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Rekonstruieren wir die wichtigsten Meilensteine der Biographie des jungen Lenin vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung des Landes. Das finstere Wolgaland. Noch lebt die Generation der Sklavenhalter und der Sklaven von gestern. Die Offensive der „Narodnaja Wolja“ ist abgewehrt. Die politische Sackgasse der achtziger Jahre. In einer patriarchalischen und harmonischen Beamtenfamilie wächst Wladimir auf, lernt, entwickelt seine Intelligenz ohne Sorgen und Erschütterungen. Die Stimme der Kritik erwacht in ihm erst am Ende der Gymnasialzeit, nach dem Tod des Vaters, und richtet sich zunächst gegen die Schulleitung und die Kirche. Das unerwartete Ende des älteren Bruders öffnet Wladimir die Augen für die Fragen der Politik. Die Teilnahme an einer Studentenkundgebung ist die erste Replik auf die Hinrichtung Alexanders. Die Versuchung, den Bruder mit dessen eigenen Methoden zu rächen, muß in diesen Tagen besonders akut gewesen sein. Aber es kommt die finsterste Zeit, das Jahr 1833, und an Terror war nicht einmal zu denken. Die Reaktion rettet Wladimir nicht nur physisch, sondern drängt ihn auf den Weg gründlicher theoretischer Arbeit.
Die revolutionären Lehrjahre. Wladimir beginnt in Kasan die Lektüre des Kapital. Die Aneignung der Mehrwertlehre bedeutet für ihn nicht den Bruch mit der Narodowolzentradition: Sascha war ebenfalls Anhänger von Marx. Zum erstenmal in Kasan, und dann in Samara, kommt Wladimir in Berührung mit Revolutionären der älteren Generation, vor allem mit Narodowolzen, und zwar als aufmerksamer Schüler, der gewiß zu kritischer Prüfung entschlossen ist, aber nicht als Gegner. Wenn er trotz seiner revolutionären Einstellung, die in der Wahl der Bekanntschaften und in der Richtung seiner geistigen Interessen sehr deutlich zum Ausdruck kam, sich in diesen Jahren keiner politischen Gruppe anschloß, so zeigt das mit absoluter Sicherheit, daß er noch kein politisches Kredo hatte, und sei es auch nur ein jugendliches; er suchte erst danach. Aber diese Suche ging nichtsdestoweniger von der Narodowolzentradition aus, die auch in seiner weiteren Entwicklung merkliche Spuren hinterließ. Noch als marxistischer Kämpfer bewahrte sich Wladimir für einige Jahre seine Sympathie für den individuellen Terror, was ihn sehr von den anderen jungen Sozialdemokraten unterschied und zweifellos ein Rudiment jener Periode war, als in seinem Bewußtsein die marxistischen Ideen noch amalgamiert waren mit Sympathien für die „Narodnaja Wolja“.
Vom Frühling 1890 bis zum Herbst 1891 ist Wladimir fast ganz von den Prüfungsvorbereitungen in Anspruch genommen. Die intensive Beschäftigung mit den juridischen Wissenschaften drängte sich gewissermaßen von außen her als Keil in den Prozeß der Herausarbeitung seiner Weltanschauung. Selbstverständlich war es keine vollständige Unterbrechung. In den Stunden der Rast las Wladimir die marxistischen Klassiker, kam mit Freunden zusammen und pflegte einen Meinungsaustausch. Und auch an der juridischen Scholastik überprüfte und festigte er nach der Methode des Gegensatzes seine materialistischen Anschauungen. Aber diese kritische Arbeit wurde doch nur so nebenbei geleistet. Die ungelösten Fragen und Zweifel mußten für freie Stunden aufgeschoben werden. Wladimir beeilte sich nicht, sich festzulegen. Eine indirekte, aber interessante Bestätigung dafür: Anfang 1891 hatten zwei Samarer „Jakobinerinnen“ noch nicht die Hoffnung aufgegeben, Uljanow auf ihre Seite zu bringen; folglich betrachteten sie ihn noch nicht als politisch endgültig bestimmte Gestalt.
Das Ende des Jahres 1891 bringt Wladimir das Diplom und stellt ihn damit vor die Entscheidung. Die Tribüne des Gerichts mußte ihn locken. Nach dem Bericht der Schwester dachte er damals ernstlich an den Beruf des Advokaten, „der in der Zukunft die Mittel für die Existenz beschaffen konnte“, Doch die politische Belebung im Land konfrontierte ihn ebenso wie der Gang der eigenen Entwicklung mit anderen Aufgaben, die seinen vollen Einsatz verlangten. Das Schwanken dauerte nicht lange. Der Advokat mußte vor der Politik zurücktreten und ihr nur zur zeitweisen Tarnung dienen.
Die anderthalb Jahre des juridischen Studiums ließen die erst Etappe der revolutionären Lehrzeit weit zurückliegen und machten das Denken unabhängiger vom gestrigen Tag, der in Zeichen Saschas stand: so entstanden die Voraussetzungen für die kühne Liquidierung der Übergangsperiode. Der Winter des Hungerjahres muß die Zeit gewesen sein, da die endgültige Bilanz gezogen wurde. Das stufenweise Fortschreiten der geistigen Entwicklung schließt Sprünge nicht aus, wenn sie durch vorhergehende Akkumulation des Bewußtseins vorbereitet sind.
Die Formung der revolutionären Persönlichkeit Wladimir, spiegelte teils den Umschwung in den theoretischen Sympathien der linken Provinzintelligenz wider, teils eilte sie ihn voraus. Für die marxistische Lehre begann man sich in den Zirkeln der Samarer Jugend seit dem Jahr 1891 stärker zu Interessieren, das heißt: seit der Hungerkatastrophe. Es gab damals nicht wenige, die gern den ersten Band des Kapital bewältigt hätten, aber die meisten „bissen sich“, wie Semjonow erzählt, am ersten Kapitel „die Zähne aus“. Es gab Gespräche über die Geheimnisse der Dialektik. Im Stadtgarten am Ufer der Wolga, auf einer speziellen „Marxistenbank“, wurde hitzig über die Hegelsche Triade diskutiert.
Die ältere Generation der Samarer Intelligenz begann zu erwachen. Ihre beiden Gruppen, die Gemäßigten und die Radikalen, die im Kreis der gewohnten Ideen friedlich zusammengefunden hatten und Marx, den sie übrigens nicht kannten, die gebührende Hochachtung zollten, betrachteten die ersten russischen Sozialdemokraten als unglückseliges Mißverständnis. Am aufrichtigsten empört waren die ehemaligen Verbannten, die die im rauhen Klima Sibiriens wohlkonservierten traditionellen Anschauungen an die Wolga mitgebracht hatten.
Ein politischer Sprung wird leicht zum nicht wiedergutzumachenden Riß. Wladimir sparte schon nicht mehr mit Sarkasmus über die Klagen der Narodniki: diese Marxisten „lieben den Muschik nicht“, „freuen sich über den Ruin des Dorfes“ usw. Bald lernte er die Moralpredigien und Salbadereien verachten, die die Analyse der Wirklichkeit ersetzen Sollten. Die literarischen Tränen, die dem Muschik nichts nützen, trübten die Augen der Intelligenz und hinderten sie daran, den Weg zu sehen, der sich vor ihnen auftat. Die immer unversöhnlicheren Zusammenstöße mit den Volkstümlern und Kulturbringern spalteten allmählich die Intelligenz von Samara in zwei sich bekämpfende Lager und färbten stark auf die persönlichen Beziehungen ab. Kein Wunder, wenn die letzten anderthalb Jahre, als Wladimir aus dem Schatten ins Licht trat, auf die Erinnerungen der Zeitgenossen an die Samarer Periode als Ganzes abfärbten. Sie stellen den jungen Lenin, der im Mai 1889 als künftiger Landwirt nach Alakajewka kam, und den, der Samara im Herbst 1893 verließ, als denselben revolutionären Marxisten hin und eliminieren damit aus seinem Leben das, was sein entscheidendes Element war: die Bewegung.
P. Lepeschinskij, der diesmal der Wirklichkeit nahekommt, schreibt über die Samarer Vorbereitung Lenins: „Es besteht Grund zur Annahme, daß er schon 1891 seine marxistische Weltanschauung in großen Zügen herausbildete.“ „In Fragen der politischen Ökonomie und der Geschichte“, bestätigt Wodowosow, „überraschten seine Kenntnisse durch Solidität und Vielseitigkeit, vor allem bei einem Menschen seines Alters. Er las fließend Deutsch, Französisch und Englisch und kannte schon damals gut das Kapital und die umfangreiche marxistische Literatur (die deutsche) ... Er bezeichnete sich als überzeugten Marxisten ...“ Dieses Gepäck hätte für ein Dutzend andere vielleicht gereicht; aber der gegen sich selbst sehr strenge junge Mann betrachtete sich als nicht genügend vorbereitet für die revolutionäre Arbeit, und das nicht ohne Grund: in der Kette, die die Doktrin mit der Wirklichkeit verbindet, fehlten ihm noch wichtige Bindeglieder. Die Tatsachen sprechen auch hier für sich selbst: hätte sich Wladimir schon 1891 als mit allem Rüstzeug versehen betrachtet, hätte er nicht noch ganze zwei Jahre in Samara bleiben können.
Die ältere Schwester versichert allerdings, daß die Sorge um die Mutter, die nach Olgas Tod das Herz ihrer Kinder gewissermaßen aufs neue durch ihren mit Zärtlichkeit gepaarten Mut eroberte, Wladimir zurückhielt. Aber diese Erklärung ist eindeutig unzureichend. Olga starb im Mai 1891, und Wladimir trennte sich von der Familie erst im August 1893, mehr als zwei Jahre später. Aus Rücksicht auf die Mutter konnte er die revolutionären Pflichten um Wochen oder Monate hinausschieben, solange die neue Wunde noch allzu frisch war, aber nicht um Jahre. In seinen Beziehungen zu den Menschen, die Mutter nicht ausgeschlossen, war nichts von passiver Sentimentalität. Sein Leben in Samara gab der Familie praktisch nichts. Wenn Wladimir genug Geduld aufbrachte, so lange dem großen Kampfplatz fernzubleiben, so nur deshalb, weil seine Lehrjahre noch nicht zu Ende waren.
Neben den grundlegenden Werken von Marx und Engels und den Schriften der deutschen Sozialdemokratie nahmen auf seinem Arbeitstisch die statistischen Jahrbücher einen immer größeren Raum ein. Es beginnen die ersten selbständigen Arbeiten zur Aufhellung der russischen Wirklichkeit. Aus Studienobjekten werden jetzt der historische Materialismus und die Arbeitswerttheorie für Wladimir zu Werkzeugen der politischen Orientierung. Er studiert Rußlands Kampfstatt und die Dislozierung der wichtigsten Streitkräfte auf dieser Kampfstatt.
Zur Bestimmung des wichtigsten Meilensteins in der Entwicklung Wladimir Uljanows besitzen wir eine absolut unschätzbare Aussage, vor der jedoch die offiziellen Biographen gewöhnlich die Augen verschließen, weil sie mit der Legende im Widerspruch steht. In einem Fragebogen der Partei aus dem Jahre 1921 vermerkt Lenin selbst als Beginn seiner revolutionären Arbeit: „1892 bis 1893. Samara. Illegale Zirkel der Sozialdemokratie.“ Aus dieser Angabe eines untadelig exakten Zeugen ergeben sich zwei Schlußfolgerungen: Wladimir hat an der politischen Arbeit der Narodowolzenzirkel nicht teilgenommen, sonst hätte er diese Periode in seinem Fragebogen erwähnt; Wladimir wurde erst 1892 endgültig Sozialdemokrat, sonst hätte er die sozialdemokratische Propaganda früher aufgenommen. Alle Streitigkeiten und Zweifel werden damit endgültig erledigt. Der Unparteilichkeit halber wollen wir darauf hinweisen, daß einer der sowjetischen Forscher, der seiner Stellung nach an der Spitze der Mausoleumsgeschichtsschreibung steht – wir meinen Adoradskij, den derzeitigen Direktor des Marx-Engels-Lenin-Instituts –, in der uns interessierenden Frage ungefähr zu demselben Schluß kommt wie wir. „Die letzten Jahre in Samara, 1892 bis 1893“, schreibt er mit aller notwendigen Vorsicht, „war Lenin schon Marxist, obwohl gewisse Überreste des Narodowolzentums noch erhalten blieben (die besondere Einstellung zum Terror).“ Nun können wir endgültig Abschied nehmen von der ergötzlichen Legende, wonach Wladimir sich im Mai 1887, an dem Tag, als er die Nachricht von der Hinrichtung Alexanders erhielt, „die Stirn rieb“ und den Terror verurteilte.
Die oben vermerkten Etappen der politischen Formierung des jungen Lenin finden eine vielleicht unerwartete, aber sehr lebendige Bestätigung in seiner Schachbiographie. Im Winter 1889/90 widmete sich Wladimir nach der Erzählung des jüngeren Bruders „mehr als irgendwann dem Schach“. Als relegierter Student, der an keiner einzigen Universität zugelassen war, als potentieller Revolutionär ohne Programm und ohne Anleitung, suchte er im Schach ein Ventil für den rastlosen Ansturm der inneren Kräfte. Die folgende anderthalbjährige Periode war angefüllt mit der Vorbereitung für die Prüfungen – das Schachspiel trat in den Hintergrund. Es nahm wieder einen bedeutenden Platz ein, als Wladimir nach Empfang des Diploms noch nicht recht wußte, welches Betätigungsfeld er wählen sollte, sich wenig mit den Gerichtsfällen beschäftigte, dafür aber in seinem Chef einen erstklassigen Partner gefunden hatte. Noch ein bis anderthalb Jahre der Vorbereitung – und der junge Marxist fühlt sich für den Kampf gerüstet. „Seit 1893 spielt Wladimir Iljitsch immer seltener und seltener Schach.“ Den Angaben Dmitrijs kann man in dieser Frage bedenkenlos Glauben schenken: selbst leidenschaftlicher Schachspieler, verfolgte er die wechselnde Schachbegeisterung des älteren Bruders mit aufmerksamen Augen.
In Kasan versuchte Wladimir, auf der Suche nach einem Auditorium, der älteren Schwester die ersten bei Marx gelesenen Gedanken mitzuteilen. Der Versuch erfuhr keine Weiterentwicklung, und Anna verlor bald die Spur der wissenschaftlichen Studien des Bruders. Wir wissen nicht, wann er den ersten Band des Kapital bewältigte. Auf jeden Fall nicht während des kurzen Aufenthaltes in Kasan. Lenin überraschte später durch seine Fähigkeit, rasch zu lesen und das Wesentliche gewissermaßen im Fluge zu erfassen. Aber diese Eigenschaft hatte er sich durch die Fähigkeit erworben, wenn nötig sehr langsam zu lesen. Er arbeitete wie ein gewissenhafter Maurer und begann auf jedem Gebiet damit, daß er ein solides Fundament legte. Sein ganzes Leben lang bewahrte er sich die Fähigkeit, ein wichtiges und wesentliches Buch oder Kapitel mehrere Male zu lesen. Wirklich schätzte er nur die Bücher, die man mehr als einmal lesen muß.
Leider hat niemand erzählt, wie Lenin die Schule Marxens absolvierte. Nur einzelne äußerliche Eindrücke haben sich erhalten, und auch die sind sehr dürftig. „Ganze Tage“, schreibt Jassnewa, „saß er über Marx, machte Konspekte, Auszüge, Notizen. Dann konnte man ihn nur schwer von der Arbeit losreißen.“ Seine Konspekte des Kapital sind uns nicht erhalten geblieben. Nur gestützt auf seine Arbeitshefte späterer Jahre kann man die Arbeit des jungen Athleten an Marx rekonstruieren. Schon seine Gymnasialaufsätze begann Wladimir unweigerlich mit einem durchgearbeiteten Plan, um ihn dann nach und nach mit Argumenten und Zitaten auszustatten. In dieser Arbeitsmethode kam jene Eigenschaft zum Ausdruck, die Ferdinand Lassalle treffend „physische Kraft des Denkens“ nannte. Auch das Studium beinhaltet, wenn es nicht mechanisches Büffeln ist, einen schöpferischen Akt, aber umgekehrter Art. Das Konspektieren des Buches eines anderen ist die Bloßlegung seines logischen Skeletts, das der Argumente, Illustrationen und Abschweifungen entkleidet wird. Wladimir bewegte sich auf seinem schweren Weg mit freudiger Intensität vorwärts, konspektierte jedes gelesene Kapitel, manchmal jede Seite, und überdachte und überprüfte dabei die logische Struktur, die dialektischen Übergänge, die Termini. Während er sich das Resultat aneignete, assimilierte er die Methode. Er schritt die Stufen eines fremden Systems empor, als errichtete er sie von neuem. Alles wurde fest und sicher gelagert in diesem wunderbar organisierten Kopf mit der mächtigen Kuppel des Schädels. An der russischen politökonomischen Terminologie, die er sich in der Samarer Periode angeeignet oder ausgearbeitet hatte, hielt Lenin sein ganzes übriges Leben lang fest. Und nicht nur aus Hartnäckigkeit – obwohl ihm intellektuelle Hartnäckigkeit im höchsten Maße eigen war –, sondern deshalb, weil er schon in frühen Jahren seine Wahl nach reiflicher Überlegung traf, nachdem er jeden Terminus von allen Seiten besehen und in seinem Bewußtsein mit einem ganzen Zyklus von Begriffen verbunden hatte. Der erste und der zweite Band des Kapital waren in Alakajewka und Samara die wesentlichsten Lehrbücher Wladimirs; der dritte Band war damals noch nicht herausgekommen: der alte Engels war eben erst dabei, die nachgelassenen Manuskripte von Marx zu ordnen. Wladimir studierte das Kapital so gründlich, daß er jedesmal, wenn er dieses Buch wieder zur Hand nahm, in ihm neue Gedanken entdeckte. Schon in der Samarer Periode hatte er, wie er sich später ausdrückte, gelernt, sich mit Marx zu „beraten“.
Angesichts der Bücher des Lehrers wichen Frechheit und Spottlust ganz von selbst aus diesem unersättlichen Geist, der zu höchstem Pathos der Anerkennung fähig war. Die Entwicklung der Marxschen Gedanken zu verfolgen, an sich selbst ihren unwiderstehlichen Ansturm zu erleben, in den eingeschalteten Sätzen oder Bemerkungen ganze Serien von zusätzlichen Schlußfolgerungen zu entdecken, sich jedesmal von der Treffsicherheit und Tiefe eines Sarkasmus zu überzeugen und sich vor dem gegen sich selbst rücksichtslosen Genius dankbar zu verneigen, das war für ihn nicht nur ein Bedürfnis, sondern ein Genuß. Marx hatte keinen besseren Leser, keinen, der aufmerksamer miterlebte, keinen besseren, keinen scharfsinnigeren, dankbareren Schüler.
„Der Marxismus war bei ihm nicht Überzeugung, sondern Religion“, schreibt Wodowosow, „bei ihm ... fühlte man einen Grad von Überzeugtheit, der ... mit wirklichem wissenschaftlichem Wissen unvereinbar ist.“ Wissenschaftlich ist nur die Soziologie, die das Recht des Philisters, zu schwanken, unangetastet läßt. Gewiß, Wodowosow gibt zu: Uljanow „interessierte sich sehr für Einwände gegen den Marxismus, studierte sie und dachte darüber nach“, aber das alles „nicht, um die Wahrheit zu suchen“, sondern nur, um in den Einwänden den Fehler zu entdecken, von dessen Vorhandensein er von vornherein überzeugt war. An dieser Charakteristik ist eines richtig: Uljanow hatte sich den Marxismus als Ergebnis der vorhergehenden Entwicklung des menschlichen Denkens zu eigen gemacht; er wollte von der erreichten höchsten Stufe nicht auf eine niedrigere herabsteigen; er verteidigte mit unbändiger Energie, was er durchdacht und täglich überprüft hatte; und er war mißtrauisch gegen die Versuche selbstzufriedener Hohlköpfe und belesener Mittelmäßigkeiten, den Marxismus durch eine andere, handlichere Theorie zu ersetzen.
Auf dem Gebiet der Technik oder der Medizin werden Rückständigkeiten, Dilettantismus und Hokuspokus mit Recht verachtet. Auf dem Gebiet der Soziologie geben sie sich durch die Bank als Freiheit des wissenschaftlichen Geistes. Für wen eine Theorie nur eine Spielerei des Verstandes ist, der kommt leicht von einer Offenbarung zur anderen, und noch öfter gibt er sich mit einem Potpourri aus allen Offenbarungen zufrieden. Unvergleichlich anspruchsvoller, strenger und solider ist der, für den die Theorie eine Anleitung zum Handeln ist. Ein Salonskeptiker kann sich über die Medizin ungestraft lustig machen. Der Chirurg kann in einer Atmosphäre wissenschaftlicher Ungewißheit nicht leben. Je notwendiger für den Revolutionär eine Theorie ist, auf die er sich bei seinem Handeln stützen kann, desto unversöhnlicher beschützt er sie. Wladimir Uljanow verachtete Dilettantismus und haßte Hokuspokus. Am höchsten schätzte er am Marxismus die disziplinierende Macht der Methode.
1893 erschienen die letzten Bücher von W. Woronzow (W.W.) und N. Danielson (Nikolaj-on). Beide Narodniki-Ökonomisten bewiesen mit beneidenswerter Hartnäckigkeit, daß eine bürgerliche Entwicklung in Rußland unmöglich sei, und das zur selben Zeit, da der russische Kapitalismus sich zu einem besonders stürmischen Aufschwung anschickte. Die damaligen, farblos gewordenen Narodniki haben die verspäteten Offenbarungen ihrer Theoretiker wohl kaum mit solcher Aufmerksamkeit gelesen wie der junge Samarer Marxist. Die Kenntnis der Gegner war für Uljanow nicht nur für die literarische Widerlegung notwendig. Er suchte vor allem die innere Überzeugung für den Kampf. Gewiß, er studierte die Wirklichkeit polemisch und richtete nunmehr alle Beweise gegen die überlebte Volkstümelei; aber niemandem lag reine Polemik so fern wie dem künftigen Verfasser von 27 Bänden polemischer Werke. Er hatte das Bedürfnis, das Leben zu kennen, wie es wirklich ist.
Je näher Wladimir an die Probleme der russischen Revolution heranging, desto mehr lernte er bei Plechanow und desto größer wurde seine Hochachtung für die von ihm geleistete kritische Arbeit. Die neuesten Fälscher der Geschichte des Bolschewismus sprechen von einer „Urzeugung des Marxismus auf russischem Boden, ohne direkten Einfluß einer ausländischen Gruppe und Plechanows“ (Pressnjakow) – man müßte hinzufügen: auch von Marx selbst, diesem Emigranten par excellence – und machen Lenin zum Begründer dieses daheim geborenen, wahrhaft russischen „Marxismus“, aus dem sich später die Theorie und Praxis des „Sozialismus in einem einzelnen Land“ entwickeln soll.
Die Lehre von einer Urzeugung des Marxismus als unmittelbare „Widerspiegelung“ der kapitalistischen Entwicklung Rußlands ist schon an und für sich die übelste Karikatur des Marxismus. Die wirtschaftlichen Prozesse spiegeln sich nicht im „reinen“ Bewußtsein in all seiner naturbelassenen Unwissenheit, sondern in einem historischen Bewußtsein, das bereichert ist durch alle Errungenschaften der menschlichen Vergangenheit. Der Klassenkampf der kapitalistischen Gesellschaft konnte Mitte des 19. Jahrhunderts nur deshalb zum Marxismus führen, weil er die dialektische Methode als Krönung der klassischen Philosophie in Deutschland, die politische Ökonomie von Adam Smith und David Ricardo in England, die revolutionäre und sozialistische Doktrin in Frankreich, die in der großen Revolution entstanden waren, bereits fertig vorfand. Der internationale Charakter des Marxismus ist somit schon in den Quellen seines Ursprunges begründet. Die Entwicklung des Kulakentums an der Wolga und der Metallurgie im Ural waren absolut unzureichend, um selbständig züm gleichen wissenschaftlichen Ergebnis zu kommen. Die „Gruppe der Befreiung der Arbeit“ ist nicht zufällig im Ausland entstanden: der russische Marxismus erblickte das Licht der Welt nicht als automatisches Produkt des russischen Kapitalismus wie der Rübenzucker und das gebleichte Baumwollzeug (wofür man übrigens ebenfalls die Maschinen einführen mußte), sondern in kompliziertem Zusammenspiel aller bisherigen Erfahrung des russischen revolutionären Kampfes und der im Westen entstandenen Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus. Die marxistische Generation der neunziger Jahre stand auf dem von Plechanow gelegten Fundament.
Um den historischen Beitrag Lenins richtig zu schätzen, ist es wirklich nicht notwendig, die Sache so darzustellen, als hätte er schon in jungen Jahren mit seinem Pflug jungfräuliches Neuland umackern müssen. „Verallgemeinernde Arbeiten“, schreibt nach Kamenjew und anderen auch Jelisarowa, „gab es fast nicht: Man mußte die ursprünglichen Quellen studieren und auf sie gestützt seine Schlußfolgerungen aufbauen. Diese große und noch nicht in Angriff genommene Arbeit nahm in Samara Wladimir Iljitsch auf sich.“ Nichts ist beleidigender für die wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit Lenins als die Ignorierung der Arbeit seiner Vorgänger und Lehrer. Es ist nicht wahr, daß Anfang der neunziger Jahre der russische Marxismus keine verallgemeinernden Arbeiten besaß. Die Publikationen der „Gruppe der Befreiung der Arbeit“ waren schon eine gedrängte Enzyklopädie der neuen Richtung. Nach sechs Jahren eines glänzenden und heroischen Kampfes gegen die Vorurteile der russischen Intelligenz verkündete Plechanow auf dem internationalen Sozialistenkongreß in Paris: „Die revolutionäre Bewegung in Rußland kann nur als revolutionäre Bewegung der Arbeiter triumphieren. Einen anderen Ausweg gibt es bei uns nicht und kann es nicht geben.“ Diese Worte enthielten die wichtigste Verallgemeinerung der ganzen vorhergehenden Epoche, und aus dieser „Emigranten“-Verallgemeinerung lernte Wladimir Uljanow an der Wolga.
Wodowosow erinnert sich: „Über Plechanow sprach Lenin mit tiefer Sympathie, vor allem über Unsere Meinangsverschiedenheiten.“ Diese Sympathie mußte sehr deutlich zum Ausdruck gekommen sein, wenn Wodowosow sie mehr als dreißig Jahre im Gedächtnis bewahren konnte. Die größte Stärke von Unsere Meinungsverschiedenheiten besteht darin, daß die Fragen der revolutionären Politik in diesem Buch in untrennbarem Zusammenhang mit der materialistischen Geschichtsauffassung und mit der Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung Rußlands behandelt werden. Die ersten Stellungnahmen Uljanows in Samara gegen die Narodniki stehen somit in inniger Verbindung mit seiner begeisterten Äußerung über die Arbeit des Begründers der russischen Sozialdemokratie. Nach Marx und Engels war Wladimir mehr als allen anderen Plechanow verpflichtet.
Ende 1922 schrieb Lenin nebenbei über den Beginn der neunziger Jahre: „Der Marxismus begann sich als Richtung auszubreiten, indem er der beträchtlich früher in Westeuropa von der „Gruppe der Befreiung der Arbeit“ verkündeten sozialdemokratischen Richtung entgegenkam.“ Diese Zeilen, die die Entwicklungsgeschichte einer ganzen Generation resümieren, enthalten ein Stückchen Autobiographie von Lenin selbst: nachdem er mit der marxistischen Richtung als ökonomische und historische Doktrin begonnen hatte, wurde er unter dem Einfluß der Ideen der „Gruppe der Befreiung der Arbeit“, die in hohem Maße die Entwicklung der russischen Intelligenz bestimmte, Sozialdemokrat. Nur Arme im Geiste können sich einbilden, daß sie Lenin dadurch ehren, daß sie seinem leiblichen Vater, dem Wirklichen Staatsrat Uljanow, revolutionäre Anschauungen zuschreiben, die er niemals hegte, und gleichzeitig die revolutionäre Rolle des Emigranten Plechanow verschweigen, den Lenin selbst als seinen geistigen Vater betrachtete.
In Kasan, in Samara, in Alakajewka fühlte sich Wladimir vor allem als Schüler. Aber ebenso wie der Pinsel großer Künstler schon in deren Jugend die eigene Handschrift erkennen läßt, selbst wenn sie die Bilder alter Meister kopieren, so entfaltete Wiadimir Uljanow als Schüler eine solche Kraft des Forschens und der Initiative, daß es schwerfällt, den Grenzstrich zu ziehen zwischen der Bewältigung des Fremden und dem, was er selbständig erarbeitete. Im letzten Jahr seiner Vorbereitung in Samara verschwindet diese Grenze endgültig: der Schüler wird zum Forscher.
Der Streit mit den Narodniki erstreckte sich natürlich auch auf die Einschätzung der konkreten Prozesse: entwickelt sich der Kapitalismus in Rußland weiter oder nicht? Die Tabellen der Fabrikschornsteine und der Industriearbeiter erhielten eine tendenziöse Bedeutung, ebenso wie die Tabellen der Klassenscheidung innerhalb der Bauernschaft. So wurde die Wirtschaftsstatistik zur Wissenschaft der Wissenschaften. Die Zahlenkolonnen bargen den Schlüssel zur Enträtselung des Schicksals Rußlands, seiner Intelligenz und seiner Revolution. Die von den Militärbehörden periodisch durchgeführten Pferdezählungen waren dazu berufen, Antwort zu geben auf die Frage, wer stärker ist: Marx oder die russische Dorfgemeinschaft.
Das statistische Material der ersten Arbeiten Plechanows konnte nicht sehr reichlich sein: die Semstwo-Statistik, die einzige, die für das Studium der Ökonomie des Dorfes von Wert war, entwickelte sich erst im Laufe der achtziger Jahre; überdies waren ihre Publikationen für einen in diesen Jahren fast restlos von Rußland abgeschnittenen Emigranten schwer zugänglich. Dennoch wurde die allgemeine Richtung der wissenschaftlichen Bearbeitung der statistischen Daten von Plechanow vollkommen richtig gewiesen. Die ersten Statistiker der neuen Schule beschritten seinen Weg. Der amerikanische Professor I.A. Gurwitsch, der aus Rußland stammte, veröffentlichte 1888 und 1892 zwei Untersuchungen über das russische Dorf, die Wladimir Uljanow sehr schätzte und von denen er lernte. Er selbst ließ niemals eine Gelegenheit vorübergehen, um seiner Dankbarkeit für die Arbeit seiner Vorgänger Ausdruck zu verleihen.
In den letzten ein bis anderthalb Jahren seines Lebens in Samara hatten die statistischen Jahrbücher einen Ehrenplatz auf seinem Arbeitstisch. Seine große Arbeit über die Entwicklung des russischen Kapitalismus erschien erst 1899. Aber es ging ihr eine beträchtliche Anzahl von vorbereitenden theoretischen und statistischen Studien voraus, an denen er schon in Samara zu arbeiten begonnen hatte. Schon allein aus den Eintragungen der Samarer Bibliothek aus dem Jahr 1893, die zufällig erhalten geblieben sind, kann man ersehen, daß Wladimir keine einzigt für sein Thema einschlägige Arbeit außer acht ließ, seien es nun die offiziellen statistischen Jahrbücher oder die ökonomischen Untersuchungen der Narodniki. Die meisten Bücher und Artikel konspektierte er, über die wichtigsten referiert er seinen Genossen.
Die erste uns erhalten gebliebene literarische Arbeit Wladimir Uljanows, die er in den letzten Monaten seines Aufenthalts in Samara schrieb, resümiert das kurz vorher erschienene Buch des ehemaligen Staatsbeamten Postnikow über die Bauernwirtschaft in Südrußland. Der der statistischen Illustration der Klassenscheidung innerhalb der Bauernschaft und der Proletarisierung ihrer schwächsten Schichten gewidmete Artikel – dieser Prozeß war im Süden Rußlands besonders weit fortgeschritten –, zeigt die glänzende Fähigkeit des jungen Autors, mit statistischen Daten umzugehen und hinter den Details das Bild des Ganzen zu sehen. Die legale Zeitschrift, für die die vorsichtige und trocken geschriebene Arbeit bestimmt war, lehnte sie – vermutlich wegen ihrer marxistischen Tendenz – ab, obwohl sich der Autor jeder offenen Polemik gegen die Narodniki enthielt. Eine Kopie des Artikels, die Wladimir dem Studenten Mitzkjewitsch gegeben hatte, wurde diesem bei einer Haussuchung weggenommen und in den Archiven der Gendarmerie aufbewahrt, wo sie 1923 entdeckt und dreißig Jahre nach ihrer Niederschrift gedruckt wurde. Diese Arbeit steht jetzt auch am Anfang der gesammelten Werke Lenins.
Schickte er sich nunmehr an, Schriftsteller zu werden und die Advokatur aufzugeben? Die Schriftstellerei erschien ihm wohl kaum als selbständiges Lebensziel. Gewiß, er war ein überzeugter „Doktrinär“, das heißt, er verstand schon in jungen Jahren, daß man – ebenso wie man die Gestirne nicht ohne Teleskop beobachten kann und die Bakterien nicht ohne Mikroskop – das gesellschaftliche Leben durch das Glas der Doktrin zu betrachten verstehen muß. Aber anderseits verstand er es auch, die Doktrin durch die Splitter der Wirklichkeit zu betrachten. Er verstand es, zu beobachten, auszufragen, zuzuhören, sich das Leben und die lebenden Menschen anzusehen. Und er vollbrachte diese komplizierte Arbeit ebenso natürlich, wie er atmete. Vielleicht geschah es noch nicht ganz bewußt – aber er bildete sich nicht zum Theoretiker aus, nicht zum Schriftsteller, sondern zum Führer.
Angefangen mit Kasan ging er in die Schule von Revolutionären der älteren Generation, die unter Polizeiaufsicht standen oder aus der Verbannung zurückgekehrt waren. Unter ihnen gab es nicht wenige beschränkte Leute, die in ihrer Entwicklung steckengeblieben waren und nicht allzu tiefgründig philosophierten. Aber sie hatten das gesehen, gehört, erlebt, was die junge Generation nicht kannte, und das machte sie auf ihre Art bemerkenswert. Die Jakobinerin Jassnewa, die um neun Jahre älter war als Wladimir, schreibt: „Ich weiß noch, ich wunderte mich, mit welcher Aufmerksamkeit und wie ernst Wladimir Iljitsch den anspruchslosen und manchmal auch absonderlichen Erinnerungen von W.J. Witten lauschte“, einer alten Narodowolzin, der Frau Liwanows. Andere, die an der Oberfläche blieben, bemerkten nur das Absonderliche, aber Wladimir holte sich unter der Schale den Kern. Er führte gewissermaßen gleichzeitig zwei Gespräche: ein offenes, das nicht nur von ihm abhing, sondern auch vom Gesprächspartner, und das notwendigerweise auch viel Überflüssiges enthielt; und ein anderes, geheimes, das viel bemerkenswerter war und das er allein beherrschte. Die Pupillen in den schräggestellten Augen funkelten und spiegelten das eine wie das andere wider.
Gewissermaßen das Gegenteil von Jassnewa erzählt Semjonow: „Wladimir Iljitsch war mit den Liwanows bekannt, aber er ging nicht zu ihren Versammlungen und hörte sich mit großer Aufmerksamkeit unsere Erzählungen über das Gequatsch der Alten an.“ Der scheinbare Widerspruch rührt daher, daß die Erzählung Semjonows sich auf eine ungefähr um ein Jahr spätere Zeit bezieht. Wladimir besuchte die Alten, solange man bei ihnen etwas lernen konnte. Endlose Streitereien, bei denen man immer wieder dieselben Argumente wiederholt und sich ärgert, entsprachen nicht seinem Charakter. Wenn er spürte, daß das Kapitel der persönlichen Beziehungen zu Ende war, machte er entschlossen einen Punkt. Ein solches Vorgehen erforderte Selbstbeherrschung, viel Selbstbeherrschung; Wladimir mangelte es nicht daran. Aber wenn er auch aufhörte, Liwanow zu besuchen, so hörte er doch nicht auf, sich dafür zu interessieren, was sich im gegnerischen Lager tut: der Krieg verlangt Erkundung, und Wladimir führte bereits Krieg mit den Volkstümlern. Mit großem Interesse hörte er sich die Erzählungen oder, richtiger, die Rapporte seiner Gesinnungsgenossen an, die mit der eigenen Zeit weniger sparsam umgingen. Der Zweiundzwanzigjährige offenbart uns hier, auf dem Gebiet der persönlichen Beziehungen, bereits jene Züge seiner geschmeidigen Manövrierfähigkeit, die wir später in seinem ganzen politischen Leben beobachten können.
Nicht minder bemerkenswert für das geistige Bild des jungen Lenin ist das weite Gesichtsfeld seiner Beobachtungen. Die radikalen Intellektuellen lebten in ihrer überwältigenden Mehrheit ein Zirkelleben, und jenseits des Zirkels begann für sie eine fremde Welt. Wladimir hatte keine Scheuklappen. Seine Interessen waren äußerst extensiv; gleichzeitig bewahrte er sich die Fähigkeit höchster Konzentration. Er studierte die Wirklichkeit überall, wo er sie antraf. Jetzt wendete er seine Aufmerksamkeit von den Volkstümlern ab und dem Volke zu. Das Samarer Gouvernement war durchwegs bäuerlich. Fünfmal verbrachte Uljanow die Sommersaison in Alakajewka. Die Propaganda unter den Bauern hätte Wladimir nicht aufgenommen, auch dann nicht, wenn ihn die Lage eines unter Polizeiaufsicht Stehenden in weltferner Steppe nicht paralysiert hätte. Um so aufmerksamer sah er sich das Dorf an, um die theoretischen Ergebnisse am lebendigen Material zu überprüfen.
Seine persönlichen Beziehungen zu den Armbauern waren – nach dem kurzen landwirtschaftlichen Experiment – allerdings episodisch und unzureichend; aber er verstand es, die Aufmerksamkeit der Freunde in die nötige Richtung zu lenken und die fremden Beobachtungen auszuwerten. Der ihm nahestehende Skljarenko war Schriftführer beim Friedensrichter Samoilow, der bis zum Auftauchen der Landeshauptleute ganz und gar aufging in den Rechtsstreitigkeiten der Armbauern. Jelisarow stammte von Samarer Bauern ab und hielt die Verbindung mit den Dorfgenossen aufrecht. Skljarenko einem Verhör unterziehen, den Friedensrichter selbst aushorchen, mit dem Schwager in sein Heimatdorf Bestushewka fahren, stundenlang mit dem älteren Bruder Jelisarows, einem listigen und selbstzufriedenen Kulaken, sprechen – welch unerschöpfliches Lehrbuch der politischen Ökonomie und der Sozialpsychologie!; Wladimir erhaschte flugs ein fallengelassenes Wörtchen, verstand es listig, den Erzähler zum Weitersprechen zu animieren, hörte ihm aufmerksam zu, durchbohrte ihn mit den Blicken, lächelte, lachte manchmal wie der Vater kurz und stoßweise, mit zurückgeworfenem Kopf. Dem Kulaken schmeichelte es, sich mit einer gebildeten Persönlichkeit, einem jungen Advokaten, mit dem Sohn einer Exzellenz, über seine Angelegenheiten zu unterhalten, wenn ihm vielleicht auch nicht immer klar war, worüber dieser fröhliche Gesprächspartner lachte.
Wladimir hatte offenbar vom Vater die Fähigkeit geerbt, sich leicht mit Menschen verschiedener sozialer Kategorien und mit verschiedenem Niveau zu unterhalten. Ohne daß er sich langweilte oder sich Gewalt antun mußte und oft ohne vorgefaßtes Ziel, mit unbezähmbarer Neugier und einem fast untrüglichen Instinkt, verstand er es, aus jedem zufälligen Gesprächspartner das herauszuholen, was er selbst brauchte. Daher hörte er so fröhlich zu, wo die anderen sich langweilten, und keiner in seiner Umgebung erriet, daß hinter dem schnarrenden Geplauder eine große unterbewußte Arbeit steckte. Eindrücke wurden gesammelt und sortiert, die Speicher des Gedächtnisses füllten sich mit unschätzbarem Material, die kleinen Tatsachen dienten zur Überprüfung großer Verallgemeinerungen. So verschwanden die Schranken zwischen dem Buch und dem Leben, und Wladimir begann schon damals, den Marxismus zu verwenden, wie der Zimmermann Säge und Axt.
Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008