Leo Trotzki

 

Der junge Lenin


Der 1. März 1887

Obwohl die im Jahre 1884 eingeführte Universitätsordnung Studentenorganisationen jeglicher Art verbot, bestanden in der Hauptstadt nach wie vor etwa 20 Landsmannschaften mit nahezu 1.500 Mitgliedern. Die Landsmannschaften waren völlig harmlose Gemeinschaften und betrieben Speisehäuser und Selbsthilfekassen. Bei der Armut der großen Mehrheit der studierenden Jugend waren derartige Organisationen lebensnotwendig. Aber die Regierung fürchtete sie nicht ganz ohne Grund: Die Revolutionäre benützten alle Organisationen, um Anhänger zu werben, und in Augenblicken des politischen Erwachens mobilisierte die friedlichste Landsmannschaft die Jugend zum Kampf. Doch seit der Zerschlagung der „Narodnaja Wolja“ galt Petersburg als vollständig gesäubert von Revolutionären; die wenigen verschont gebliebenen verbargen sich in der Provinz. Die Stimmung der Studentschaft schien den Behörden so ruhig, daß sie bei den Landsmannschaften durch die Finger schauten. Die überwältigende Mehrheit der Studenten hatte sich tatsächlich von der Politik abgekehrt. Vor dem Grau des universitären Hintergrundes zeichnete sich deutlich die Schicht der jungen Karrieristen, der künftigen Beamten ab, die schon durch Kleidung und Haartracht das gerade Gegenteil des Nihilistentyps waren. Die immer hungrige und von der Polizei niedergehaltene Jugend war nach wie vor unzufrieden, trat aber nicht heraus aus ihrer mißmutigen Passivität.

In der allgemeinen Welle der Depression gab es jedoch noch mitunter das Branden von Ebbe und Flut, hauptsächlich im schmalen Strombett dieser Studentenschaft. Erst im dritten Studienjahr wurde Alexander in Studentenzirkel hineingezogen: in biologische, volkswirtschaftliche und literaturwissenschaftliche. Aber auch hier handelte es sich noch um die Erarbeitung von wissenschaftlichen Ansichten und nicht um aktive Politik. Auf diesem Boden kam er in engere Beziehungen mit radikalen Elementen der Landsmannschaft. Alexander verwendete nun mehr Zeit auf das Studium sozialer Fragen. In den Zirkel tauchte die Idee auf, das fünfundzwanzigjährige Jubiläum der Bauernreform (19. Februar 1861) mit einer Seelenmesse für die Urheber der „Bauernbefreiung“ auf dem Friedhof von Wolkowo zu feiern. Welche Umwertung der Reputation! Der große Publizist Tschernyschewskij haßte die Bauernreform als Raub und Betrug und bezahlte teuer für seine nüchterne und kühne Anschauung, die zur Grundlage der revolutionären Bewegung der nächsten zwanzig Jahre wurde. Auf die Frage Alexanders II.: „Weshalb hast du auf mich geschossen?“, antwortete Karakosow, der sich schon in den Händen der Polizei befand: „Deshalb, weil du den Bauern Freiheit und Boden versprochen und sie betrogen hast.“ Nicht anders werteten auch Hippolyt Myschkin und seine Genossen und die Narodowolzen den „19. Februar“. Doch mit dem wachsenden Druck der Reaktion begannen die „großen Reformen“ des vorhergehenden Zaren, die von der liberalen Presse gepriesen wurden, auch der studierenden Jugend in einem günstigeren Licht zu erscheinen. Hinter dem gewichtigen Rücken Alexanders III. gewann die Gestalt Alexanders II. fast liberale Züge. Der Jahrestag der Bauernreform bekam nach und nach revolutionären Charakter, und seine Feier wurde von der Polizei verboten. Die Presse wurde diesmal im vorhinein angewiesen, keine Jubiläumsartikel zu veröffentlichen. Eine Totenmesse für die offiziellen Urheber der Reform war somit schon ein Protestakt. Der Friedhofspope erklärte sich nicht ohne Bangen bereit, die Seelenmesse für die Befreier zu lesen, das heißt unter anderem auch für Alexander II., der sechs Jahre vorher von den älteren Brüdern der Teilnehmer an der Totenmesse ermordet worden war. An dieser politischen Akzentverschiebung können wir besser als an allen polizeilichen Verfolgungen erkennen, wie tiefgehend die gesellschaftliche Reaktion war. Gewiß, ein Teil der Demonstranten bezog die Totenmesse nicht auf die Bürokraten, sondern auf jene Schriftsteller, die für die Befreiung der Bauern gestritten hatten. Aber es gab keine Klarheit, die Grenzlinien verschwammen.

Der Friedhof von Wolkowo wird der erste Schauplatz der öffentlichen Betätigung Alexander Uljanows; an der Vorbereitung der Totenmesse nahm er aktiv teil. Die liberalen Kreise, an die sich die Initiatoren wandten, ließen, wie zu erwarten war, überhaupt nichts von sich hören. Es kamen nur Studenten, ungefähr vierhundert. Die Polizei entschloß sich offenbar nicht dazu, das oppositionelle Beten zu stören, vielleicht hatte sie es auch verschlafen. Doch die Jugend ging beinahe mit dem Gefühl eines errungenen Sieges auseinander. Die Entschlossensten zogen den Schluß, daß man diesen Weg auch weiterhin. beschreiten könne.

Die Führer der Studentenschaft schlossen sich enger zusammen und gründeten in den nächsten Monaten einen Verband der Landsmannschaften. Seiner zentralen Leitung gehörte auch Uljanow an. Aber die Tätigkeit des Verbandes, die an und für sich sehr bescheiden war, wurde bald durch die Ferien unterbrochen, die letzten, die Alexander an der Wolga verbrachte, bei der Familie, die schon den Vater verloren hatte. Im Herbst begann die Aktivität der Zirkel und Landsmannschaften wiederaufzuleben. Die Anführer – ein und dieselben da und dort – verfielen auf die Idee, den nahenden fünfundzwanzigsten Todestag des berühmten Kritikers Dobroljubow, eines Schülers und Mitkämpfers von Tschernyschewskij, zum Anlaß für die Veranstaltung einer neuen Totenmesse zu nehmen. Diesmal kamen sechshundert, nach anderen Angaben tausend Menschen. Die Tore des Friedhofs von Wolkow waren jedoch geschlossen: Die Polizei hatte sich diesmal nicht überrumpeln lassen. Die Bitte einer Deputation, die Totenmesse zu gestatten, wurde von Stadthauptmann Gresser abschlägig beschieden. Als die Studenten in die Stadt zurückkehrten, wurden sie von Kosaken umzingelt, die sie zwei Stunden lang im Regen anhielten. Dann wurden vierzig Teilnehmer aus Petersburg ausgewiesen. Das an und für sich geringfügige Ereignis erschütterte und verwandelte im vollsten Sinne des Wortes die Initiatoren der Kundgebung, vor allem Alexander Uljanow. Das war seine eigene, persönliche Erfahrung, und diese konzentrierte alle seine bisherigen Beobachtungen und Buchweisheiten zum brennenden Bedürfnis nach Aktion. Wie den Vergewaltigern antworten? Es gab endlose Beratungen und auch kühne Pläne, zu deren Durchführung nur die Kraft fehlte. Es wurde eine Proklamation An die Gesellschaft verfaßt, das heißt an die Professoren, die bürgerlichen Gutsbesitzer, Advokaten und Schriftsteller. Der größte Teil der Kuverts mit dem Aufruf wurde jedoch von der Polizei aus den Briefkästen geholt, so daß er nicht einmal den friedlichen Schlummer der Liberalen störte. Die Erregung in der Studentenschaft legte sich nach und nach. Aber in den heißen Tagen hatte sich eine Gruppe der Entschlossensten abgesondert, die aus der eigenen Entrüstung und der politischen Machtlosigkeit den schon von der Vergangenheit geheiligten Schluß zog: Terror! Uljanow versuchte noch einige Zeit, seinen alten Standpunkt zu vertreten: man darf an die Sache der Revolution nicht herangehen, bevor man richtige Anschauungen erarbeitet hat. Man antwortete ihm: Während du bei den Büchern sitzt, verstärkt sich die Gewalt und triumphiert. Das Argument wirkte um so überzeugender, als Alexander nicht länger Widerstand leisten wollte. Ein Zurück gab es für ihn nicht mehr. Als einer der Hauptorganisatoren der Demonstration, für die andere leiden mußten, als Autor der Proklamation An die Gesellschaft, auf die niemand reagierte, stand Alexander schon unter dem Imperativ des Terrors. Nach kurzem Streit in engem Kreis schloß er sich endgültig der kleinen Gruppe der terroristischen Richtung an. Zwei, drei der Verschwörer verfügten über etwas Erfahrung und bescheidene Verbindungen. So kam es zur Aktion vom 1. März 1887.

Die letzte Zeit seines Lebens teilte Alexander zwischen dem Laboratorium der Universität, wo er Idothea entomon, die baltische Klappenassel, erforschte, und dem geheimen Verschwörerlaboratonum, wo er magnesiales Dynamit herstellte. Bereit, sein Leben einzusetzen für die künftigen Geschicke der Menschheit, setzte er mit leidenschaftlichem Wissensdurst die Untersuchung des Sehvermögens der Asseln fort. Die Wissenschaft hielt ihn fest in ihren Armen, und er riß sich nur schwer los von ihr – wie ein Krieger von seiner Geliebten am Vorabend des ersten und letzten Kampfes. Nicht weniger charakteristisch für diesen jungen Mann ist! daß er noch in den letzten Tagen vor dem Anschlag, bereits in übermenschlicher Erregung, die Seelenstärke fand, mit unbeholfener Hand ein von ihm selbst verfaßtes Programm der „terroristischen Fraktion“ in Druck zu setzen.

Von der Totenmesse für die Urheber der Bauernreform zur Totenmesse für einen früh verstorbenen radikalen Schriftstel1er; und von dieser Totenmesse, die nicht stattfand, zur Vorbereitung des Zarenmordes – das ist der Weg, den die am Attentat Beteiligten im Verlauf von einigen Monaten zurücklegten. Später stellte, der Hauptverteidiger vor dem Gericht die Genesis der Verschwörung recht wahrheitsgetreu dar: „Diese Leute“, sagte er, „waren doch nicht immer Terroristen; im August 1336 waren sie einfach „Unzufriedene“; im November, nach der mißglückten Totenmesse am Grabe Dobroljubows, waren sie „Protestanten“, und erst im Januar reifte bei ihnen die terroristische Richtung heran...“ Der liberale Advokat fügte nicht hinzu, daß der Sprung von der Totenmesse zur Bombe nur deshalb möglich war, weil sich unter dem schweren Deckel der Herrschaft des neuen Zaren in den demokratischen Schichten der Intelligenz, gar nicht zu reden vom Volk, nicht wenig dumpfe Unzufriedenheit angesammelt hatte. Wie dem auch sei: Das tollkühne Unternehmen eines isolierten Zirkels war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wenn die revolutionäre Offensive der Jahre 1860 bis 1866, von der ersten Proklamation bis zum Schuß Karakosows, in der inneren Folgerichtigkeit ihrer Etappen gewissermaßen der Rohentwurf der großen Bewegung der Intelligenz der Jahre 1873 bis 1881 war, dann war die Episode der Jahre 1886 bis 1887 ihr verspäteter und verhallender Ausklang.

Am 1. März zu Mittag wurden auf dem Newskiprospekt von Polizeibeamten sechs junge Leute angehalten. Einer von ihnen hatte ein dickes Buch bei sich, dessen Einband in erhabenen Buchstaben die Worte Medizinisches Wörterbuch trug. In Wirklichkeit handelte es sich um die politische Medizin des Terrors: Das angebliche Wörterbuch enthielt Dynamit und Kugeln mit Strychnin. Zwei weitere Sprengkörper von zylindrischer Form befanden sich in Händen der anderen Terroristen. Die Sprengkörper waren für Alexander III. bestimmt. Nun setzte eine unerhörte Welle von Haussuchungen und Verhaftungen ein. Die am Anschlag auf den allmächtigen Beherrscher Rußlands Beteiligten waren durch die Bank junge Studenten; nur einer der als Bombenwerfer Ausersehenen war bereits sechsundzwanzig Jahre alt; einer der Organisatoren dreiundzwanzig; die übrigen fünf unmittelbar Beteiligten waren zwischen zwanzig und einundzwanzig. Die Herstellung der Sprengkörper oblag in erster Linie einem Studenten der Naturwissenschaften, dem noch drei Monate zur Volljährigkeit fehlten. Der Name des Konstrukteurs war Alexander Uljanow, jetzt kam ihm seine Beschäftigung mit Chemie in der Küche des Nebengebäudes in Simbirsk zustatten. Initiator des Unternehmens war der kranke dreiundzwanzigjährige Student Schewyrjow. Er wählte die Leute aus und teilte ihnen die Arbeit zu. Seine eigene revolutionäre Erfahrung war nicht groß und konnte es auch nicht sein. Zwischen dem übereiligen Sanguiniker Schewyrjow und dem nachdenklichen Uljanow kam es wiederholt zum Streit wegen der Heranziehung von nicht genügend erprobten Leuten. Aber die Auswahl war nicht groß. Zwei zufällig in die Verschwörung hineingezogene Studenten verrieten dann Uljanow. Die Organisation verfügte über lächerlich geringe technische und finanzielle Mittel. Um Salpetersäure und hundertfünfzig Rubel zur Deckung von Auslagen zu bekommen, mußte jemand nach Wilna fahren; aber die Säure erwies sich als zu schwach, und das Geld kam auch nicht gleich. Um einem der Organisatoren das Geld für die Flucht ins Ausland geben zu können, verpfändete Uljanow seine goldene Gymnasiumsmedaille gegen hundert Rubel. Eine dem Bombenwerfer Generalow gelieferte Pistole, die es ihm ermöglichen sollte, sich bei der Flucht freizuschießen, erwies sich als unbrauchbar. Nicht besser stand es mit den konspirativen Methoden. Das ganze Unternehmen hing an einem Faden.

Selbst bei der Vorbereitung des 1. März 1881, als unvergleichlich abgebrühtere Revolutionäre in Aktion traten, ging die schreckliche Anspannung, je näher die Schicksalsstunde heranrückte, immer mehr in Müdigkeit und Apathie über. Ist es denkbar, daß nicht auch am Herzen Uljanows und der anderen jungen Verschwörer Zweifel nagten? Es tauchten Gerüchte auf, daß die Regierung von den Attentatsvorbereitungen bereits erfahren hatte. Irgendeiner aus der Gruppe schlug vor, die Sache auf den Herbst zu verschieben. Aber das war mit neuen Gefahren verbunden. Nach einigen Berichten sah Alexander angeblich das Fehlschlagen des Attentats voraus. Am wahrscheinlichsten ist, daß die Stimmung des Häufleins der Todgeweihten heftig zwischen Optimismus und Hoffnungslosigkeit schwankte. Aber der Wille überwand den Zweifel. Die Sprengkörper wurden hergestellt, die Rollen zugewiesen, die Posten eingeteilt – es blieb nur mehr, zu töten und, auf jeden Fall, zugrunde zu gehen.

Tatsächlich hatte die Regierung keinerlei Verdacht geschöpft. Einige Jahre der Ruhe hatten die Polizei entwöhnt, an Terror zu denken. Ohne Provokation war die Polizei bei der Aufdeckung von Komplotten hilflos. Unter den jungen Verschwörern gab es aber keinen Provokateur. Sie brachten es jedoch zustande, sich selbst zu verraten: durch die Jugend, die Naivität, den Leichtsinn eines der Ihren. Erst nach der Revolution, als die Archive der Polizei geöffnet wurden, gelang es, die Ursache des Mißerfolges aufzuklären. Der Student Andrejuschkin, der als einer der Bombenwerfer ausersehen war, schrieb, anderthalb Monate bevor eg losgehen sollte, einem befreundeten Studenten in Charkow einen Brief, der eine Art Hymne auf den Terror enthielt. Der Brief, dessen Unterschrift unleserlich war, wurde perlustriert. Der Charkower Adressat wurde auf die Polizei gerufen und verriet seinen Petersburger Korrespondenten. Der Schriftwechsel der Polizeiinstanzen zog sich lange hin; in Charkow sah man keine besonderen Gründe, sich zu beeilen. Schließlich erhielt die Petersburger Polizei den Namen und die Adresse des Briefschreibers und stellte ihn unter Beobachtung: das geschah am 28. Februar, gerade am Vorabend des beabsichtigten Attentats. Andrejuschkin und andere wurden auf dem Newskiprospekt von zwölf bis fünf Uhr nachmittags mit irgendwelchen schweren Gegenständen beobachtet. Der Polizei kam es gar nicht in den Sinn, daß es sich um Bomben handeln könnte. Sie suchten den Verfasser des verdächtigen Briefes, das war alles. Am nächsten Tag wurden „dieselben Personen, sechs an der Zahl, wieder unter denselben Umständen auf dem Newski beobachtet“. Erst jetzt wurden sie verhaftet. Die Überraschung kannte keine Grenzen, als man auf eine Gruppe von Terroristen stieß. Von der Entdeckung wurde selbstverständlich sofort Alexander III. verständigt. Der Zar schrieb auf den Bericht: „Diesmal hat uns Gott gerettet, aber auf lange?“ Der Zar, der der göttlichen Hilfe nicht vertraute, fügte ein Lob für die Wachmannschaften hinzu: „Dank allen Beamten und Agenten der Polizei, daß sie nicht schlafen und erfolgreich arbeiten.“ In der Tat hatten die Beamten und Agenten der Polizei den Dank wohl kaum verdient: ein glücklicher Zufall war ihnen zu Hilfe gekommen. Man weiß übrigens nicht, wie der Anschlag ohne die Einmischung der Polizei und des Zufalls geendet hätte. Die Qualität der Bomben blieb bis zuletzt ungeklärt. Als der Bombenwerfer Ossipanow, bei dessen Verhaftung auf der Straße man nicht einmal daran gedacht hatte, ihm die Bombe abzunehmen, in der Wachstube seinen Sprengkörper warf, um sich zusammen mit der Bewachung zu liquidieren, explodierte der Sprengkörper nicht. Es besteht kein Grund zu der Annahme, daß die übrigen Sprengkörper besser waren. Ein Artilleriegeneral befand als Experte „die Konstruktion der Sprengkörper als mangelhaft“. Alles war mangelhaft bei diesem tragischen Unternehmen: die Ideen, die personelle Zusammensetzung, die Konspiration, die Technik der Bomben.

Die gesellschaftliche Stellung der Angeklagten charakterisierte der Staatsanwalt so: neun Studenten, ein Kandidat der geistlichen Akademie, ein Apothekerlehrling, ein Kleinbürger, zwei Hebammen, eine Volksschullehrerin. Die Anklagebank war das Spiegelbild der untersten, demokratischsten Schichten der Intelligenz, die außerdem ausschließlich durch die jüngere Generation vertreten war. „Nicht alle Angeklagten haben die staatsbürgerliche Volljährigkeit erreicht“, mußte der Staatsanwalt zugeben; das hinderte ihn nicht daran, sie alle hinreichend gereift für den Strick zu erachten. Die liberalen Advokaten unterschieden sich im Ton ihrer Reden nicht sehr vom Staatsanwalt. Als „wahrhaft russische Menschen“ konnten sie nicht glauben, daß eine solche Übeltat von der russischen Jugend ausging; hinter ihrem Rücken suchten sie „ausländische Mißachtung des russischen Heiligtums“. Die Mehrheit der Angeklagten verstand es hei der Untersuchung und vor Gericht nicht, sich richtig zu verhalten. Es fanden sich Kleinmütige, die verrieten. Aber auch die Tapferen redeten mehr als nötig und halfen der Anklage – gegen sich selbst und gegen die anderen. Unter den Angeklagten befand sich auch Bronislaw Pilsudski, der Sohn eines reichen Gutsbesitzers, der Uljanow seine Studentenwohnung für das Drucken des Programms zur Verfügung gestellt hatte. Der leibliche Bruder Bronislaws, Josef Pilsudski, wurde aus dem Gefängnis als Zeuge vorgeführt. Bronislaw hielt sich erbärmlich, verleugnete seine Sympathie für die „Narodnaja Wolja“ berief sich auf seinen schwachen Charakter und seinen Leichtsinn. Josef machte seine Zeugenaussage mit großer Vorsicht gab aber zu, daß er aus Wilna ein Telegramm in „verschlüsseltem revolutionärem Jargon“ geschickt hatte. In der Folge vertauschte Josef Pilsudski als Diktator Polens den „revolutionären Jargon“ gegen den faschistischen.

Der Gerichtsprozeß ließ keinen Zweifel daran, daß Alexander Uljanow, wenn er auch nicht die allgemeine Leitung hatte, doch die bedeutendste Gestalt der Verschwörung war. Und in den schwierigsten Tagen, als der Initiator und der Organisator, entsprechend dem vorher festgelegten Plan, aus Petersburg verschwanden, „ersetzte Uljanow“, wie der Staatsanwalt richtig feststellte, „beide – Anstifter und Anführer“. Uljanow, der beim letzten Akt auf der Straße keinerlei Rolle zu spielen hatte, wurde in der Wohnung des Studenten Kantscher verhaftet, wo er in einen Hinterhalt der Polizei geriet. Nur durch Kantscher, der alles verriet, was er wußte, erfuhren die Behörden die wirkliche Rolle Uljanows. Von diesem Augenblick an las der Angeklagte Lukaschewitseh in den Augen seines Mitarbeiters bei der Herstellung von Bomben „die unwiderrufliche Entschlossenheit zu sterben“. „Wenn Sie es notwendig haben, reden Sie sich auf mich aus!“ flüsterte bei der Verhandlung Uljanow Lukaschewitsch zu. Viele Jahre später erzählte die Angeklagte Ananjina ihrer Tochter: „Er war bereit, sich zwanzigmal hängen zu lassen, wenn er damit das Schicksal der anderen hätte erleichtern können.“

Das Verhalten Uljanows in der Untersuchung und vor Gericht zeigt diesen jungen Menschen als ganzen Mann: Er will soviel als möglich auf sich nehmen, um das Schicksal der Kameraden zu erleichtern; gleichzeitig scheut er davor zurück, seine Führerrolle beim richtigen Namen zu nennen, um nicht das persönliche Verdienst der anderen zu schmälern. Er beansprucht die ausschließliche Verantwortung, nicht die ausschließliche Ehre. „Ich habe“, sagte der Staatsanwalt, „volles Vertrauen zu den Aussagen des Angeklagten Uljanow, dessen Geständnis zwar nicht ganz den Tatsachen entspricht, aber doch wohl nur in dem Sinne, daß er auch das auf sich nimmt, was er in Wirklichkeit gar nicht getan hat.“ Die ihm vom Staatsanwalt gezollte Anerkennung machte die Verurteilung Uljanows zum Tod nur noch sicherer.

Es gab bei dem Prozeß außer den Richtern, dem Staatsanwalt, den Verteidigern und den Angeklagten noch einen unsichtbaren, aber höchst wirklichen Beteiligten: den Zaren. In einem gewissen Sinne war der Prozeß ein Duell zwischen zwei Gestalten: Alexander Romanow und Alexander Uljanow. Der Zar war damals dreiunddreißig Jahre alt. Er saß nicht über das Mikroskop gebeugt und zerbrach sich nicht den Kopf über Marx. Dafür glaubte er an Ikonen und Reliquien; er betrachtete sich als „wahrhaft russischen“ Zaren, konnte aber in russischer Sprache (und übrigens auch in anderen Sprachen) keinen einzigen richtigen Satz bauen. Auf das von Uljanow verfaßte Programm schrieb der Zar eigenhändig: „Diese Niederschrift ist nicht einfach das Werk eines Verrückten, sondern eines reinen Idioten.“ Zu der Feststellung des Programms, daß bei dem herrschen den politischen Regime eine Tätigkeit zur Hebung des Niveaus des Volkes fast unmöglich sei, schrieb Romanow: „Das ist tröstlich.“ Zum praktischen Teil des Programms, das neben der Forderung nach Demokratie auch die nach Nationalisierung des Bodens, der Fabriken und aller Produktionsmittel enthält, bemerkte der Zar: „Die reinste Kommune.“ Seine besondere Aufmerksamkeit erregten schließlich die Worte Uljanows vom 21. März: „Was schließlich meine moralische und intellektuelle Beteiligung an dieser Sache betrifft, so war sie vollständig, das heißt, sie umfaßte alles, was mir meine Fähigkeiten und die Kraft meiner Kenntnisse und Überzeugungen erlaubten.“ Der Zar schrieb auf das Blatt: „Diese Offenherzigkeit ist geradezu rührend!!!“ Was den gerührten Zaren nicht hinderte, fünf Angeklagte, die zusammen kaum 110 Jahre alt waren, hängen zu lassen.

Die Terroristen der siebziger Jahre waren durch eine vorbereitende Schule der Propaganda und der revolutionären Organisation gegangen; das hatte ihr Alter und ihre Erfahrung erhöht. Bevor sie das Schafott bestiegen, waren Sheljabow, Kibaltschitsch und Petrowskaja zu politisch reifen Menschen mit großer revolutionärer Stählung geworden. Aus dem Versuch einer Massenbewegung gewachsen, hatte sich die „Narodnaja Wolja“, zumindest auf dem Papier, die Aufgabe gestellt, einen Aufstand zu entfesseln, für den man vorher die Unterstützung der Arbeiter und die Sympathie eines Teiles der Truppen sichergestellt hatte. Tatsächlich war, wie wir wissen, das Exekutivkomitee genötigt, alle seine Kräfte auf den Zarenmord zu konzentrieren, Die Gruppe des Jahres 1887 begann sofort mit dem, was dem Exekutivkomitee seinerzeit den Kopf gekostet hatte. Die Entmutigung der Intelligenz hatte gewissermaßen von vornherein die Wege abgeschnitten, die zu den Massen führten. Die Verschwörung Schewyrjows und Uljanows versuchte nicht einmal über den Studentenzirkel hinauszugehen: Keinerlei Versuche einer Propaganda, der Heranziehung der Arbeiter, der Einrichtung einer Druckerei, der Herausgabe einer Zeitung. Die Initiatoren des Terroranschlages rechneten weder mit der Hilfe des Volkes noch mit der Unterstützung der Liberalen. Sie nannten sich nicht Partei, sondern Fraktion, das heißt Absplitterung von einem nicht existierenden Ganzen. Sie verzichteten auf Zentralisierung: sie hatten niemanden und nichts zu zentralisieren. Sie wollten glauben, daß sich im Lande andere Gruppen finden werden, die aus eigenem Antrieb zu handeln bereit wären und das für den Erfolg genügte.

In seiner Rede vor Gericht gab Uljanow eine sehr eindrucksvolle Erklärung – wenn schon nicht für den terroristischen Kampf, so doch für die Quellen des Glaubens an seine Kraft: „Es gibt bei uns“, sagte er, „keine festgefügten Klassen, die die Regierung im Zaum halten könnten...“ Gleichzeitig ist „unsere Intelligenz physisch so schwach und unorganisiert, daß sie derzeit keinen offenen Kampf aufnehmen kann...“ Aus dieser pessimistischen Einschätzung der gesellschaftlichen Kräfte mußte sich politische Hoffnungslosigkeit im Sinne der in den achtziger Jahren herrschenden Stimmungen ergeben. Aber es ist hinreichend bekannt, daß äußerste Verzweiflung nicht selten zum Quell schimärischer Hoffnungen wird. „Eine schwache Intelligenz, die äußerst schwach von den Interessen der Massen durchdrungen ist ...“, schließt Uljanow, „kann nur in terroristischer Form ihr Recht, zu denken; verteidigen.“ Das sind die psychologischen Ausgangspunkte der Aktion vom 1. März 1887, dieses überraschenden Versuchs eines Dutzends junger Leute, die sich auf nichts stützen konnten und dem politischen Leben eine andere Richtung geben wollten.

An der Abfassung des Programms der Gruppe waren sechs Personen beteiligt: drei von ihnen, darunter Uljanow, betrachteten sich als Narodowolzen, die drei anderen neigten dazu, sich Sozialdemokraten zu nennen. Der Unterschied zwischen den einen und den anderen war aber nur sehr bedingt. Die sogenannten Sozialdemokraten begannen anzuerkennen, daß der Marxismus nicht nur für den Westen, sondern auch für Rußland anwendbar ist. Doch wenn es sich um den „unmittelbaren politischen Kampf“ handelte, hielten auch sie sich unentwegt an den Terror. Wenn es – so war ihr Gedankengang – erst im Zusammenhang mit der weiteren Entwicklung des Kapitalismus zu einer revolutionären Massenbewegung kommt, dann bleibt der revolutionären Intelligenz derzeit nichts anderes übrig, als sich der Waffe zu bedienen, die den Händen der „Narodnaja Wolja“ entfallen war. Darin waren sich die Menschen einig, die in anderem verschiedener Meinung waren. Der Terror als zentrale Aufgabe drängt alle anderen Fragen in den Hintergrund. Kein Wunder, daß sich beide Schattierungen vereinigten unter dem Namen „Terroristische Fraktion der Narodnaja Wolja“: Die einen wie die anderen hatten den Blick nicht nach vorn, sondern nach hinten gerichtet. Ihre Gedanken waren ausschließlich beherrscht vom blendenden Beispiel des 1. März 1881. Wenn der Terror des Exekutivkomitees nicht zum gewünschten Ziel geführt hatte, dann nur deshalb, weil er nicht zu Ende geführt wurde. „Ich glaube nicht an den Terror“, sagte Alexander Uljanow, der sich als Narodowolze eines neuen Typs betrachtete, „ich glaube an den systematischen Terror.“

Alexander las eifrig Marx und andere ökonomische und soziologische Bücher. Kein Zweifel, daß er bei seinen großen Fähigkeiten und seiner Ausdauer in den letzten Jahren seines Lebens auf diesem für ihn neuen Gebiet beträchtliche Kenntnisse erwarb. Aber das waren nur Kenntnisse. Er hatte sich weder eine geschlossene Weltanschauung noch eine Methode erarbeitet. Von der Theorie des Marxismus spann er nicht die notwendigen Fäden zur russischen Wirklichkeit, und er selbst gab in kleinem Kreise zu. daß er in den Fragen der Dorfgemeinschaft und der Entwicklung des Kapitalismus ein Laie geblieben war. Das Programm schrieb er im Zusammenhang mit der bereits vollzogenen Tatsache der terroristischen Verschwörung: Daher sein Bemühen, die Bedeutung der Meinungsverschiedenheiten zu bagatellisieren, die in den achtziger Jahren die revolutionäre Bewegung in zwei Lager zu spalten begannen und in der Zukunft unversöhnlich bleiben sollten. Im Wesentlichen lief der Streit vor allem auf die Alternative hinaus: Klassenkampf des Proletariats oder der Student mit der Bombe. Das Programm Uljanows anerkannte zwar die Notwendigkeit der „Organisierung und Erziehung der Arbeiterklasse“, aber es verlegte diese Aufgabe in eine unbestimmte Zukunft; die revolutionäre Tätigkeit in den Massen erklärte es als „beim herrschenden politischen Regime fast unmöglich“. Diese Fragestellung umging ganz einfach das Wesen des Streites. In der Entwicklung des Kampfes der Arbeiterklasse erblickten die wirklichen Marxisten – wie Plechanow und seine Freunde – die Hauptkraft für den Sturz der Selbstherrschaft. Die terroristische Fraktion dagegen meinte, die „physisch schwache“ Intelligenz sollte zunächst die Selbstherrschaft mit Hilfe des Terrors stürzen, damit die Arbeiterklasse den politischen Schauplatz betreten könne. Auf diese Weise kam man unweigerlich zu dem Schluß, daß die Schaffung einer sozialdemokratischen Organisation zumindest verfrüht sei.

Für die Beurteilung der subjektiven Einstellung der an der Angelegenheit Beteiligten zur marxistischen Perspektive haben wir ein menschliches Dokument von erstrangigem psychologischem Interesse. Der als Bombenwerfer ausersehene Student Andrejuschkin, der „im großen und ganzen“ ebenfalls die Lehre von Marx akzeptierte, schrieb einem Freund in demselben unglückseligen Brief, der zur Entdeckung der Verschwörung führte: „Ich werde nicht die Vorzüge und die hohen Werte des roten Terrors aufzählen, denn ich käme bis ans Ende des Jahrhunderts damit nicht zu Rande, da er mein Steckenpferd ist, und daher kommt wahrscheinlich auch mein Haß gegen die Sozialdemokraten.“ Von seinem Standpunkt aus hatte der expansive Andrejuschkin recht: Wenn man die Hoffnungen. auf einen unmittelbaren Übergang von der Dorfgemeinschaft zum Sozialismus noch irgendwie ins nebelhafte Gebiet der „Theorie“ verlegen konnte, so hatte das Dogma von der „selbständigen Bedeutung der Intelligenz“ brennende praktische Bedeutung. Der Revolutionär, der sich anschickte, sich in einen Sprengkörper zu verwandeln, konnte nicht nur keine Leugnung, sondern nicht einmal den geringsten Zweifel an der unersetzlichen und rettenden Bedeutung des Dynamits dulden.

Die Versuche der offiziösen sowjetischen Historiker, die „terroristische Fraktion“ gewissermaßen als Brücke zwischen der atten Bewegung und der Sozialdemokratie zu schildern, um auf diese Weise die Möglichkeit zu haben, Alexander Uljanow als Bindeglied zwischen Sheljabow und Lenin hinzustellen, werden durch die Analyse der Tatsachen und der Ideen in keiner Weise gerechtfertigt. Auf dem Gebiet der Theorie huldigte die Gruppe Uljanows eklektischen Anschauungen, die für die achtziger Jahre als Periode der Depression bezeichnend sind. Praktisch muß sie den Epigonen des Narodowolzentums zugezählt werden, dessen Methoden sie ad absurdum führte. Das Unternehmen des 1. März 1887 trug keinerlei Keime der Zukunft in sich und war seinem Wesen nach die letzte, wahrhaft tragische Konvulsion der bereits verurteilten Prätentionen der „kritisch denkenden Persönlichkeiten“ auf eine selbständige historische Rolle. Und gerade darin bestand auch seine so teuer bezahlte Lehre.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008