sie mehr als jede andere Partei gezwungen, die Volksmassen zu belügen und zu betrügen. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Partei Herriot-Daladiers die verdorbenste der französischen Parteien ist, eine Art Brutstätte für Karrieristen, käufliche Subjekte, Börsenspekulanten und überhaupt Abenteurer aller Art.. Da nun die Parteien der Volksfront nicht über das Programm der Radikalen hinausgehen konnten, bedeutet ein Zusammengehen praktisch nichts anderes als die Unterwerfung der Arbeiter und Bauern unter das imperialistische Programm des korruptesten Flügels der Bourgeoisie.

Zur Rechtfertigung der Volksfrontpolitik berief man sich auf die Notwendigkeit eines Bündnisses des Proletariats mit dem Kleinbürgertum. Schwerlich kann man sich eine plumpere Lüge vorstellen. Die radikale Partei drückt die Interessen der Großbourgeoisie aus und nicht die des Kleinbürgertums. Ihrem Wesen nach stellt sie den politischen Apparat zur Ausbeutung des Kleinbürgertums durch den Imperialismus dar. Das Bündnis mit der radikalen Partei ist folglich nicht ein Bündnis mit dem Kleinbürgertum, sondern mit dessen Ausbeutern. Ein wirkliches Bündnis zwischen Arbeiter und Bauer ist nur möglich, wenn man das Kleinbürgertum lehrt, wie es sich von der Radikalen Partei befreien, wie es ihr Joch ein für allemal abschütteln kann. Die Volksfront jedoch handelt in direkt entgegengesetztem Sinne. Durch ihren Eintritt in diese „Front“ nahmen Sozialisten und Kommunisten die Verantwortung für die Radikale Partei auf sich und halfen ihr so, die Volksmassen auszubeuten und zu betrügen.

Im Jahre 1936 halfen Sozialisten, Kommunisten und Anarcho-Syndikalisten der Radikalen Partei, die mächtige revolutionäre Bewegung zu bremsen und zum Stillstand zu bringen. Das Großkapital konnte sich in den letzten zweieinhalb Jahren ein wenig von seinem Schreck erholen. Die Volksfront, die ihre Rolle als Bremse erfüllt hatte, war seitdem für die Bourgeoisie nur ein unnützer Ballast. Auch änderte sich die internationale Orientierung des französischen Imperialismus. Das Bündnis mit der Sowjetunion wurde als wenig wertvoll und sehr riskant erachtet, die Übereinkunft mit Deutschland – als notwendig. Die Radikalen erhielten vom Finanzkapital den Befehl, mit ihren Bundesgenossen, den Sozialisten und Kommunisten, zu brechen. Und wie immer führten sie diesen Befehl unverzüglich aus. Das Fehlen jeder Opposition unter den Radikalen während der Kursänderung zeigte ein weiteres Mal, dass diese Partei im Wesen imperialistisch und nur in Worten „demokratisch“ ist. Die Radikale Regierung, die alle Lehren der Komintern über die „Einheitsfront der Demokraten“ verwarf, näherte sich dem faschistischen Deutschland und beseitigte im vorbeigehen, als wäre es selbstverständlich, alle „sozialen Gesetze“, die das Nebenprodukt der Kämpfe des Proletariats vom Jahre 1936 waren. Alles verläuft nach den strengen Gesetzen des Klassenkampfes, konnte darum vorhergesehen werden und wurde tatsächlich vorhergesehen.

Aber Sozialisten und Kommunisten, diese blinden Kleinbürger, wurden völlig überrascht und deckten ihre Verwirrung durch hohle Deklamationen: Wieso? Sie, Patrioten und Demokraten, die die Ordnung wiederherstellen halfen, die mit der Bewegung der Arbeiter fertig wurden, die der „Republik“, d.h. der imperialistischen Bourgeois unschätzbare Dienste erwiesen – sie wirft man jetzt ohne jede Zeremonie zur Türe hinaus! Wahrlich, wenn man sie hinauswarf, so gerade deshalb, weil sie der Bourgeoisie die oben aufgezählten Dienste erwiesen hatten. Dankbarkeit ist eben nie ein Faktor im Klassenkampf gewesen.
 

Jouhaux garantiert den Verrat

Die Unzufriedenheit der betrogenen Massen ist groß. Jouhaux, Blum und Thorez sind gezwungen, etwas zu tun, um nicht definitiv ihren Kredit zu verlieren. Als Antwort auf die spontane Bewegung der Arbeiter proklamiert Jouhaux den „Generalstreik“, ein Protest mit „gekreuzten Armen“. Ein legaler, friedlicher, gänzlich unoffensiver Protest! Nur für 24 Stunden, erklärt er mit einem unterwürfigen Lächeln an die Adresse der Bourgeoisie. Ruhe und Ordnung werden nicht gestört werden, die Arbeiter werden eine „würdige“ Ruhe bewahren, den herrschenden Klassen wird kein Haar gekrümmt werden. Dafür garantiert er, Jouhaux. „Kennen sie mich nicht, meine Herren Bankiers, Industriellen und Generäle? Haben Sie vergessen, dass ich sie im Kriege 1914-18 gerettet habe?“ Blum und Thorez ihrerseits sekundieren dem Generalsekretär der CGT: „Nur ein friedlicher Protest, eine kleine patriotische Sympathiekundgebung!“ Inzwischen mobilisiert Daladier bedeutende Teile der Arbeiterschaft und bereitet die Truppen vor. In Gegenwart der Arbeiter mit gekreuzten Armen ist die dank der Volksfront von ihrer Panik befreite Bourgeoisie keineswegs gewillt, die Arme zu kreuzen. Sie beabsichtigt, die durch die Volksfront in den Arbeiterreihen erzeugte Demoralisierung auszunutzen, um einen entscheidenden Schlag zu führen. Unter diesen Umständen kann der Streik nur mit einem Schiffbruch enden.
 

Was bedeutet dieser Streik?

Die französischen Arbeiter haben eine ungeheure Streikbewegung mit Fabrikbesetzungen hinter sich. Die folgende Etappe konnte für sie nur ein wirklicher revolutionärer Generalstreik sein, der die Machteroberung auf die Tagesordnung setzte. Niemand zeigt den Massen einen anderen Ausweg aus der Krise, ein anderes Kampfmittel gegen den kommenden Faschismus und den nahenden Krieg. Niemand kann es. Jeder denkende französische Proletarier versteht, dass am Tag nach diesem 24-stündigen Theaterstreik mit „gekreuzten Armen“ die Situation sich nicht verbessern, sondern verschlimmern wird. Indessen läuft die wichtigste Schicht der französischen Arbeiter Gefahr, bitter dafür zu zahlen – durch Verlust der Arbeit, durch Geld- oder Gefängnisstrafe. Und wofür? Die Ordnung wird keinesfalls gestört werden, schwört Jouhaux. Alles wird beim Alten bleiben. Eigentum, Kolonien, Demokratie und damit Elend, hohe Lebenshaltungskosten, Reaktion und Kriegsgefahr. Die Massen sind fähig, große Opfer zu bringen, aber sie wollen eine große politische Perspektive vor Augen haben. Sie müssen genau wissen, was das Ziel ist, welche die Methoden sind, wer der Freund und wer der Feind ist. Die Führer der Arbeiterorganisationen aber haben alles getan, um die Arbeiter zu verwirren und zu desorientieren. Gestern noch wurde die Radikale Partei als das wichtigste Element der Volksfront gepriesen, als die Vertreterin von Fortschritt, Demokratie, Frieden usw. Das Vertrauen der Arbeiter in die Radikalen war gewiss nicht sehr groß, aber sie duldeten die Radikalen in dem Maße, wie sie der sozialistischen und der Kommunistischen Partei und den Gewerkschaften Vertrauen schenkten. Der Bruch innerhalb der Spitze vollzog sich, wie immer in solchen Fällen, unerwartet. Die Massen wurden bis zum letzten Augenblick in Unkenntnis gehalten. Schlimmer noch, die Massen erhielten stets nur solche Informationen, die es der Bourgeoisie erlaubten die Arbeiter zu überrumpeln. Und dennoch waren die Massen von selbst bereit, den Kampf aufzunehmen. In ihr eigenen Netze verstrickt, warfen die „Führer“ die Massen – man lache nicht – zum „Generalstreik“ auf. Gegen wen? Gegen die „Freunde“ von gestern. Wofür? Keiner weiß es. Opportunismus geht stets Hand in Hand mit entsprechenden Verrenkungen des Abenteurertums.
 

Die Bürokraten bereiten die Niederlage vor

Der Generalstreik ist seinem Wesen nach ein revolutionäres Kampfmittel. Im Generalstreik sammelt sich das Proletariat als Klasse gegen seinen Klassenfeind. Der Generalstreik ist absolut unvereinbar mit der Volksfrontpolitik, die nichts anderes ist als ein Bündnis mit der Bourgeoisie, d.h. die Unterwerfung des Proletariats unter die Bourgeoisie. Die erbärmlichen Bürokraten der Sozialistischen und Kommunistischen Partei wie der Gewerkschaften betrachten das Proletariat als bloßes Hilfsinstrument in ihren Kombinationen mit der Bourgeoisie. Man forderte die Arbeiter auf, eine keine Demonstration mit Opfern zu bezahlen, die in ihren Augen nur einen Sinn haben konnten, wenn es sich um einen Entscheidungskampf gehandelt hätte. Als ob man eine Millionenmasse von Arbeiter nach Belieben, den parlamentarischen Kombinationen entsprechend, Wendungen nach rechts und nach links machen lassen könne! Im Grunde genommen haben Jouhaux, Blum und Thorez alles getan, um das Fehlschlagen des Streiks zu sichern; sie selbst fürchteten den Kampf nicht weniger als die Bourgeoisie; zur gleichen Zeit sahen sie sich gezwungen, sich in den Augen des Proletariats ein Alibi zu verschaffen. Es ist die gewöhnliche Kriegslist der Reformisten: den Zusammenbruch der Massenaktion vorbereiten und dann die Massen für den Misserfolg verantwortlich machen oder – was schlimmer ist – sich eines Erfolges rühmen, der nicht vorhanden war. Ist es verwunderlich, dass verbrecherischer Opportunismus, ergänzt durch homöopathische Dosen Abenteurertum, den Arbeitern nichts anderes bringen kann als Niederlagen und Demütigungen?
 

Hat die Revolution begonnen?

Am 9. Juli 1936 schrieben wir: „Die französische Revolution hat begonnen.“ Es könnte scheinen, dass die Ereignisse diese Diagnose widerlegt haben. In Wirklichkeit ist die Frage komplizierter. Dass die Lage in Frankreich revolutionär war und bleibt, daran kann kein Zweifel bestehen: Krise der internationalen Lage des französischen Imperialismus; damit verbunden innere Krise des französischen Kapitalismus; Finanzkrise des Staates; politische Krise der Demokratie; äußerste Verwirrung der Bourgeoisie; offenkundiger Mangel eines Auswegs auf den alten, traditionellen Wegen. Doch wie Lenin bereits 1915 feststellte: „Nicht aus jeder revolutionären Situation geht die Revolution hervor, sondern nur aus einer solchen Situation, wo die objektiven Veränderung von einer subjektiven Veränderung begleitet wird, d.h. von der Fähigkeit der revolutionären Klasse, revolutionäre Massenaktionen zu führen, die genügend stark sind, ... die alte Regierung zu zerbrechen, denn selbst in Krisenzeiten ‚fällt‘ die Regierung niemals, wenn man sie nicht zu Fall ‚bringt‘.“

Die Geschichte der letzten Zeit brachte eine Reihe tragischer Bestätigungen für die Tatsache, dass nicht aus jeder revolutionären Situation die Revolution hervorgeht, sondern dass eine revolutionäre Situation konterrevolutionär wird, wenn der subjektive Faktor, d.h. die revolutionäre Offensive der revolutionären Klasse, ausbleibt.
 

Die Volksfront hält die revolutionäre Flut auf

Die grandiose Streikwelle vom Jahre 1936 zeigte, dass das französische Proletariat zum Kampfe bereit war und dass es bereits den Weg des Kampfes beschritten hatte. In diesem Sinne waren wir vollauf berechtigt zu schreiben: „Die französische Revolution hat begonnen“. Aber wenn „nicht aus jeder revolutionären Situation die Revolution hervorgeht“, so ist auch die weitere ununterbrochene Entwicklung jeder begonnenen Revolution keineswegs gesichert. Der Beginn einer Revolution, die junge Generationen auf den Kampfplatz wirft, ist immer voll von Illusionen, naiven Hoffnungen und Leichtgläubigkeit. Die Revolution hat in der Regel einen harten Schlag seitens der Reaktion nötig, um einen entscheidenderen Schritt nach vorwärts zu machen. Hätte die französische Bourgeoisie die Streiks mit Fabrikbesetzungen durch polizeiliche und militärische Maßnahmen beantwortet – und das wäre unvermeidlich geschehen, wenn sich nicht die Blum, Jouhaux, Thorez & Co zu ihrer Verfügung gehabt hätte –, die Bewegung würde mit beschleunigtem Rhythmus eine Stufe erreicht haben, der Kampf um die Macht wäre unweigerlich auf die Tagesordnung gestellt worden. Aber die Bourgeoisie benutzte die Dienste der Volksfront und antwortete mit einem scheinbaren Rückzug und vorübergehenden Konzessionen: der Offensive der Streikenden stellt sie die Regierung Blum entgegen, die den Arbeitern als ihre eigene oder fast als ihre eigene Regierung erschien. CGT und Komintern haben mit allen Kräften diese Täuschung gefördert.

Um den revolutionären Kampf um die Macht zu fördern, gilt es, die Klasse klar zu sehen, der alle Macht entrissen werden soll. Die Arbeiter erkannten den Feind nicht, denn er war als Freund verkleidet. Zum Kampfe um die Mach sind außerdem Kampfmittel nötig: Partei, Gewerkschaften, Sowjets. Diese Instrumente wurden den Arbeitern entrissen, denn die Führung der Arbeiterorganisationen bildeten einen Wall um die bürgerliche Macht, um sie zu maskieren, unkenntlich und unverwundbar zu machen. So wurde die begonnen Revolution gebremst, aufgehalten und demoralisiert.

Die [?] verflossenen zweieinhalb Jahre haben Schritt für Schritt die Ohnmacht, Falschheit und Niedertracht der Volksfront offenbart. Was den arbeitenden Massen als eine „Volksregierung“ erschienen war, offenbarte sich einfach als provisorische Maske der imperialistischen Bourgeoisie. Diese Maske ist nun gefallen. Die Bourgeoisie denkt anscheinend, dass die Arbeiter genügend getäuscht und geschwächt sind, dass die unmittelbare Gefahr einer Revolution vorbei ist. Die Regierung Daladier ist dem Plane der Bourgeoisie entsprechend nur eine Stufe, um zu einer stärkeren und ernsteren Regierung der imperialistischen Diktatur überzugehen.
 

Ist die revolutionäre Gefahr vorbei?

Hat die Bourgeoisie Recht in ihrer Diagnose? Ist die unmittelbare Gefahr für sie wirklich vorbei? Anders ausgedrückt: ist die Revolution wirklich bis auf unbestimmte Zeit verschoben, d.h. weit entfernt? Das ist keineswegs bewiesen. Behauptungen dieser Art sind zumindest übereilt und verfrüht. Die gegenwärtige Krise hat ihr letztes Wort noch nicht gesprochen, jedenfalls, ist Optimismus zu Gunsten der Bourgeoisie keineswegs einer revolutionären Partei angemessen, die das Schlachtfeld als erste betritt und als letzte verlässt.

Die bürgerliche „Demokratie“ ist heute das Privileg der mächtigsten und reichsten Ausbeuter- und Sklavenhalternationen geworden. Zu ihnen gehört auch Frankreich, aber es ist das schwächste Kettenglied unter ihnen. Sein wirtschaftliches spezifisches Gewicht entspricht schon lange nicht mehr seiner aus der Vergangenheit ererbten Weltlage. Darum fällt das imperialistische Frankreich heute unter den Schlägen der Geschichte, denen es nicht ausweichen kann. Die Grundelemente der revolutionären Situation sind in den letzten zwei oder drei Jahren nicht nur nicht verschwunden, sondern haben sich im Gegenteil außergewöhnlich verstärkt. Die internationale wie die innere Lage des Landes hat sich sehr verschlimmert. Die Kriegsgefahr ist nähergerückt. Wurde der Schrecken der Bourgeoisie vor der Revolution abgeschwächt, so ist das allgemeine Bewusstsein vom Fehlen eines Auswegs um so stärker geworden.

Wie steht es jedoch mit dem subjektiven Faktor, d.h. mit der Kampfbereitschaft des Proletariats? Diese Frage – eben weil sie die subjektive und nicht die objektive Sphäre angeht – lässt sich nicht ohne genaue Untersuchung im Voraus lösen. Letzten Endes entscheidet die lebendige Aktion, d.h. der reale Gang des Klassenkampfes. Doch gibt es gewisse, nicht unbedeutende Anhaltspunkte, die eine Einschätzung des „subjektiven Faktors“ erlauben: man kann die selbst aus großer Entfernung aus den Erfahrungen des letzten Generalstreiks herleiten.
 

Die Arbeiter wollen kämpfen

Leider können wir hier keine detaillierte Analyse der Kämpfe der französischen Arbeiter in der zweiten Hälfte des Novembers und den ersten Tagen des Dezembers geben. Aber selbst die allgemeinen Daten genügen für die uns interessierende Frage: Die Beteiligung des Demonstrationsstreiks, die von fünf Millionen Mitglieder der CGT (wenigstens auf dem Papier) zwei Millionen stark war, ist eine Niederlage. Aber wenn man die oben angedeuteten politischen Bedingungen im Auge behält und vor allem die Tatsache, dass die wichtigsten „Organisatoren“ des Streiks gleichzeitig die wichtigsten Streikbrecher waren, so zeugt die Ziffer von zwei Millionen von einem hohen Kampfgeist des französischen Proletariats. Diese Schlussfolgerung wird um vieles deutlicher und klarer im Lichte der vorhergehenden Ereignisse. Die Versammlungen und Demonstrationen, die Zusammenstöße mit der Polizei und der Armee, die Streiks und Fabrikbesetzungen beginnen am 17. November und wachsen stetig an mit der Beteiligung der Kommunisten, Sozialisten und Syndikalisten der Basis. Die CGT beginnt offensichtlich, in den Ereignissen den Boden zu verlieren. Am 25. November rufen die Gewerkschaftsbürokraten auf zu einem friedlichen, „unpolitischen“ Streik für den 30. November, d.h. fünf Tage später. Mit anderen Worten: anstatt die wirkliche Bewegung, die stets kämpferischere Formen annimmt, zu entwickeln, auszubreiten und zu verallgemeinern, stellen Jouhaux & Co dieser Bewegung die Idee eines platonischen Protestes entgegen. Die Frist von fünf Tagen, in einer Zeit wo jeder Tag ein Monat ist, brauchten die Bürokraten, um durch stillschweigende Zusammenarbeit mit den Behörden die Bewegung zu lähmen und zu zerschlagen, die sich ganz unabhängig entwickelte und die sie nicht weniger in Schrecken versetzte als die Bourgeoisie. Die militärischen und polizeilichen Maßnahmen Daladiers konnten nur darum eine ernsthafte Wirkung haben, weil die Jouhaux und Kompanie die Bewegung in eine Sackgasse trieben.

Die Nichtbeteiligung (oder schwache Beteiligung) der Eisenbahner, Arbeiter in der Kriegsindustrie, Metallarbeiter und anderer vorgeschrittener Schichten des Proletariats am „Generalstreik“ hatte keineswegs irgend eine Gleichgültigkeit ihrerseits zur Ursache: während der zwei vorhergehenden Wochen haben die Arbeiter dieser Kategorien aktiv am Kampf teilgenommen. Aber gerade die vorgeschrittenen Schichten begriffen besser als die anderen – besonders nach den Maßnahmen Daladiers – dass es jetzt nicht um Manifestationen, um platonische Proteste ging, sondern um den Kampf um die Macht. Die Teilnahme der rückständigeren oder vom sozialen Standpunkte gesehen weniger wichtigen Arbeiterschichten andererseits zeugt für die tiefe Krise im Lande und für die Tatsache, dass in den Arbeitermassen die revolutionäre Energie fortlebt trotz der Jahre jämmerlicher Volksfrontpolitik.
 

Es gilt den Weg zu den Massen zu finden

Gewiss, es geschah in der Geschichte, dass selbst nach einer entscheidenden oder endgültigen Niederlage der Revolution die rückständigeren Schichten der Arbeiter die Offensive weiter fortgesetzt haben, während die Eisenbahner, Metallarbeiter usw. passiv blieben, da ereignete sich z.B. in Russland nach der Niederlage des Dezemberaufstands 1905. Aber diese Situation ergab sich aus der Tatsache, dass die vorgeschrittenen Schichten ihre Kräfte in langen vorhergehenden Kämpfen bereits erschöpft hatten: Streiks, Aussperrungen, Kundgebungen, Zusammenstöße mit der Polizei, Aufstand. Das trifft keineswegs zu für das französische Proletariat. Die Bewegung vom Jahre 1936 hat keineswegs die Kräfte der Avantgarde erschöpft. Gewiss konnte die durch die Volksfront verursachte Enttäuschung in gewisse Schichten eine vorübergehende Demoralisierung tragen; aber das hat andererseits die Empörung und Ungeduld anderer Schichten verstärken müssen. Gleichzeitig mussten die Bewegungen von 1936 wie von 1938 das gesamte Proletariat um eine unschätzbare Erfahrung bereichern und Tausende von lokalen, von der offiziellen Bürokratie unabhängigen Arbeiterführer entstehen lassen. Es gilt den Weg zu diesen Führern zu finden, sie untereinander zu verbinden, sie mit einem revolutionären Programm zu bewaffnen.

Wir haben keineswegs die Absicht, unseren französischen Freunden, die sich auf dem Kampfplatz befinden und besser als wir den Puls der Massen fühlen können, aus der Ferne Ratschläge zu erteilen. Doch ist es für alle revolutionären Marxisten heute mehr denn je deutlich, dass der einzige ernsthafte und endgültige Maßstab für das Kräfteverhältnis, einschließlich der Kampfbereitschaft der Massen, die Aktion ist. Die unerbittliche Kritik an der Zweiten und Dritten Internationale hat nur in dem Maße einen revolutionären Wert, wie sie die Avantgarde für eine direkte Intervention in den Ereignissen mobilisieren hilft. Die Hauptlosungen der Mobilisierung sind im Programm der Vierten Internationale gegeben, das in der gegenwärtigen Periode in Frankreich von aktuellerer Bedeutung ist als in jedem anderen Lande. Auf unseren Genossen ruht eine ungeheure politische Verantwortung. Der französischen Sektion der Vierten Internationale mit allen Kräften und allen moralischen wie materiellen Mitten zu helfen, ist die höchste und gebieterischste Pflicht der internationalen revolutionären Avantgarde.

 

Anmerkung von MIA

1*. In dieser Version wurde die geschlechtsneutrale Endung “Innen” in einer etwas inkonsequenten Weise benutzt, die den damaligen Gepflogenheiten nicht passt. Wir haben sie deshalb zur damals üblichen männlichen Form geändert.

 


Zuletzt aktualiziert am 22.7.2008