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Erste und wichtigste Voraussetzung einer revolutionären Situation ist eine unerträgliche Verschärfung der Widersprüche zwischen den Produktivkräften und den Eigentumsformen. Die Nation hört auf, vorwärtszugehen. Der Stillstand, und darüber hinaus der Rückgang in der Entwicklung der Wirtschaftskräfte bedeuten, dass die kapitalistische Produktionsweise endgültig erschöpft ist und der sozialistischen weichen muss.
Die gegenwärtige Krise, die alle Länder erfasst und die Wirtschaft jahrzehnteweit zurückwirft, hat die bürgerliche Ordnung ein für allemal ad absurdum geführt. Zerschlugen in der Frühzeit des Kapitalismus ausgehungerte und unwissende Arbeiter die Maschinen, so sind es heute die Kapitalisten selber, die Maschinen und Fabriken zerstören. Bei weiterem Bestand des Privateigentums an den Produktionsmitteln droht der Menschheit Barbarei und Degeneration.
Grundlage der Gesellschaft ist ihre Wirtschaft Diese Grundlage ist reif für den Sozialismus in doppeltem Sinn: die moderne Technik hat einen solchen Grad erreicht, dass sie dem Volk und der ganzen Menschheit hohen Wohlstand gewährleisten könnte, aber das überlebte kapitalistische Eigentum verdammt das Volk zu immer größerer Armut und Not.
Die ökonomische Grundvoraussetzung ist schon lange vorhanden. Aber der Kapitalismus wird nicht von selbst abtreten. Nur die Arbeiterklasse vermag die Produktivkräfte den Händen der Ausbeuter und Würger zu entreißen. Die Geschichte stellt uns diese Aufgabe mit aller Schärfe. Ist das Proletariat aus dem einen oder anderen Grunde außerstande, die Bourgeoisie zu stürzen und die Macht zu ergreifen, wird es z.B. von seinen eigenen Parteien und Gewerkschaften gelähmt, dann wird der Verfall von Wirtschaft und Zivilisation fortschreiten, die Missstände werden wachsen, Verzweiflung und Ermattung werden sich der Massen bemächtigen, der abgelebte. verfaulende, morsche Kapitalismus wird das Volk stets mehr würgen, es in den Abgrund neuer Kriege reißen. Außer der sozialistischen Revolution ist keine Rettung.
Der Vorstand der Komintern hatte zunächst versucht, die 1929 einsetzende Krise für die letzte des Kapitalismus zu erklären. Zwei Jahre später erklärte Stalin, die gegenwärtige Krise sei „wahrscheinlich“ noch nicht die letzte. Auch im sozialistischen Lager begegnen wir dem gleichen Prophezeiungsversuch: ist es die letzte Krise oder nicht?
„Es wäre unklug zu behaupten“, schreibt Blum im Populaire vom 23. Februar, „dass die gegenwärtige Krise eine letzte Verkrampfung des Kapitalismus sei, ein letztes Zucken vor Agonie und Verwesung“ Dieselbe Ansicht teilt Grumbach, der am 26. Februar in Mühlhausen sagte: „Einige behaupten, diese Krise sei vorübergehend, andere sehen darin die Endkrise des kapitalistischen Systems. Wir wagen es noch nicht, uns definitiv zu äußern“.
In dieser Art der Fragestellung stecken zwei Kardinalfehler: erstens wird dabei Konjunkturkrise und historische Krise des gesamten kapitalistischen Systems durcheinandergeworfen, zweitens wird angenommen, unabhängig von der bewussten Aktivität der Klassen könne eine Krise von selber die „letzte“ sein.
Unter der Herrschaft des Industriekapitals zur Zeit der freien Konkurrenz überwogen die Konjunkturaufstiege bei weitem die Krisen, die ersten waren die „Regel“. die zweiten die „Ausnahme“ der Kapitalismus in seiner Gesamtheit war im Aufstieg begriffen. Seit dem Krieg, mit der Herrschaft des Monopol- und Finanzkapitals. überwiegen die Konjunkturkrisen bei weitem die Belebungen: man kann sagen, die Krisen sind zur Regel geworden und Aufschwünge die Ausnahme; die Wirtschaftsentwicklung als Ganzes geht bergab und nicht bergauf.
Nichtsdestoweniger sind Konjunkturschwankungen unvermeidlich, und unter dem kranken Kapitalismus werden sie fortbestehen, solange der Kapitalismus besteht. Und der Kapitalismus wird fortbestehen, solange die proletarische Revolution ihm nicht den Garaus macht. Das ist die einzig richtige Antwort.
Der proletarische Revolutionär muss vor allem begreifen, dass der Marxismus, die einzige wissenschaftliche Theorie von der proletarischen Revolution, nichts gemein hat mit fatalistischem Warten auf die „letzte“ Krise. Der Marxismus ist seinem Wesen nach eine Anleitung zu revolutionärem Handeln. Der Marxismus ignoriert nicht Willen und Mut, sondern hilft ihnen auf den richtigen Weg.
Es gibt keine Krise, die von selber für den Kapitalismus „tödlich“ werden könnte. Die Konjunkturschwankungen schaffen lediglich Situationen, in denen es dem Proletariat leichter oder schwerer fällt, den Kapitalismus zu stürzen. Der Übergang von der bürgerlichen zur sozialistischen Gesellschaft hat zur Voraussetzung das Handeln lebender Menschen, die ihre eigene Geschichte gestalten. Dabei gehorchen sie nicht dem Zufall oder ihrer Lust, sondern dem Einfluss bestimmter objektiver Ursachen. Ihre eigenen Handlungen aber – ihre Initiative, Kühnheit, Aufopferung, oder umgekehrt Dummheit und Feigheit – bilden notwendige Glieder in der Kette der historischen Entwicklung.
Niemand hat die Krisen des Kapitalismus numeriert und im voraus angemerkt, welche die „letzte“ sein soll. Aber unsere ganze Epoche und vor allein die gegenwärtige Krise gebieten dem Proletariat: nimm die Macht! Zeigt sich jedoch die Arbeiterpartei trotz günstigen Umständen unfähig, das Proletariat zur Machteroberung zu führen, dann wird die Gesellschaft notwendigerweise auf kapitalistischer Grundlage fortleben – bis zu einer neuen Krise oder einem neuen Krieg, vielleicht bis zum vollständigen Zusammenbruch der europäischen Zivilisation.
Der imperialistische Krieg von 1914-18 stellte auch eine „Krise“ im Leben des Kapitalismus dar und wohl die fürchterlichste aller möglichen Krisen. In keinem Buche steht geschrieben, ob dieser Krieg der letzte blutige Wahnsinn des Kapitalismus war oder nicht. Die Erfahrung Russlands hat gezeigt, dass der Krieg dem Kapitalismus ein Ende setzen konnte. In Deutschland und Österreich war das Schicksal der bürgerlichen Gesellschaft 1918 vollkommen abhängig von der Sozialdemokratie, aber diese Partei erwies sich als ein Knecht des Kapitals. In Italien und Frankreich hätte das Proletariat am Ende des Krieges die Macht erobern können, aber an seiner Spitze fehlte eine revolutionäre Partei. Kurz, hätte die Zweite Internationale nicht im Augenblick des Krieges die Sache des Sozialismus zugunsten des bürgerlichen Patriotismus verraten, dann würde die ganze Geschichte Europas und der Menschheit heute ganz anders aussehen. Die Vergangenheit ist allerdings nicht wiedergutzumachen. Doch kann und muss man die Lehren der Vergangenheit beherzigen.
Die Entwicklung des Faschismus ist an sich der unwiderlegbare Beweis für die Tatsache, dass die Arbeiterklasse in der Erfüllung der Aufgabe, die ihr der Niedergang des Kapitalismus seit langem gestellt hat, schrecklich weit zurück ist.
Die Worte: diese Krise ist noch nicht die „letzte“, können allein diesen Sinn haben: trotz den Lehren des Krieges und der Nachkriegswirren haben die Arbeiterparteien es noch nicht verstanden, weder sich noch das Proletariat auf die Machtergreifung vorzubereiten: schlimmer, die Führer dieser Parteien sehen bis heute noch nicht einmal die Aufgabe selbst, sondern überlassen diese ihre eigene Aufgabe, die Aufgabe ihrer Partei und der Klasse, der „historischen Entwicklung“. Fatalismus, das Ist theoretischer Verrat am Marxismus und Rechtfertigung des politischen Verrats am Proletariat, d.h. Vorbereitung erneuter Kapitulation vor einem neuen „letzten“ Kriege.
Der Fatalismus der Sozialdemokratie ist ein Erbe aus der Vorkriegszeit, als der Kapitalismus fast unaufhörlich wuchs, die Zahl der Arbeiter stieg, die Zahlen der Parteimitglieder, die Stimmen bei den Wahlen und die Mandate zunahmen. Dieser automatische Aufstieg erzeugte allmählich die reformistische Illusion, man brauche nur auf dem alten Wege (Propaganda, Wahlen, Organisation) fortzugehen, und der Sieg werde sich von selber einstellen.
Zwar hat der Krieg den Automatismus der Entwicklung zerstört. Aber der Krieg ist ja eine „Ausnahmeerscheinung“. Mit Genfs Hilfe wird es keine neuen Kriege mehr geben, alles wird seinen normalen Lauf nehmen und der Automatismus der Entwicklung wird wiederhergestellt sein.
Im Lichte dieser Perspektive müssen die Worte: „Es ist dies die letzte Krise noch nicht“ bedeuten: „In 5, 10, 20 Jahren werden wir mehr Stimmen und Sitze haben, dann werden wir hoffentlich die Macht übernehmen“. (Siehe Artikel und Reden von Paul Faure). Dieser fatalistische Optimismus, der vor einem Vierteljahrhundert überzeugend schien, klingt heute wie eine Stimme aus dem Jenseits. Grundfalsch ist die Vorstellung, das Proletariat werde, der künftigen Krise entgegengehend, unfehlbar mächtiger werden als es heute ist. Bei der unvermeidlich fortschreitenden Verfaulung des Kapitalismus wird das Proletariat nicht wachsen und stärker werden, sondern sich zersetzen, und das Heer der Arbeitslosen und Lumpenproletarier wird stets größer werden, das Kleinbürgertum wird unterdessen der Deklassiererung und Verzweiflung anheimfallen. Der Zeitverlust eröffnet dem Faschismus eine Perspektive. und nicht der proletarischen Revolution.
Es ist bemerkenswert. dass auch die durch und durch bürokratisierte Komintern die Theorie der revolutionären Aktion durch die Religion des Fatalismus ersetzt hat. Kampf ist unmöglich, denn es ist ja „keine revolutionäre Situation“ da. Aber die revolutionäre Situation fällt nicht vom Himmel, sie entsteht im Klassenkampf. Die Partei des Proletariats ist der wichtigste politische Faktor bei der Entstehung einer revolutionären Situation. Wenn diese Partei den revolutionären Aufgaben den Rücken kehrt, wenn sie die Arbeiter einlullt und betrügt, um mit Petitionen zu spielen und sich mit den Radikalen zu verbrüdern, dann wird notwendig nicht eine revolutionäre, sondern eine konterrevolutionäre Situation entstehen.
Der Verfall des Kapitalismus bei einer außerordentlich hohen Entwicklungsstufe der Produktivkräfte ist die ökonomische Voraussetzung für die sozialistische Revolution. Auf dieser Grundlage spielt sich der Klassenkampf ab, im heißen Klassenkampf entsteht und reift die revolutionäre Situation.
Wie beurteilt die Großbourgeoisie, Herrscherin über die Gesellschaft unserer Tage, die gegenwärtige Situation, und wie handelt sie? Der 6. Februar 1934 kam unerwartet nur für die Arbeiterorganisationen und für das Kleinbürgertum. Die Großkapitalszentren waren schon längst an der Verschwörung beteiligt, deren Ziel war, den Parlamentarismus mit Gewalt durch den Bonapartismus („persönliches“ Regime) zu ersetzen. Das heißt. Banken. Trusts, Generalstab und Presse hielten die Gefahr der Revolution für so nah und unmittelbar, dass sie sich längst durch einen „kleinen“ Staatsstreich darauf vorbereiteten.
Aus dieser Tatsache ergeben sich zwei wichtige Schlussfolgerungen: 1. die Kapitalisten hielten die Situation schon vor 1934 für revolutionär, 2. sie warteten nicht untätig die Entwicklung der Ereignisse ab, um in letzter Minute zur „legalen“ Verteidigung zu greifen, sondern ergriffen selber, die Initiative und schickten ihre Banden auf die Straße. Die Großbourgeoisie erteilte so den Arbeitern eine unschätzbare Lektion in Klassenstrategie.
Die Humanité sagt in einem fort, die „Einheitsfront“ habe Doumergue davongejagt. Das ist gelinde gesagt hohle Prahlerei. Im Gegenteil, wenn das Groß- kapital es möglich und vernünftig fand, Doumergue durch Flandin zu ersetzen, so nur darum, weil die Einheitsfront, wie sich die Bourgeoisie aus eigener Erfahrung überzeugte, noch keine unmittelbar revolutionäre Gefahr darstellt. „Da die schrecklichen Führer der Kommunistischen Internationale der Lage im Lande zum Trotz sich nicht auf den Kampf vorbereiten, sondern vor Furcht zittern, so bedeutet das, dass man mit dem Übergang zum Faschismus warten kann. Warum unnütz die Ereignisse forcieren und vorzeitig die Radikalsozialisten kompromittieren. die man noch nötig haben kann“, das sagen sich die wahren Meister der Lage. Sie erhalten die Nationale Union und deren bonapartistische Verordnungen aufrecht, setzen das Parlament unter Terror, aber Doumergue lassen sie ausruhen. Die Herren des Kapitals haben so an ihrem anfänglichen Urteil eine gewisse Korrektur vorgenommen, da sie erkannten, dass die Situation nicht eine unmittelbar revolutionäre, sondern eine vorrevolutionäre ist.
Zweite hervorragende Lektion in Klassenstrategie! Sie zeigt. dass selbst das Großkapital, das über alle Kommandohebel verfügt, nicht auf einen Schlag, a priori und unfehlbar die politische Lage in ihrer ganzen Realität einzuschätzen vermag: es nimmt den Kampf auf, und im Prozess des Kampfes auf Grund der Kampferfahrungen korrigiert und präzisiert es sein Urteil. Das ist überhaupt das einzig mögliche Verfahren, sich in der Politik genau und gleichzeitig aktiv zu orientieren.
Aber die Führer der Komintern? In Moskau, abseits von der französischen Arbeiterbewegung, geben einige mittelmäßige, schlecht unterrichtete und meist des Französischen unkundige Bürokraten mit Hilfe ihres Thermometers die unfehlbare Diagnose: „Die Situation ist nicht revolutionär“. Und das Zentralkomitee der französischen Kommunistischen Partei hat Augen und Ohren zu schließen und diese hohle Phrase nachzuplappern. Der Weg der Kommunistischen Internationale ist der kürzeste Weg in den Abgrund!
Die Radikalsozialistische Partei ist das politische Werkzeug der Großbourgeoisie, das den Traditionen und Vorurteilen des Kleinbürgertums am besten angepasst ist. Trotzdem haben die verantwortlichsten Führer des Radikalsozialismus unter der Peitsche des Finanzkapitals sich demütig in den Staatsstreich vom 6. Februar. der unmittelbar gegen sie gerichtet war, gefügt. Sie haben somit anerkannt, dass der Gang des Klassenkampfes die Grundinteressen der „Nation“, d.h. der Bourgeoisie. bedroht, und sahen sich gezwungen, die Wahlinteressen ihrer Partei zu opfern. Die Kapitulation der mächtigsten parlamentarischen Partei vor den faschistischen Revolvern und Rasiermessern ist der äußere Ausdruck für den vollständigen Zusammenbruch des politischen Gleichgewichts im Lande. Wer aber diese Worte ausspricht, sagt eben damit: die Situation ist revolutionär, oder genauer, vorrevolutionär. [1]
Die Prozesse, die sich in den kleinbürgerlichen Massen abspielen, sind von außerordentlicher Bedeutung für die Beurteilung der politischen Situation. Die politische Krise des Landes ist vor allem eine Krise des Vertrauens der kleinbürgerlichen Massen in ihre traditionellen Parteien und Führer. Unzufriedenheit, Nervosität, Unstetigkeit und leichte Erregbarkeit des Kleinbürgertums sind äußerst wichtige Züge einer vorrevolutionären Situation. Wie ein Fieberkranker sich von der rechten Seite auf die linke wälzt, kann sich das fiebernde Kleinbürgertum nach rechte oder nach links wenden. Je nachdem, welcher Seite sich in der kommenden Periode die Millionen französischer Bauern, Handwerker, Kleinhändler und kleinen Beamten zuwenden werden, kann die augenblickliche vorrevolutionäre Situation ebenso wohl in eine revolutionäre wie in eine konterrevolutionäre umschlagen.
Eine ökonomische Konjunkturbesserung könnte – nicht für lange Zeit – die Differenzierung des Kleinbürgertums nach rechts oder links wohl verlangsamen, doch nicht aufhalten. Umgekehrt, wird die Krise sich verschärfen, so wird der Zusammenbruch des Radikalsozialismus und aller ihm nahestehenden parlamentarischen Gruppierungen doppelt geschwind vor sich gehen.
Man soll jedoch nicht meinen, dass der Faschismus notwendigerweise eine mächtige parlamentarische Partei sein muss, bevor er die Macht ergreift. Das war in Deutschland der Fall, aber in Italien war es anders. Damit der Faschismus siege, ist keineswegs erforderlich, dass das Kleinbürgertum zuvor mit den alten „demokratischen“ Parteien bricht: es genügt, dass es das Vertrauen, das es zu ihnen hatte, verliert und unruhig nach neuen Wegen Ausschau hält.
Bei den bevorstehenden Gemeindewahlen kann das Kleinbürgertum noch eine recht ansehnliche Anzahl Stimmen für die Radikalsozialisten oder benachbarte Gruppen abgehen. infolge Fehlens einer neuen politischen Partei, der es gelänge. das Vertrauen der Bauern und des kleinen Mannes der Stadt zu erobern. Und gleichzeitig kann mit Hilfe der Großbourgeoisie einige Monate nach den Wahlen ein militärischer Gewaltstreich des Faschismus stattfinden und durch seinen Druck die Sympathien der verzweifeltsten Schichten des Kleinbürgertums gewinnen.
Darum wäre es eine grobe Illusion, sich damit zu vertrösten, dass die Fahne des Faschismus in der Provinz und auf dem Lande noch nicht populär geworden ist. Die antiparlamentarischen Tendenzen beim Kleinbürgertum können, wenn sie aus dem Bett der offiziellen parlamentarischen Politik der Parteien hinaustreten, direkt und unmittelbar einen militärischen Gewaltstreich unterstützen, wenn dieser für das Heil des Großkapitals notwendig werden wird. Eine derartige Handlungsweise entspricht weit mehr sowohl den französischen Traditionen wie dem französischen Temperament. [2]
Die Wahlziffern haben selbstverständlich eine symptomatische Bedeutung. Aber sich allein auf dieses Anzeichen stützen, hieße sich des parlamentarischen Kretinismus schuldig machen. Es handelt sich um viel tiefere Prozesse, die eines schönen Tages die Herren Parlamentarier unversehens überraschen können. Hier wie auf anderen Gebieten entscheidet nicht die Arithmetik, sondern die Dynamik des Kampfes. Die Großbourgeoisie nimmt nicht passiv die Entwicklung der Mittelklassen zur Kenntnis, sondern schmiedet eiserne Zangen, mit deren Hilfe sie im geeigneten Moment die von ihr gequälten und verzweifelten Massen packen kann.
Das marxistische Denken ist dialektisch: es betrachtet alle Erscheinungen in ihrer Entwicklung, bei ihrem Übergang von einem Zustand in den anderen. Das Denken des konservativen Kleinbürgers ist metaphysisch: seine Vorstellungen sind unbeweglich und unwandelbar, zwischen den Erscheinungen befinden sich bei ihm undurchdringbare Scheidewände. Die absolute Gegenüberstellung einer revolutionären und einer nichtrevolutionären Situation stellt ein klassisches Beispiel metaphysischen Denkens dar, nach der Formel: ja, ja, – nein, nein, – alles Andere ist vom Übel.
Im Prozess der Geschichte begegnet man stabilen, vollständig unrevolutionären Situationen. Man begegnet auch ausgesprochen revolutionären Situationen. Es gibt auch konterrevolutionäre Situationen (das soll man nicht vergessen!). Was aber in unserer Epoche, der Epoche des faulenden Kapitalismus ganz besonders vorherrscht, das sind mittlere und Übergangssituationen: zwischen nichtrevolutionären und vorrevolutionären, zwischen vorrevolutionären und revolutionären oder ... konterrevolutionären Situationen. Gerade diese Übergangszustände sind von ausschlaggebender Bedeutung vom Standpunkt der politischen Strategie.
Was würden wir von einem Maler sagen, der nur die beiden extremen Farben des Spektrums zu unterscheiden vermöchte? Dass er farbenblind oder halbblind ist und auf den Pinsel verzichten soll. Was von einem Politiker sagen, der nur imstande wäre, zwei Zustände zu unterscheiden: „revolutionär“ und „nicht-revolutionär“? Dass er kein Marxist ist, sondern ein Stalinist, der wohl einen guten Beamten abgeben mag, aber auf keinen Fall einen proletarischen Führer.
Eine revolutionäre Situation bildet sich durch die Wechselwirkung objektiver und subjektiver Faktoren. Zeigt sich die Partei des Proletariats unfähig, rechtzeitig die Tendenzen der vorrevolutionären Situation zu analysieren und aktiv in deren Entwicklung einzugreifen, dann wird anstelle einer revolutionären unvermeidlich eine konterrevolutionäre Situation entstehen. Eben diese Gefahr droht gegenwärtig dem französischen Proletariat. Die kurzsichtige, passive, opportunistische Politik der Einheitsfront und vor allem der Stalinisten, die deren rechter Flügel geworden sind, das ist das Haupthindernis auf dem Wege zur proletarischen Revolution in Frankreich.
Zuletzt aktualiziert am 22.7.2008