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In seinem Brief an den Nationalrat der Sozialistischen Partei bezeichnete das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei als Grundlage zur Vereinigung „das Programm der Kommunistischen Internationale, das zum Sieg des Sozialismus in der UdSSR führte, während das Programm der 2. Internationale der tragischen Prüfung des Krieges nicht standhielt und mit der schmerzlichen Bilanz Deutschlands und Österreichs endete“. Dass die Zweite Internationale Bankrott gemacht hat. das haben die revolutionären Marxisten bereits August 1914 erklärt. Alle weiteren Ereignisse haben dieses Urteil nur bestätigt. Allein, bei dem Hinweis auf den unbestreitbaren Bankrott der Sozialdemokratie in Deutschland und Österreich vergessen die Stalinisten eine Frage zu beantworten: und was war mit der deutschen und der österreichischen Kominternsektion? Die deutsche Kommunistische Partei brach bei der geschichtlichen Prüfung ebenso schmählich zusammen wie die deutsche Sozialdemokratie. Warum? Die deutschen Arbeiter wollten kämpfen und glaubten, „Moskau“ werde sie zum Kampf führen, sie strebten unaufhörlich nach links. Die deutsche Kommunistische Partei wuchs rapid, in Berlin war sie zahlenmäßig der Sozialdemokratie überlegen. Doch innerlich war sie verwüstet noch bevor die Stunde der Prüfung kam. Erstickung des inneren Lebens der Partei. Kommandos statt Überzeugen. Zickzackpolitik, Ernennung der Führer von oben, Lug und Trug gegenüber der Masse als System – all das demoralisierte die Partei bis ins Mark hinein. Als die Gefahr nahte, erwies sich die Partei als ein Leichnam. Diese Tatsache kann aus der Geschichte nicht mehr ausgelöscht werden.
Nach der schändlichen Kapitulation der Komintern in Deutschland verkündeten die Bolschewiki-Leninisten: die Dritte Internationale ist tot! Unnötig. an die Beschimpfungen zu erinnern, welche die Stalinisten aller Länder uns an den Kopf warfen. Die Humanité behauptete bereits nach Hitlers endgültigem Machtantritt von Nummer zu Nummer: „In Deutschland gab es keine Niederlage“, „Nur Renegaten können von einer Niederlage sprechen“. „Die deutsche Kommunistische Partei wächst von Stunde zu Stunde“, „Die Partei Thälmanns bereitet sich auf die Machtergreifung vor“. Kein Wunder, wenn diese verbrecherischen Prahlereien nach der größten aller historischen Katastrophen die übrigen Sektionen der Komintern noch weiter demoralisierten: eine Organisation, die die Fähigkeit verloren hat, aus ihrer eigenen Niederlage zu lernen, ist unwiderruflich verurteilt.
Der Beweis blieb nicht lange aus. Das Saarplebiszit war wie geschaffen zu zeigen, wieviel Vertrauen das deutsche Proletariat noch in die Zweite und Dritte Internationale setzte. Die Resultate sind da: genötigt zu wählen zwischen der triumphierenden Gewalt Hitlers und der morschen Kraftlosigkeit der bankrotten Arbeiterparteien, gaben die Massen 90% der Stimmen Hitler, dagegen der Front der Zweiten und Dritten Internationale (die jüdische Bourgeoisie, die geschäftlich interessierten Kreise, die Pazifisten usw. abgerechnet) vermutlich nicht mehr als 7%. Das ist die gemeinsame Bilanz des Reformismus und des Stalinismus. Wehe dem, der diese Lehre nicht begriffen hat.
Die werktätigen Massen stimmten für Hitler, weil sie einen anderen Ausweg nicht sahen. Die Parteien, die sie jahrzehntelang zum Kampf für den Sozialismus weckten und sammelten, haben sie betrogen und verraten. Das ist die Schlussfolgerung, die die Arbeiter zogen! Wäre in Frankreich das Banner der sozialistischen Resolution hoch aufgerichtet worden, so hätte das Saarproletariat seinen Blick nach Westen gewandt und die Klassensolidarität über die nationale Solidarität gestellt. Aber ach, der gallische Hahn kündigte dem Saarvolk kein revolutionäres Morgenrot an. In Frankreich wird, wenn auch unter der Hülle der Einheitsfront, dieselbe Politik der Ohnmacht, der Unentschlossenheit, des Auf-der-Stelle-Tretens, des mangelnden Vertrauens in die eigene Kraft betrieben, an der die Sache des deutschen Proletariats scheiterte. Darum ist das Saarplebiszit nicht nur ein Beweis der Auswirkungen der deutschen Katastrophe, sondern auch eine furchtbare Warnung für das französische Proletariat. Wehe den Parteien, die an der Oberfläche der Ereignisse treiben, sich in Worten wiegen, auf Wunder hoffen, dem Todfeind gestatten, sich ungestraft zu organisieren, zu bewaffnen, vorteilhafte Stellungen zu beziehen und den günstigsten Augenblick für den entscheidenden Schlag zu wählen!
Das lehrt uns die Saar.
Viele Reformisten und Zentristen (d.h. zwischen Reformismus und Revolution Schwankende), die heute nach links wenden, streben zur Komintern hin: einige, vornehmlich Arbeiter, weil sie im Moskauer Programm aufrichtig den Widerschein der Oktoberrevolution zu finden hoffen, andere, vorwiegend Funktionäre, einfach weil sie mit der mächtigen Sowjetbürokratie Freundschaft schließen möchten. Lassen wir die Karrieristen. Aber den Sozialisten, die aufrichtig in der Komintern eine revolutionäre Führung zu finden hoffen, rufen wir zu: ihr irrt euch grausam! Ihr kennt zu schlecht die Geschichte der Komintern der letzten zehn Jahre, eine Geschichte von Fehlern, Katastrophen, Kapitulationen und bürokratischer Entartung.
Das heutige Kominternprogramm wurde 1928 auf dem 6. Weltkongress angenommen, nach der Zertrümmerung der leninistischen Leitung. Zwischen dem heutigen Programm und jenem, mit dem der Bolschewismus 1917 siegte, klafft ein Abgrund. Das Programm des Bolschewismus ging davon aus, dass das Schicksal der Oktoberrevolution untrennbar mit dem Schicksal der internationalen Revolution verkettet ist. Das Programm von l928 geht trotz allen „internationalistischen“ Phrasen aus von der Perspektive des selbständigen Aufbaus des Sozialismus in der Sowjetunion. Lenins Programm sagte: „Ohne Revolution im Westen und im Osten sind wir verloren“. Dies Programm schloss wesensgemäß die Möglichkeit aus, die Interessen der Weltarbeiterbewegung den Interessen der UdSSR zu opfern. Das. Kominternprogramm bedeutet in der Praxis: im Interesse der UdSSR (in Wirklichkeit im Interesse der diplomatischen Kombinationen der Sowjetbürokratie) könne und solle man die Interessen der proletarischen Revolution in Frankreich opfern. Lenins Programm lehrte: der Sowjetbürokratismus ist der schlimmste Feind des Sozialismus; als Ausdruck des Druckes bürgerlicher Kräfte und Tendenzen auf das Proletariat kann der Bürokratismus zur Wiederauferstehung der Bourgeoisie führen: ein Erfolg des Kampfes gegen die Plage des Bürokratismus ist nur durch den Sieg des europäischen und des Weltproletariats zu gewährleisten. Im Gegensatz dazu sagt das heutige Kominternprogramm: der Sozialismus kann unabhängig von den Erfolgen und Niederlagen des Weltproletariats unter der Leitung der unfehlbaren und allmächtigen Bürokratie aufgebaut werden; alles was gegen ihre Unfehlbarkeit gerichtet ist, ist konterrevolutionär und verdient ausgerottet zu werden.
Im heutigen Kominternprogramm gibt es selbstverständlich viele dem leninschen Programm entlehnte Ausdrücke, Formeln, Sätze (auch die konservative Bürokratie des Thermidor und des Konsulats in Frankreich gebrauchte die Ausdrucksweise der Jakobiner), aber im Grunde schließt ein Programm das andere aus. In der Praxis hat die Stalinbürokratie ja schon längst das Programm der internationalen proletarischen Revolution durch ein Programm nationaler Sowjetreformen ersetzt. Die Komintern zersetzt und schwächt mit ihrer aus Opportunismus und Abenteurertum gemischten Politik das Weltproletariat und untergräbt damit die fundamentalen Interessen der UdSSR Wir sind für die UdSSR, aber gegen die usurpatorische Bürokratie und ihr blindes Werkzeug, die Kommunistische Internationale.
Zugegeben, dass die Kommunistische Partei heute sogar wächst. Nicht dank, sondern trotz ihrer Politik. Die Ereignisse drängen die Arbeiter nach links und die Kommunistische Partei bleibt trotz ihrer opportunistischen Wendung für die Massen die „extreme Linke“. Das zahlenmäßige Wachsen der Kommunistischen Partei bietet jedoch nicht die geringste Gewähr für die Zukunft: die deutsche Kommunistische Partei wuchs wie gesagt ständig bis zum Augenblick der Kapitulation, und noch viel rascher.
Jedenfalls ist die Tatsache des Vorhandenseins zweier Arbeiterparteien, die angesichts der gemeinsamen Gefahr die Einheitsfrontpolitik zur absoluten Notwendigkeit macht, auch eine hinreichende Erklärung für das Streben der Arbeiter nach ihrer organischen Vereinigung. Gäbe es in Frankreich eine konsequent revolutionäre Partei. dann wären wir entschieden Gegner der Verschmelzung mit der opportunistischen Partei. Bei der Verschärfung der sozialen Krise würde die revolutionäre Partei im Kampfe gegen den Reformismus bestimmt die überwiegende Mehrheit der Arbeiter um ihr Banner scharen. Das historische Problem besteht nicht darin, mechanisch alle Organisationen, die aus verschiedenen Etappen des Klassenkampfes überkommen sind, zu vereinigen, sondern das Proletariat im Kampf und für den Kampf zu sammeln. Das sind zwei grundverschiedene, bisweilen sogar entgegengesetzte Probleme.
Aber tatsächlich gibt es in Frankreich keine revolutionäre Partei. Die Behendigkeit, mit der die Kommunistische Partei – ohne die geringste Diskussion – von der Theorie und Praxis des „Sozialfaschismus“ überging zum Block mit den Radikalsozialisten und zur Ablehnung der revolutionären Aufgaben im Namen der „Tagesforderungen“, ist ein Zeugnis dafür, dass der Parteiapparat vom Zynismus völlig zerfressen und die Basis desorientiert und des Denkens entwöhnt ist. Es ist eine kranke Partei.
Die Bolschewiki-Leninisten haben die Einstellung der SFIO offen genug kritisiert, als dass hier bereits mehrfach Gesagtes noch einmal wiederholt werden müsste. Ohne Zweifel aber wird trotz allem der linke, revolutionäre Flügel der SFIO allmählich zum Laboratorium, wo Losungen und Methoden des proletarischen Kampfes Gestalt annehmen. Wenn dieser Flügel sich festigt und stählt, kann er zum entscheidenden Faktor für die Beeinflussung der kommunistischen Arbeiter werden. In diesem Weg allein liegt das Heil. Die Lage würde hingegen ein für allemal verloren sein, wenn der revolutionäre Flügel der Sozialistischen Partei in das Räderwerk des Kominternapparats geriete, das dazu dient, Wirbelsäulen und Charaktere zu brechen, einem das Denken auszutreiben und blinden Gehorsam zu lehren – eine offen gesagt verheerende Art zur Heranbildung von Revolutionären.
„Was, ihr seid also gegen die organische Einheit?“, werden uns nicht ohne Entrüstung manche Genossen fragen.
Nein, wir sind nicht gegen die Einheit. Aber wir sind gegen Fetischismus, Aberglauben und Verblendung. Einheit an sich löst noch nichts. Die österreichische Sozialdemokratie erfasste beinahe das gesamte Proletariat, aber nur um es ins Verderben zu stürzen. Die Belgische Arbeiterpartei kann von sich mit Recht sagen, die einzige Arbeiterpartei zu sein. Das hindert sie aber nicht daran, von einer Kapitulation zur anderen zu schreiten. Nur hoffnungslos Naive können erwarten, dass die Labour Party, die das englische Proletariat vollständig beherrscht, imstande sein wird dessen Sieg zu garantieren. Nicht Einheit an sich entscheidet, sondern ihr realer politischer Gehalt.
Wenn sich die SFIO jetzt auf der Stelle mit der Kommunistischen Partei vereinigte, so würde das den Sieg noch ebensowenig garantieren wie die Einheitsfront: nur richtige revolutionäre Politik kann den Sieg erbringen. Aber wir sind bereit, zuzugeben, dass die Vereinigung unter den gegenwärtigen Umständen die Umgruppierung und Sammlung der in den beiden Parteien verstreuten revolutionären Elemente erleichtern würde. In diesem – und nur in diesem – Sinne könnte die Vereinigung ein Schritt nach vorwärts sein.
Aber die Vereinigung – das sei hier sogleich gesagt – wäre ein Schritt zurück, schlimmer, ein Schritt in den Abgrund, wenn der Kampf gegen den Opportunismus in der vereinigten Partei im Flussbett der Komintern verliefe. Der stalinistische Apparat ist wohl imstande, eine siegreiche Revolution auszunutzen. doch organisch unfähig, einer neuen Revolution zum Sieg zu verhelfen. Er ist konservativ bis ins Mark. Wiederholen wir nochmals: die Sowjetbürokratie verhält sich zur alten bolschewistischen Partei, wie die Bürokratie des Direktoriums und des Konsulats zum Jakobinertum.
Die Vereinigung der beiden Parteien würde uns vorwärts bringen nur, wenn sie von Illusionen, Verblendung und glattem Betrug gereinigt ist. Um von der Krankheit der Komintern nicht angesteckt zu werden, brauchen die linken Sozialisten eine tüchtige Impfung mit Leninismus. Darum eben verfolgen wir unter anderem so aufmerksam und so kritisch die Entwicklung der linken Gruppen. Einige fühlen sich durch uns gekränkt. Aber wir meinen, dass auf revolutionärem Gebiet die Regeln der Verantwortung unvergleichlich wichtiger sind als die Regeln der Höflichkeit. Auch wir werten die gegen uns gerichtete Kritik nicht vom sentimentalen, sondern vom revolutionären Standpunkt.
Zyromsky hat in einer Artikelserie die Grundprinzipien der zukünftigen vereinigten Partei niederzulegen versucht. Das ist jedenfalls viel ernster, als nach Lebas’ Manier allgemeine Phrasen über die Einheit zu dreschen. Leider aber macht Zyromsky In seinen Artikeln einen Schritt nicht etwa zum Leninismus, sondern zum bürokratischen Zentrismus (Stalinismus). Das tritt, wie wir zeigen werden, in der Frage der Diktatur des Proletariats besonders klar hervor.
Aus irgendeinem Grunde wiederholt Zyromsky mit besonderer Eindringlichkeit in der Artikelserie den Gedanken – als Ursprungsquelle beruft er sich dabei übrigens auf Stalin! – dass „die Diktatur des Proletariats nie als ein Ziel betrachtet werden kann“. Als ob es irgendwo auf der Welt so verrückte Theoretiker gäbe, die die Diktatur des Proletariats für ein „Ziel an sich“ halten! Doch hinter dieser sonderbaren Eindringlichkeit steckt ein Gedanke: Zyromsky entschuldigt sich sozusagen im Voraus bei den Rechten, die Diktatur zu wollen. Leider ist die Diktatur schwer zu errichten, wenn man mit Entschuldigungen beginnt.
Weit schlimmer, indes, ist folgender Gedanke: „Die Diktatur des Proletariats ... muss sich im Maße, wie der sozialistische Aufbau sich entwickelt, lockern und fortschreitend in proletarische Demokratie umwandeln“. In diesen wenigen Zeilen stecken zwei fundamentale prinzipielle Fehler. Die Diktatur des Proletariats wird der proletarischen Demokratie gegenübergestellt. Indes, die Diktatur des Proletariats kann und muss ihrem Wesen gemäß höchste Entfaltung der proletarischen Demokratie sein. Zur Durchführung einer grandiosen sozialen Revolution bedarf das Proletariat der höchsten Offenbarung all seiner Kräfte und Fähigkeiten: es organisiert sich demokratisch, gerade um seine Feinde zu bezwingen. Die Diktatur soll, nach Lenin, „jede Köchin lehren, den Staat zu lenken“. Das Schwert der Diktatur ist gegen die Klassenfeinde gerichtet. Grundlage der Diktatur bildet die proletarische Demokratie.
Bei Zyromsky ersetzt die proletarische Demokratie die Diktatur „in dem Maße, wie sich der sozialistische Aufbau entwickelt“. Das ist eine ganz falsche Perspektive. In dem Maße, wie die bürgerliche Gesellschaft in die sozialistische übergeht, stirbt die proletarische Demokratie zusammen mit der Diktatur ab, denn der Staat selbst stirbt ab. In der sozialistischen Gesellschaft wird für „proletarische Demokratie“ kein Platz sein, erstens wegen Nichtvorhandenseins eines Proletariats, zweitens wegen fehlender Notwendigkeit einer Staatsgewalt. Darum wird die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft nicht die Umwandlung der Diktatur in Demokratie mit sich bringen, sondern deren gemeinsames Aufgehen in der wirtschaftlichen und kulturellen Organisation der sozialistischen Gesellschaft.
Wir hätten uns bei diesem Fehler nicht aufgehalten, wäre er rein theoretisch gewesen. Tatsächlich aber verbirgt sich dahinter ein ganzer politischer Plan. Die Theorie von der Diktatur des Proletariats, die Zyromsky, wie er selbst zugibt, bei Dan entlehnt hat, versucht er auf das heutige Regime der Sowjetbürokratie zuzupassen. Er verschließt übrigens bewusst die Augen vor der Frage: warum entwickelt sich trotz den enormen Wirtschaftserfolgen der UdSSR die proletarische Diktatur nicht zur Demokratie hin, sondern zu einem ungeheuerlichen, im persönlichen Regime gipfelnden Bürokratismus? Warum werden, „im Maße wie sich der sozialistische Aufbau entwickelt“, Partei, Sowjets und Gewerkschaften erstickt? Unmöglich ist diese Frage ohne gründliche Kritik am Stalinismus zu beantworten. Aber deshalb will sie Zyromsky ja gerade um jeden Preis vermeiden.
Indessen bezeugt die Tatsache, dass eine unabhängige und unkontrollierte Bürokratie die Verteidigung der sozialen Errungenschaften der proletarischen Revolution an sich gerissen hat, dass wir mit einer kranken, entartenden Diktatur zu tun haben, die sich selbst überlassen nicht bei der „proletarischen Demokratie“, sondern beim vollständigen Zusammenbruch des Sowjetregimes enden wird.
Nur die Revolution im Westen kann die Oktoberrevolution vor dem Untergang bewahren. Die Theorie vom „Sozialismus in einem Lande“ ist in allen ihren Grundlagen falsch. Das Kominternprogramm taugt auch nicht mehr. Die Annahme dieses Programms hieße, den Zug der internationalen Revolution den Damm hinunter kippen. Erste Voraussetzung des Erfolges für das französische Proletariat ist vollständige Unabhängigkeit seiner Avantgarde gegenüber der national-konservativen Sowjetbürokratie. Es ist natürlich das Recht der Kommunistischen Partei, als Basis für die Vereinigung das Kominternprogramm vorzuschlagen: etwas anderes könnte sie gar nicht anbieten. Doch die revolutionären Marxisten, die sich ihrer Verantwortung für das Schicksal des Proletariats bewusst sind, müssen Bucharin-Stalins Programm einer unerbittlichen Kritik unterziehen. Einheit ist etwas Herrliches, doch nicht auf fauliger Grundlage. Die fortschrittliche Aufgabe besteht darin, die sozialistischen und kommunistischen Arbeiter auf der Grundlage des internationalen Programms von Marx und Lenin zu sammeln. Die Interessen des Weltproletariats wie die Interessen der UdSSR (sie unterscheiden sich nicht) fordern den gleichen Kampf sowohl gegen den Reformismus wie gegen den Stalinismus.
Die beiden Internationalen, nicht nur die Zweite, sondern auch die Dritte, sind bis ins Mark erkrankt. Es gibt historische Prüfungen, die untrüglich sind. Große Ereignisse (China, England, Deutschland, Österreich, Spanien) haben ihr Urteil gefällt. Gegen dies an der Saar bekräftigte Urteil ist keine Berufung möglich. Die Vorbereitung einer neuen Internationale, fußend auf der tragischen Erfahrung der letzten zehn Jahre, steht auf der Tagesordnung. Diese grandiose Aufgabe ist selbstverständlich aufs engste mit dem gesamten Gang des proletarischen Klassenkampf es verknüpft, vor allem mit dem Kampf gegen den Faschismus in Frankreich. Um den Feind zu besiegen, muss die Avantgarde des Proletariats sich die mit Opportunismus und Stalinismus unvereinbaren revolutionären marxistischen Methoden zu eigen machen. Wird es uns gelingen, diese Aufgabe zu erfüllen? Engels schrieb einst: „Die Franzosen verbessern sich stets beim Herannahen der Kämpfe“. Hoffen wir, dass sich auch diesmal die Einschätzung unseres großen Meisters bestätigen wird. Aber der Sieg des französischen Proletariats ist denkbar nur, wenn es im Feuer des Kampfes eine wahrhaft revolutionäre Partei gebiert, Eckstein der kommenden neuen Internationale. Das wäre der kürzeste, vorteilhafteste, günstigste Weg zur internationalen Revolution.
Sehr dumm wäre es zu behaupten, sie sei bereits gesichert. Ist ein Sieg möglich, so eine Niederlage leider nicht minder. Die gegenwärtige Politik der Einheitsfront und der beiden Gewerkschaften erleichtert nicht, sondern erschwert den Sieg. Es ist ganz klar, dass im Falle der Zerschlagung des französischen Proletariats seine beiden Parteien ein für allemal von der Bildfläche verschwinden werden. Die Notwendigkeit einer neuen Internationale, auf neuen Grundlagen, würde dann jedem Arbeiter einleuchten. Doch ist es ebenfalls klar, dass die Errichtung der Vierten Internationale im Falle des Sieges des Faschismus in Frankreich auf tausend Hindernisse stoßen, äußerst langsam vonstatten gehen, und der Brennpunkt der ganzen revolutionären Arbeit sich dann höchstwahrscheinlich nach Amerika verlagern würde.
So führen beide historischen Varianten – Sieg und Niederlage des französischen Proletariats – gleicherweise, wenn auch verschieden schnell, auf den Weg der Vierten internationale. Ausdruck eben dieser geschichtlichen Tendenz sind die Bolschewiki-Leninisten. Abenteurertum in allen seinen Formen ist ihnen fremd. Es handelt sich nicht darum, die Vierte Internationale künstlich zu „proklamiereren“, sondern sie systematisch vorzubereiten. An Hand der Erfahrung aus den Ereignissen gilt es den vorgeschrittenen Arbeitern zu zeigen und zu beweisen, dass die Programme und Methoden der beiden Internationalen in unüberbrückbarem Widerspruch stehen zu den Anforderungen der proletarischen Revolution, und dass dieser Widerspruch nicht ab-, sondern im Gegenteil unaufhörlich zunimmt. Aus dieser Analyse ergibt sich die einzig mögliche Generallinie: theoretische und praktische Vorbereitung der Vierten Internationale.
Im Februar 1935 fand eine internationale Konferenz mehrerer, weder der Zweiten noch der Dritten Internationale angehörenden Organisationen statt (zwei holländische Parteien, die deutsche SAP, die englische ILP usw.). Mit Ausnahme der Holländer, die auf dem Boden des revolutionären Marxismus stehen, vertraten alle anderen Teilnehmer verschiedene, meist sehr konservative Abarten des Zentrismus. 1. Doriot, der an dieser Konferenz teilnahm, schrieb in seinem Bericht: „In einer Zeit, wo die Krise des Kapitalismus die Thesen des Marxismus schlagend bewahrheitet ... sind die zu diesem Zweck sei es von der Zweiten oder von der Dritten Internationale geschaffenen Parteien sämtlich ihrer Mission untreu geworden„. Halten wir uns nicht dabei auf, dass Doriot im Laufe des zehnjährigen Kampfes gegen die Linke Opposition selber mitgeholfen hat, die Komintern zu zersetzen. Erinnern wir im Besonderen nicht an die traurige Rolle Doriots in Bezug auf die chinesische Revolution. Buchen wir einfach, dass Doriot 1935 den Bankrott der Zweiten und der Dritten Internationale begriffen und erkannt hat. Folgerte für ihn daraus die Notwendigkeit der Vorbereitung der neuen Internationale? Das annehmen heißt den Zentrismus schlecht kennen. Zur Idee der neuen Internationale schreibt Doriot: „Diese Idee des Trotzkismus ist von der Konferenz ausdrücklich verurteilt worden“. Doriot geht zu weit, wenn er von „ausdrücklicher Verurteilung“ spricht, doch ist es wahr, dass die Konferenz gegen die beiden holländischen Delegierten die Idee der Vierten Internationale ablehnte. Welches ist nun aber eigentlich das Programm der Konferenz? Das, kein Programm zu haben. Bei ihrer alltäglichen Arbeit bleiben die Konferenzteilnehmer abseits von den internationalen Aufgaben der proletarischen Revolution und denken kaum daran. Aber alle anderthalb Jahr halten sie einen Kongress ab, um ihr Herz zu erleichtern und zu erklären: „Die Zweite und die Dritte Internationale haben Bankrott gemacht“. Dann schütteln sie betrübt die Köpfe und gehen wieder auseinander. Diese „Organisation“ sollte eher heißen: Büro zur Veranstaltung einer alljährlichen Totenfeier für die Zweite und Dritte Internationale. Diese ehrenwerten Leute bilden sich ein, „Realisten“, „Taktiker“, ja „Marxisten“ zu sein. In einem fort sagen sie Sprüchlein her wie: „Man darf nicht ergreifen“. „Die Massen haben noch nicht begriffen“, usw. Aber warum greift ihr denn selber vor, indem ihr den Bankrott der beiden Internationalen feststellt: die „Massen“ haben es doch noch nicht begriffen? Und die Massen, die es begriffen haben – ohne euer Zutun – sie ... stimmen für Hitler (Saar). Ihr ordnet die Vorbereitung der Vierten Internationale dem „historischen Prozess“ unter. Aber seid ihr nicht selber ein Teil dieses Prozesses? Die Marxisten waren immer bestrebt, an der Spitze des historischen Prozesses zu sein. Welchen Teil eigentlich bildet ihr?
„Die Massen haben noch nicht begriffen“. Aber die Massen sind nicht gleichartig. Neue Ideen werden zuerst von den vorgeschrittenen Elementen aufgenommen. und durch ihre Vermittlung dringen sie in die Massen. Wenn ihr, hehre Weisen, die Notwendigkeit und Unabweisbarkeit der Vierten Internationale begriffen habt, wie könnt ihr nur diese Schlussfolgerung den Massen vorenthalten? Schlimmer noch: nachdem er den Bankrott der bestehenden Internationalen erkannt hat, „verurteilt“ (!!!) Doriot gar die Idee der neuen Internationale:
Welche praktische Perspektive gibt er also der revolutionären Avantgarde? Gar keine. Doch das heißt Verwirrung, Unruhe und Demoralisierung säen.
Das ist die Natur des Zentrismus. Diese Natur gilt es restlos zu begreifen:
Unter dem Druck der Umstände kann dieser oder jener Zentrist in Analyse, Urteil und Kritik sehr weit gehen: in dieser Hinsicht wiederholen die SAP-Führer, die die genannte Konferenz leiteten, haargenau vieles von dem, was die Bolschewiki-Leninisten seit zwei, drei oder zehn Jahren sagten. Aber vor den revolutionären Schlussfolgerungen macht der Zentrist stets ängstlich halt. Im Familienkreise eine Totenfeier für die Komintern veranstalten? Warum nicht! Aber die Vorbereitung der neuen Internationale in Angriff nehmen? Nein, lieber ... den Trotzkismus „verurteilen“.
Doriot hat keinerlei Position. Und er will auch gar keine haben. Nach dem Bruch mit der Kominternbürokratie hätte er eine ernste, fortschrittliche Rolle spielen können. Aber bis jetzt hat er nicht einmal versucht es zu tun. Er geht den revolutionären Aufgaben aus dem Wege. Er hat sich die SAP-Führer zum Lehrmeister genommen. Will er sich endgültig dem Verein der Zentristen anschließen? Möge er wissen: ein Zentrist ist ein Messer ohne Klinge!
Zuletzt aktualiziert am 23.1.2005