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Geschrieben Juli 1936.
Transkription: Oliver Fleig.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Noch einmal muss man sagen: die seriöse Kapitalspresse wie der Pariser Temps oder die Londoner Times haben die Bedeutung der Juniereignisse in Frankreich und Belgien viel richtiger und scharfsichtiger eingeschätzt als die Presse der Volksfront. Während die sozialistischen und kommunistischen Offiziosi mit Léon Blum von der beginnenden „friedlichen Umgestaltung des sozialen Regimes Frankreichs“ reden, behauptet die konservative Presse, in Frankreich habe die Revolution begonnen, und auf einer der nächsten Etappen werde sie unvermeidlich gewaltsame Formen annehmen. Es wäre nicht richtig, in dieser Prognose nur oder hauptsächlich das Bestreben zu sehen, die Besitzenden zu schrecken. Die Vertreter des Großkapitals wissen den sozialen Kampf sehr realistisch zu betrachten. Die kleinbürgerlichen Politiker hingegen nehmen gern ihre Wünsche für die Wirklichkeit zwischen den Hauptklassen, dem Finanzkapital und dem Proletariat, stehend, schlagen die Herren „Reformatoren“ den beiden Gegnern vor, sich auf der mittleren Linie zu einigen, die sie mit großer Mühe im Generalstab der Volksfront ausarbeiteten und die sie selbst verschieden auslegen. Sie müssen sich jedoch nur allzubald davon überzeugen, dass es viel leichter ist, die Klassengegensätze in Leitartikeln auszusöhnen, als im Regierungshandwerk, vor allem mitten in der heftigsten sozialen Krise.
Im Parlament warf man Blum ironisch vor, er habe Verhandlungen über die Forderungen der Streikenden mit Vertretern der „zweihundert Familien“ geführt. „Mit wem hätte ich denn sonst unterhandeln sollen?“ antwortete der Ministerpräsident schlagfertig. In der Tat, wenn man schon Verhandlungen mit der Bourgeoisie führt, dann gehe man zu den wahren Herren, die für sich selbst zu beschließen und anderen zu befehlen vermögen. Dann aber war es überflüssig, ihnen so geräuschvoll den Krieg zu erklären! Im Rahmen des bürgerlichen Regimes, seiner Gesetze, seiner Mechanik ist jede der „zweihundert Familien“ weitaus stärker als die Regierung Blum. Die Finanzmagnaten bilden die Krönung des bürgerlichen Systems Frankreichs: die Regierung Blum aber, trotz all ihren Wahlerfolgen, „krönt“ nur eine zeitweilige Kluft zwischen zwei kämpfenden Lagern.
Jetzt, in der ersten Hälfte des Juli, mag es, oberflächlich betrachtet, scheinen, als sei alles mehr oder weniger zur Norm zurückgekehrt. In Wirklichkeit aber geht in der Tiefe des Proletariats wie auch in den Spitzen der herrschenden Klassen die fast automatische Vorbereitung eines neuen Konflikts vor sich. Die ganze Sache ist die, dass die ins Grunde recht dürftigen Reformen auf die im Juni die Kapitalisten und die Führer der Arbeiterorganisationen sich einigten, nicht lebensfähig sind, weil sie bereits die Kräfte des Verfallskapitalismus als Ganzes genommen übersteigen. Die Finanzoligarchie, die mitten in der heftigsten Krise glänzende Geschäfte macht, kann freilich sich an die 40-Stunden-Woche, den bezahlten Urlaub usw. gewöhnen. Aber die hunderttausende von mittleren und kleinen Unternehmern, auf die sich das Finanzkapital stützt und auf die es heute die Kosten ihres Übereinkommens mit BIum abwälzt, müssen entweder stillschweigend zugrunde gehen oder ihrerseits versuchen, die Kosten der sozialen Reformen auf die Arbeiter und Bauern als Verbraucher abzuwälzen.
Wohl hat Blum in der Kammer und in der Presse so manches Mal die lockende Perspektive einer allgemeinen wirtschaftlichen Wiederbelebung und eines rasch zunehmenden Umsatzes gemalt, die es ermöglichen sollen, die allgemeinen Produktionskosten erheblich zu senken, und infolgedessen die Ausgaben für die Arbeitskraft zu erhöhen gestatten, ohne Erhöhung der Warenpreise. Tatsächlich sind solche kombinierten wirtschaftlichen Prozesse in der Vergangenheit nicht selten zu beobachten gewesen, die ganze Geschichte des vergangenen Kapitalismus steht in ihrem Zeichen. Das Unglück ist nur, dass Blum versucht, die unwiederbringlich verlorene Vergangenheit in die Zukunft zu projizieren. Politiker, die solche Fehltritte begehen können, mögen sich selber Sozialisten und gar Kommunisten nennen, ihr Blick ist aber nicht vorwärts sondern rückwärts gerichtet, und sie sind darum eine Bremse des Fortschritts.
Der französische Kapitalismus mit seinem berühmten „Gleichgewicht“ zwischen Landwirtschaft und Industrie ist, nach Italien und Deutschland, aber nicht weniger unaufhaltsam, ins Stadium des Verfalls getreten. Das ist keine Phrase aus einer revolutionären Proklamation sondern unumstößliche Wirklichkeit. Frankreichs Produktivkräfte entwuchsen dem Rahmen des Privateigentums und der Staatsgrenzen. Der Regierungseingriff kann auf der Grundlage des kapitalistischen Regimes nur die Verfallsunkosten von den einen Klassen auf die anderen abwälzen helfen. Auf weiche aber? Wenn der sozialistische Ministerpräsident Verhandlungen über eine „gerechtere“ Verteilung des Nationaleinkommens führen muss, findet er, wie wir bereits vernahmen, keine anderen würdigen Partner als die Vertreter der zweihundert Familien. Die Finanzmagnaten, die alle Haupthebel der Industrie, des Kredits und des Handels in der Hand haben, wälzen die Spesen des Abkommens auf die „Mittelklassen“ ab und zwingen diese dadurch. mit den Arbeitern in Kampf zu treten. Hier ist der springende Punkt der Lage.
Die Industriellen und Handelsleute zeigen den Ministern ihre Kassabücher und sagen : „Wir können nicht“. Die Regierung entsinnt sich der alten Lehrbücher der politischen Ökonomie und antwortet: „Man muss die Produktionsunkosten beschränken“. Doch das ist leichter gesagt als getan. Außerdem, die Technik steigern heißt unter den gegebenen Umständen die Arbeitslosigkeit vergrößern und letzten Endes die Krise verschärfen. Die Arbeiter ihrerseits protestieren dagegen, dass das einsetzende Steigen der Preise ihnen das Eroberte wieder zu entreißen droht. Die Regierung weist die Präfekten an, gegen die Teuerung zu Felde zu ziehen. Die Präfekten wissen aber aus langer Erfahrung, dass man viel leichter den Ton der oppositionellen Zeitungen herabdrückt als die Rindfleischpreise. Die Teuerungswelle steht noch ganz vor uns.
Die kleinen Unternehmer, Händler, und nach ihnen auch die Bauern, werden von der Volksfront, von der sie mit mehr Unmittelbarkeit und Naivität als die Arbeiter sofortige Besserung erhofften, immer mehr enttäuscht sein. Der grundlegende politische Widerspruch der Volksfront besteht darin, dass die sie beherrschende Politik der goldenen Mitte, in der Furcht die Mittelklassen zu „schrecken“, nicht über den Rahmen der alten Gesellschaftsordnung, d.h. aus der historischen Sackgasse, hinausgeht. Indes, die sogenannten Mittelklassen, selbst verständlich nicht ihre Spitzen, sondern ihre unteren Schichten, spüren auf Schritt und Tritt die Sackgasse und schrecken vor kühnen Lösungen nicht zurück, im Gegenteil, sie fordern sie als Erlösung aus der Schlinge. „Erwartet von uns keine Wunder!“, sprechen die an der Macht befindlichen Pedanten. Doch die Sache ist eben die, dass es ohne „Wunder“, d.h. ohne heroische Entschlüsse, ohne völligen Umsturz in den Eigentumsverhältnissen, ohne Konzentrierung des Bankensystems, der Hauptindustriezweige und des Außenhandels in den Händen des Staats, für das Kleinbürgertum von Stadt und Land keine Rettung gibt. Wenn die „Mittelklassen“ in deren Namen gerade die Volksfront geschaffen wurde, revolutionäre Kühnheit nicht bei der Linken finden, so werden sie sie zur Rechten suchen. Das Kleinbürgertum schüttelt sich im Fieber und es wird sich unausbleiblich von der einen Seite auf die andere werfen. Unterdessen lauert das Großkapital zuversichtlich auf diesen Umschwung, der in Frankreich den Beginn des Faschismus bilden wird, nicht nur als halbmilitärische Organisation der Bourgeoissöhnchen mit Automobilen und Flugzeugen, sondern auch als wirkliche Massenbewegung.
Die Arbeiter übten im Juni einen grandiosen Druck aus auf die herrschenden Klassen, doch nicht bis zu Ende. Sie zeigten ihre revolutionäre Mächtigkeit, aber auch ihre Schwäche: das Fehlen eines Programms und einer Führung. Alle Pfeiler der kapitalistischen Gesellschaft, aber auch alle ihre unheilbaren Gebrechen, blieben an ihrem Platze. Jetzt hat die Periode der Vorbereitung des Gegendrucks eingesetzt: der Repressionen gegen die linken Agitatoren, immer tückischerer Agitation der rechten Agitatoren, des Versuchs der Preiserhöhungen, der Mobilisierung der Unternehmer zu Massenaussperrungen. Die französischen Gewerkschaften, die vor dem Streik nicht einmal eine Million Mitglieder zählten, nähern sich heute der fünften Million. Dieser unerhörte Massenzustrom zeigt, welche Gefühle die Arbeitermassen beseelen. Es kann nicht davon die Rede sein, dass sie widerstandslos die Kosten ihrer eigenen Eroberungen auf sich abwälzen ließen. Die Minister und die offiziellen Führer reden unablässig auf die Arbeiter ein, still zu sitzen und die Regierung nicht bei der mühevollen Lösung der Aufgaben zu stören. Da aber die Regierung im Grunde eigentlich überhaupt keine Aufgaben lösen kann, da die Zugeständnisse vom Juni durch Streik und nicht durch geduldiges Abwarten erzielt worden waren, da jeder neue Tag die Haltlosigkeit der Regierung vor dem sich entfaltenden Gegenangriff des Kapitals aufzeigen muss, so verlieren die monotonen Ermahnungen recht bald ihre Überzeugungskraft. Die Logik der aus dem Junisieg, richtiger aus dem halbfiktiven Charakter dieses Siegs, hervorgegangenen Lage will es, dass die Arbeiter die Herausforderung annehmen, d.h. von neuem in den Kampf treten. In der Furcht vor dieser Perspektive rückt die Regierung nach rechts. Unter dem unmittelbaren Druck der radikalsozialistischen Verbündeten, letzten Endes aber auf Verlangen der „200 Familien“, erklärte der sozialistische Innenminister im Senat, dass Besetzungen von Fabriken, Schuppen und landwirtschaftlichen Betrieben durch Streikende nicht länger mehr geduldet würden. Derartige Vorbeugung hält natürlich den Kampf nicht auf, ist aber imstande, ihn ungemein entschiedener und schärfer zu gestalten.
Die ganz objektive, von den Tatsachen und nicht von den Wünschen ausgehende Analyse führt somit zu dem Schluss, dass von zwei Seiten ein neuer sozialer Konflikt sich vorbereitet, der mit fast mechanischer Unvermeidlichkeit ausbrechen muss. Die Natur dieses Konflikts ist im Großen und Ganzen nicht schwer schon jetzt zu bestimmen. In allen revolutionären Perioden der Geschichte kann man zwei aufeinander folgende, eng miteinander verknüpfte Etappen feststellen: die erste ist eine „elementare“ Massenbewegung, die den Gegner überrumpelt und ihm ernste Zugeständnisse oder wenigstens Versprechungen abringt: danach bereitet die herrschende Klasse, die die Grundfesten ihrer Herrschaft bedroht fühlt, die Revanche vor. Die halb siegreichen Massen werden ungeduldig. Die traditionellen „linken“ Führer, die ebenso wie die Gegner von der Bewegung überrumpelt wurden, hoffen die Lage mit Hilfe versöhnlicher Beredsamkeit zu retten und büßen letzten Endes an Einfluss ein. Die Massen treten in den neuen Kampf fast ohne Führung, ohne klares Programm und ohne Begriff von den bevorstehenden Schwierigkeiten. Der Konflikt, der unabwendbar aus dem ersten halben Sieg der Massen entsteht, endete nicht selten mit deren Niederlage oder halben Niederlage. In der Geschichte der Revolutionen sind von dieser Regel kaum Ausnahmen zu finden. Ein Unterschied jedoch besteht darin – und der ist nicht klein – dass in den einen Fällen die Niederlage den Charakter einer völligen Vernichtung annahm – so war es z.B. in den Junitagen 1848 in Frankreich, mit denen die Revolution zu Ende war – in den anderen stellte die Teilniederlage nur eine Etappe zum Sieg dar – das war beispielsweise die Rolle der Niederlage der Petersburger Arbeiter und Soldaten im Juli 1917. Gerade die Juliniederlage beschleunigte den Aufschwung der Bolschewiki, die nicht nur richtig, ohne Illusionen und unverblümt die Lage einzuschätzen wussten, sondern sich auch in den schwersten Tagen der Misserfolge, Opfer und Verfolgungen von der Masse nicht isolierten.
Ja, die konservative Presse analysiert die Lage nüchtern. Das Finanzkapital und seine politischen und militärischen Hilfsorgane bereiten in kalter Berechnung die Revanche vor. An der Spitze der Volksfront herrscht nichts als Uneinigkeit und Zerwürfnis. Die linken Zeitungen fließen von Moralpredigten über. Die Führer ersäufen in Phrasen. Die Minister bemühen sich, der Börse ihre staatsmännische Reife zu beweisen. All das zusammen bedeutet, dass das Proletariat in den nächsten Konflikt nicht nur ohne die Führung ihrer traditionellen Organisationen treten wird, wie im Juni, sondern auch gegen sie. Indes, eine neue allgemein anerkannte Führung ist noch nicht da. Unter diesen Umständen ist schwerlich mit einem unmittelbaren Sieg zu rechnen. Der Versuch vorauszublicken führt eher zu der Alternative: die Junitage 1848 oder die Julitage 1917. Anders gesagt: entweder eine Vernichtung auf lange Jahre hinaus, mit dem unvermeidlichen Triumph der faschistischen Reaktion, oder aber lediglich eine bittere strategische Lehre, in deren Ergebnis die Arbeiterklasse ungleich reifer dastehen, ihre Führung erneuern und die Bedingungen des künftigen Sieges vorbereiten wird.
Das französische Proletariat ist kein Neuling. Auf seinem Buckel hat es die in der Geschichte gewaltigste Serie historischer Schlachten. Gewiss müssen die neuen Generationen jeweils aus eigener Erfahrung lernen, doch nicht von Anbeginn und nicht in vollem Umfang, sondern sozusagen in abgekürztem Kursus. Die große Tradition lebt im Blut und macht die Wahl des Weges leichter. Bereits im Juni fanden die namenlosen Führer der erwachten Klasse mit prachtvollem revolutionären Takt die Methoden und Formen des Kampfes. Die molekulare Arbeit des Massenbewusstseins hört heutzutage nicht eine Stunde auf. All das lässt damit rechnen, dass die neue Führerschicht nicht nur in den Tagen des unvermeidlichen und wahrscheinlich baldigen neuen Konflikts der Masse treu bleiben, sondern es auch verstehen wird, die ungenügend vorbereitete Armee unverrichtet aus der Schlacht zurückzuziehen.
Es ist nicht wahr, dass die Revolutionäre in Frankreich an der Beschleunigung des Konfliktes oder an seiner „künstlichen“ Provozierung interessiert seien: das können nur die stumpfsinnigsten Polizeigehirne meinen. Die marxistischen Revolutionäre sehen ihre Pflicht darin, der Wirklichkeit offen ins Angesicht zu sehen und jedes Ding bei seinem Namen zu nennen. Rechtzeitig aus der objektiven Lage die Perspektive der zweiten Etappe ziehen, heißt den vorgeschrittenen Arbeitern helfen, nicht überrumpelt zu werden, und soviel Klarheit wie möglich ins Bewusstsein der kämpfenden Massen zu tragen. Darin eben besteht heute die wahre Aufgabe einer ernsten politischen Leitung.
Zuletzt aktualiziert am 21.7.2008