Leo Trotzki

 

Wohin geht Frankreich?

(2. Teil)

 

IV
Sozialismus und bewaffneter Kampf

 

Die große Lehre des 6. Februar 1935

An jenem Tage des 6. Februar 1935 planten die faschistischen Verbände auf dem Concordeplatz zu demonstrieren. Was tut also die Einheitsfront und im Besonderen das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei? Es ruft die Pariser Arbeiter auf, zur gleichen Stunde wie die Faschisten auf dem Concordeplatz zu demonstrieren. Die Faschisten kommen wohl ohne Waffen? Nein, seit einem Jahr bewaffnen sie sich mit doppeltem Eifer. Vielleicht würde das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei die Abwehrstaffeln ausreichend bewaffnen? Oh nein! das Zentralkomitee ist gegen „Putschismus“ und „physischen Kampf“. Aber wie ist es dann möglich, Zehntausende von Arbeitern unbewaffnet, unvorbereitet, schutzlos den bewundernswert organisierten und bewaffneten, das revolutionäre Proletariat mit blutigem Hass verfolgenden faschistischen Banden entgegenzutreiben?

Mögen Schlauköpfe uns nur nicht sagen, das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei hätte gar nicht die Absicht gehabt, die Arbeiter vor die faschistischen Revolver zu treiben, sondern Flandin nur einen passenden Vorwand geben wollen, die faschistische Demonstration zu verbieten. Das ist ja noch schlimmer. Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei hatte demnach mit den Köpfen der Arbeiter gespielt, und der Ausgang dieses Spiels hing einzig und allein von Flandin, oder genauer von den Polizeichefs aus Chiappes Schule ab. Und was wäre geschehen, wenn man auf der Polizeipräfektur beschlossen hätte, die Gelegenheit wahrzunehmen und den revolutionären Arbeitern vermittelst der Faschisten eine Lektion zu erteilen, zumal die Verantwortung für das Blutbad auf die Führer der Einheitsfront zurückgefallen wäre? Die Folgen kann man sich unschwer vorstellen! Wurde diesmal das Blutbad auch vermieden, im Falle der Fortsetzung derselben Politik wird es bei der ersten ähnlichen Gelegenheit unvermeidlich und bestimmt eintreten.

 

„Putschismus“ und Abenteurertum

Das Benehmen des Zentralkomitees war bürokratisches Abenteurertum reinsten Wassers. Die Marxisten haben stets gelehrt, Opportunismus und Abenteurertum sind nur zwei Seiten derselben Medaille. Der 6. Februar 1935 zeigt mit bemerkenswerter Deutlichkeit, wie leicht sich die Medaille dreht.

„Wir sind gegen den Putschismus, gegen die Aufstandsmethoden!“, so redete jahrelang Otto Bauer, der den Schutzbund (Arbeitermiliz), Erbschaft der Revolution von 1918, nicht loszuwerden vermochte. Die mächtige österreichische Sozialdemokratie wich feig zurück, passte sich der Bourgeoisie an, wich wieder zurück, veranstaltete alberne „Petitionen“. gab sich den falschen Anschein zu kämpfen, setzte Hoffnungen auf ihren Flandin (mit Namen Dollfuß), gab eine Position nach der anderen preis, und als sie ganz in der Sackgasse stak, begann sie hysterisch zu schreien: „Arbeiter, zu Hilfe!“ Die besten Kämpfer stürzten sich ohne Verbindung mit den desorientierten, niedergeschlagenen und betrogenen Massen in den Kampf und erlitten die unvermeidliche Niederlage. Wonach Otto Bauer und Julius Deutsch erklärten: „Wir haben als Revolutionäre gehandelt, aber das Proletariat hat uns nicht unterstützt!“

Die spanischen Ereignisse verliefen nach demselben Schema. Die sozialdemokratischen Führer riefen die Arbeiter erst dann zum Aufstand. als sie der Bourgeoisie alle eroberten revolutionären Positionen abgetreten und die Volksmassen durch ihre Rückzugspolitik ermattet hatten. Die berufsmäßigen „Antiputschisten“ sahen sich gezwungen, zur bewaffneten Verteidigung aufzurufen, und zwar unter Bedingungen, wo diese Verteidigung großenteils den Charakter eines „Putsches“ bekam.

Der 6. Februar 1935 war in Frankreich eine Wiederholung der österreichischen und spanischen Ereignisse im Kleinen. Monatelang haben die Stalinisten die Arbeiter eingeschläfert und demoralisiert. die Losung der Miliz lächerlich gemacht und den physischen Kampf „abgelehnt“, um dann plötzlich ohne die mindeste Vorbereitung dem Proletariat zu befehlen:

„Vorwärts marsch, zur Concorde!“. Diesmal hat der liebe Langeron sie gerettet. Morgen aber, wenn die Atmosphäre noch erhitzter sein wird, wenn die faschistischen Halunken die Arbeiterführer zu Dutzenden ermorden oder die Humanité in Brand stecken – wer sagt, das sei unwahrscheinlich? – dann wird das weise Zentralkomitee bestimmt rufen: „Arbeiter, zu den Waffen!“ Und später im Konzentrationslager oder, wenn sie es soweit bringen, in den Straßen von London, werden dieselben Führer mit Stolz verkünden: „Wir haben zum Aufstand gerufen, aber die Arbeiter sind uns nicht gefolgt!“

 

Voraussicht und Vorbereitung tut Not

Das Geheimnis des Erfolges liegt natürlich nicht im „physischen Kampf“ selbst, sondern in der richtigen Politik. Richtig aber nennen wir eine Politik, die den Verhältnissen von Zeit und Raum entspricht. An sich löst die Arbeitermiliz das Problem nicht. Doch die Arbeitermiliz ist notwendiger Bestandteil der Zeit und Raum entsprechenden Politik. Unsinnig wäre es, mit Revolvern auf die Wahlurne zu feuern. Aber noch unsinniger wäre es, sich gegen die faschistischen Banden mit dem Stimmzettel verteidigen zu wollen.

Die ersten Kerngruppen der Arbeitermiliz sind unvermeidlich schwach, vereinzelt und unerfahren. Routiniers und Skeptiker werden verächtlich den Kopf schütteln. Es gibt Zyniker, die sich nicht schämen, im Gespräch mit Journalisten des Comité des Forges über den Gedanken der Arbeitermiliz zu spotten. Wenn sie sich so gegen das Konzentrationslager sichern zu können glauben, da irren sie sich. Der Imperialismus schert sich nicht um die Kriecherei dieses oder jenes Führers, für ihn gilt es die Klasse zu zertreten.

Als Guesde und Lafargue in ihren jungen Jahren sich an die Propaganda des Marxismus machten, galten sie in den Augen der gescheiten Philister für machtlose Einzelgänger und naive Utopisten. Dennoch sind sie es gewesen. die dieser Bewegung, die soviel geriebene Parlamentarier mit sich schleppt, das Bett gruben. Auf literarischem, gewerkschaftlichem und genossenschaftlichem. Gebiet waren die ersten Schritte der Arbeiterbewegung schwach, schwankend und unsicher. Trotz seiner Armut hat das Proletariat dank seiner Zahl und seinem Opfergeist mächtige Organisationen geschaffen.

Die bewaffnete Organisation des Proletariats, die in diesem Augenblick beinahe vollständig mit der Abwehr des Faschismus zusammenfällt, ist ein neuer Zweig des Klassenkampfes. Auch hier sind die ersten Schritte ungeübt und unbeholfen. Man muss auf Fehler gefasst sein. Ja, es ist unmöglich, die Provokation ganz zu vermeiden. Die Kaderauslese wird nach und nach um so zuverlässiger, um so solider ausfallen, je näher die Miliz der Fabrik stehen wird, wo die Arbeiter einander gut kennen.

Doch die Initiative muss notwendigerweise von oben ausgehen. Die Partei kann und soll die ersten Kader liefern. Denselben Weg müssen auch die Gewerkschaften beschreiten, und sie werden es unvermeidlich tun. Diese Kader werden um so rascher an Zusammenhalt und Kraft gewinnen, je mehr Sympathie und Hilfe ihnen seitens der Arbeiterorganisationen und darüber hinaus seitens der werktätigen Massen zuteil wird.

Was von diesen Herren sagen, die anstelle Sympathie und Unterstützung, nur Tadel und Spott übrig haben, oder schlimmer, vor dem Klassenfeind die Arbeiterselbstschutzstaffeln als „Aufstands“- und „Putsch“garden hinstellen? Man sehe sich unter anderen das sozialistische Blatt Combat Marxiste („Marxistischer (!) Kampf (?)“) an. Gelehrte und halbgelehrte Pedanten, Jouhaux’ theoretische Adjutanten, geleitet von russischen Menschewiki, höhnen boshaft über die ersten Schritte der Arbeitermiliz. Diese Herren sind unmöglich anders denn als erklärte Feinde der proletarischen Revolution zu bezeichnen.

 

 

Arbeitermiliz und Heer

Hier aber rücken die konservativen Routiniers mit ihrem letzten Argument heraus. „Glaubt ihr denn, das Proletariat könne mit schlecht bewaffneten Miliz- gruppen die Macht erobern, d.h. das heutige Heer mit seiner modernen Technik (Tanks! Flugzeuge!! Gase!!!) besiegen?...“ Schwerlich ist ein platteres und trivialeres, obendrein hundertfach durch Theorie und Geschichte widerlegtes Argument auszudenken. Und doch muss es jedesmal als das letzte Wort des „realistisches“ Denkens herhalten.

Selbst wenn man einen Augenblick annimmt, die Milizstaffeln würden sich morgen im Kampf um die Macht als unzulänglich herausstellen, so sind sie darum heute zur Verteidigung nicht weniger notwendig. Die CGT-Führer lehnen bekanntlich jeden Kampf um die Macht ab. Das wird die Faschisten nicht im mindesten davon abhalten, die CGT zu zertrümmern. Gewerkschaftsführer, die nicht rechtzeitig Verteidigungsmaßnahmen ergreifen. begehen ein Verbrechen an den Gewerkschaften, ganz unabhängig von ihrem politischen Kurs.

Schauen wir uns indessen das gewichtigste Argument der Pazifisten näher an. „Bewaffnete Arbeiterabteilungen sind gegenüber dem Heer unserer Tage ohnmächtig“. Dies „Argument“ richtet sich ha Grunde nicht gegen die Miliz, sondern gegen die Idee der proletarischen Revolution selbst. Nimmt man einen Augenblick lang an, das bis an die Zähne bewaffnete Heer werde unter allen Umständen auf der Seite des Großkapitals stehen, dann soll man nicht nur auf die Arbeitermiliz verzichten, sondern auf den Sozialismus überhaupt. Dann wäre der Kapitalismus ewig.

Zum Glück ist das nicht der Fall. Die proletarische Revolution bedingt äußerste Verschärfung des Klassenkampfes, in der Stadt und auf dem Lande, und folglich auch im Heer. Die Revolution wird nur dann siegen, wenn sie den Hauptteil des Heeres für sich gewonnen oder mindestens neutralisiert hat. Das lässt sich allerdings nicht improvisieren, das muss systematisch vorbereitet werden.

Hier unterbricht uns der pazifistische Doktrinär, um – in Worten – sich mit uns einverstanden zu erklären. „Natürlich“, wird er sagen, „muss man das Heer mit unablässiger Propaganda gewinnen“. Das tun wir ja. Der Kampf gegen die hohe Sterblichkeit in den Kasernen, gegen die zwei Jahre, gegen den Krieg – der Erfolg in diesem Kampf macht die Arbeiterbewaffnung überflüssig.

Stimmt das? Nein, das ist grundfalsch. Friedliche und ungetrübte Gewinnung des Heeres ist noch weniger möglich als friedliche Gewinnung einer Parlamentsmehrheit. Schon die sehr gemäßigten Kampagnen gegen die Sterblichkeit in den Kasernen und gegen die zwei Jahre haben ohne Zweifel eine Annäherung und geradezu ein Komplott der patriotischen Verbände mit den reaktionären Offizieren zur Folge, sowie die Verdoppelung der Subsidien des Finanzkapitals an die Faschisten. Je größer der Erfolg der anti-militaristischen Agitation, desto schneller wächst die faschistische Gefahr. Das ist die reale und nicht erfundene Dialektik des Kampfes. Daraus ist der Schluss zu ziehen, dass es schon im Prozess der Propaganda und der Vorbereitung sich mit der Waffe in der Hand, und von Mal zu Mal besser zu verteidigen gilt.

 

Während der Revolution

Die Revolution wird unvermeidlich Schwanken und Kampf innerhalb der Armee mit sich bringen. Selbst die am meisten fortgeschrittenen Teile werden erst dann offen und aktiv auf die Seite des Proletariats übergehen. wenn sie mit eigenen Augen sehen, dass die Arbeiter sich schlagen wollen und imstande sind zu siegen. Aufgabe der faschistischen Banden wird es sein, die Annäherung zwischen dem revolutionären Proletariat und der Armee nicht zu erlauben. Die Faschisten werden den Arbeiteraufstand schon im Keime zu ersticken suchen, um dem besten Teil des Heeres die Möglichkeit zu nehmen, die Aufständischen zu unterstützen. Gleichzeitig werden die Faschisten den reaktionären Armeeteilen helfen, die revolutionärsten und unzuverlässigsten Regimenter zu entwaffnen.

Welches wird in diesem Fall unsere Aufgabe sein?

Es ist ausgeschlossen, im voraus anzugeben, wie die Revolution in einem bestimmten Lande verlaufen wird. Aber auf Grund der gesamten historischen Erfahrung kann man mit Bestimmtheit behaupten, dass der Aufstand in keinem Fall und in keinem Land den Charakter eines bloßen Zweikampfes zwischen der Arbeitermiliz und dem Heer annehmen wird. Das Kräfteverhältnis wird viel komplizierter und für das Proletariat weitaus günstiger sein. Die Arbeitermiliz wird – nicht durch ihre Bewaffnung, sondern durch ihr Bewusstsein und ihren Heroismus – Vorhut der Revolution sein. Der Faschismus aber die Vorhut der Konterrevolution. Die Arbeitermiliz muss mit Unterstützung der ganzen Klasse, mit Sympathie aller Arbeiter die Verbrecherbanden der Reaktion schlagen, entwaffnen und terrorisieren, um so den Arbeitern den Weg zur revolutionären Verbrüderung mit der Armee freizumachen. Im Bunde werden Arbeiter und Soldaten den konterrevolutionären Teilen den Garaus machen. So wird der Sieg sicher sein.

Skeptiker werden verächtlich mit den Schultern zucken. Das tun Skeptiker vor jeder siegreichen Revolution. Das Proletariat täte gut daran, die Skeptiker aufzufordern, sich aus dem Staube zu machen. Die Zeit ist zu kostbar, um den Tauben auseinanderzusetzen, was Musik, den Blinden, was Farben, und den Skeptikern, was sozialistische Revolution ist.

 


Zuletzt aktualiziert am 15.10.2003