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Geschrieben November 1935.
Transkription: Oliver Fleig.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Die „Volksfront“ ist eine Koalition des Proletariats mit der imperialistischen Bourgeoisie in der Person der Radikalen Partei und anderem faulen Unrat, nicht ganz so hoch aber von gleicher Sorte. Die Koalition erstreckt sich sowohl auf das parlamentarische wie das außerparlamentarische Gebiet. Auf beiden begrenzt die Radikale Partei, während sie selbst volle Handlungsfreiheit behält, brutal die des Proletariats.
Die Radikale Partei selber befindet sich im Verfallsprozess. Jede neue Wahl weist eine Flucht der Wähler nach rechts und nach links auf. Hingegen gewinnen die Sozialistische und die Kommunistische Partei, wegen Fehlens einer wahrhaft revolutionären Partei. Die allgemeine Tendenz der werktätigen Massen, darunter auch der kleinbürgerlichen, geht ganz eindeutig nach links. Die Orientierung der Führer der Arbeiterparteien ist nicht weniger deutlich: nach rechts. Während die Massen mit dem Stimmzettel und durch ihren Kampf die Partei der Radikalen stürzen wollen, sind die Führer der Einheitsfront im Gegenteil bestrebt, sie zu retten. Nachdem die Führer der Arbeiterparteien auf Grund eines „sozialistischen“ Programms das Vertrauen der Arbeitermassen gewonnen haben, treten sie danach freiwillig den Löwenanteil dieses Vertrauens an die Radikalen ab, zu denen die Arbeitermassen selber überhaupt kein Vertrauen haben.
Die „Volksfront“ in ihrer jetzigen Gestalt ist eine schreiende Vergewaltigung nicht nur der Arbeiter-, sondern auch der formalen, d.h. bürgerlichen Demokratie. Die Mehrheit der radikalen Wähler nimmt am Kampf der Werktätigen, und folglich auch an der Volksfront nicht teil. Indes, die Radikale Partei hat in dieser Front nicht nur einen gleichberechtigten, sondern privilegierten Platz inne; die Arbeiterparteien sind gezwungen, ihre Aktivität auf das Programm der Radikalen Partei zu beschränken. Mit der größten Ungeniertheit wird diese Idee von den Zynikern der „Humanité“ angewandt. Bei den letzten Senatswahlen ist die privilegierte Stellung der Radikalen in der Volksfront besonders krass in Erscheinung getreten. Die Führer der Kommunistischen Partei rühmten sich offen, dass sie zugunsten der nichtproletarischen Parteien auf einige Posten, die von Rechte wegen den Arbeitern gehören, verzichteten. Das bedeutet einfach, dass die Einheitsfront den Vermögenswahlzensus zugunsten der Bourgeoisie zum Teil wieder einführt.
Unter „Front“ versteht man die Organisation des direkten und unmittelbaren Kampfes. Wo es den Kampf gilt, wiegt jeder Arbeiter zehn Bourgeois auf, und seien sie auch der Einheitsfront angeschlossen. Vom Standpunkt der revolutionären Kampffähigkeit der Front müssten die Wahlprivilegien nicht den radikalen Bourgeois, sondern den Arbeitern zufallen. Doch Privilegien sind eigentlich gar nicht nötig. Die Volksfront verteidigt die „Demokratie“? Möge sie nur mit deren Anwendung auf die eigenen Reihen beginnen! Das heißt: die Führung der Volksfront muss direkt und unmittelbar den Willen der kämpfenden Massen widerspiegeln.
Wie? Sehr einfach: durch Wahlen. Das Proletariat verbietet niemandem, an seiner Seite gegen den Faschismus, die bonapartistische Lavalregierung, die Militärverschwörung der Imperialisten und alle anderen Formen der Unterdrückung und Niedertracht zu kämpfen. Das Einzige, was die bewussten Arbeiter von ihren tatsächlichen oder eventuellen Verbündeten verlangen, ist, dass sie wirklich kämpfen. Jede Bevölkerungsgruppe, die sich wirklich am Kampf in der augenblicklichen Etappe beteiligt und bereit ist, sich der gemeinsamen Disziplin zu unterwerfen, soll gleichberechtigt auf die Führung der Volksfront einwirken können.
Je zweihundert, fünfhundert oder tausend Bürger, die sich in einer bestimmten Stadt, einem Stadtteil. einer Fabrik, einer Kaserne, in einem bestimmten Dorf der Volksfront anschließen, müssen während der Kampfhandlungen ihren Vertreter in ein lokales Aktionskomitee wählen. Alle Teilnehmer des Kampfes verpflichten sich, die Disziplin dieses Komitees anzuerkennen.
Der letzte Kominternkongress sprach sich in der Resolution zu Dimitroffs Bericht für die Bildung gewählter Aktionskomitees aus als der Massenstütze der Volksfront. Das ist wohl der einzige fortschrittliche Gedanke in der ganzen Resolution. Aber gerade darum rühren die Stalinisten zu seiner Verwirklichung nicht den kleinen Finger. Sie können sich dazu nicht entschließen, ohne die Klassengemeinschaft mit der Bourgeoisie zu sprengen.
Allerdings können an den Wahlen zu den Aktionskomitees nicht nur Arbeiter, sondern auch Angestellte, Beamte, Kriegsteilnehmer, Handwerker, Kleinhändler und Kleinbauern teilnehmen. Auf diese Weise entsprechen die Aktionskomitees vortrefflich den Aufgaben des Kampfes des Proletariats um den Einfluss auf das Kleinbürgertum. Dafür aber erschweren sie ungemein die Zusammenarbeit der Arbeiterbürokratie mit der Bourgeoisie. Allein, die Volksfront in ihrer heutigen Gestalt ist nichts anderes als die organisierte Klassengemeinschaft der politischen Ausbeuter des Proletariats (Reformisten und Stalinisten) mit den politischen Ausbeutern des Kleinbürgertums (Radikale). Wirkliche Massenwahlen zu den Aktionskomitees werden automatisch die bürgerlichen Schieber (Radikale) aus den Reihen der Volksfront verdrängen und damit die verbrecherische von Moskau diktierte Politik in die Luft sprengen.
Es wäre jedoch falsch, zu meinen, man könne einfach an einem bestimmten Tag und zu einer bestimmten Stunde die proletarischen und kleinbürgerlichen Massen zur Wahl von Aktionskomitees auf Grund eines bestimmten Statuts aufrufen. Solch ein Vorgehen Wäre rein bürokratisch und darum fruchtlos. Aktionskomitees können die Arbeiter nur dann wählen, wenn sie selbst an irgendeiner Aktion teilnehmen und das Bedürfnis nach einer revolutionären Führung empfinden. Es handelt sich nicht um die formell-demokratische Vertretung aller und jeder Massen, sondern um die revolutionäre Vertretung der kämpfenden Massen. Das Aktionskomitee ist der Apparat des Kampfes. Es ist nicht nötig, im voraus zu erraten, welche Schichten der Werktätigen nun gerade an der Schaffung der Aktionskomitees beteiligt sein werden: die Grenzen der kämpfenden Massen werden sich im Kampf von selbst ergehen.
Die größte Gefahr in Frankreich ist, dass die revolutionäre Energie der Massen sich stückweise in Einzelausbrüchen wie Toulon, Brest. Limoges verausgabt und der Apathie Platz macht. Nur bewusste Verräter oder hoffnungslose Esel sind imstande zu denken, dass man bei der heutigen Lage die Massen bereden könne, solange still zu halten, bis ihnen von oben die Volksfrontregierung beschert wird. Streiks, Protestkundgebungen. Straßenkämpfe, direkte Aufstände sind in der heutigen Lage ganz unvermeidlich. Aufgabe der proletarischen Partei ist es nicht, diese Bewegungen zu bremsen und lahmzulegen, sondern sie zusammenzufassen und ihnen die größtmögliche Kraft zu verleihen.
Die Reformisten und Stalinisten fürchten vor allem, die Radikalen zu erschrecken. Der Apparat der Einheitsfront spielt ganz bewusst die Rolle des Desorganisators gegenüber den spontanen Massenbewegungen. Die Linken vom Schlage Marceau Piverts aber decken nur diesen Apparat gegen die Empörung der Massen. Die Lage ist nur in dem Fall zu retten, wenn man den kämpfenden Massen hilft, im Prozess des Kampfes selbst einen neuen Apparat zu schaffen, der den Erfordernissen des Augenblicks entspricht. Dazu eben sind die Aktionskomitees berufen. Während der Kämpfe in Toulon und Brest würden die Arbeiter ohne zu zögern eine lokale Kampforganisation geschaffen haben, hätte man sie nur dazu aufgerufen. Am Tage nach den blutigen Ereignissen in Limoges wären die Arbeiter und ein beträchtlicher Teil des Kleinbürgertums ohne Zweifel bereit gewesen, zur Untersuchung der blutigen Geschehnisse und zu ihrer Verhinderung in Zukunft ein gewähltes Komitee zu bilden. Während der Bewegung in den Kasernen im Sommer dieses Jahres gegen den „rabiot“ (Verlängerung der Dienstpflicht) würden die Soldaten ohne zu zögern Kompanie-, Regiments- und Garnisonsaktionskomitees gewählt haben, wenn man ihnen nur diesen Weg gewiesen hätte. Solche Gelegenheiten bieten sich auf Schritt und Tritt, jetzt und in Zukunft. Meistens im lokalen, doch oft auch im nationalen Maßstab. Die Aufgabe besteht darin, keine einzige solche Gelegenheit zu verpassen. Erste Vorbedingung dafür ist: klar selber die Bedeutung der Aktionskomitees begreifen als das einzige Mittel, den antirevolutionären Widerstand der Partei- und Gewerkschaftsapparate zu brechen.
Heißt das, dass die Aktionskomitees die Partei- und Gewerkschaftsorganisationen ersetzen? Es wäre ein Unsinn, die Frage so zu stellen. Die Massen treten in den Kampf mit all ihren Ideen, Gruppierungen, Traditionen und Organisationen. Die Parteien leben und kämpfen weiter. Bei den Wahlen zu den Aktionskomitees wird jede Partei natürlich danach trachten, ihre Anhänger durchzusetzen. Beschließen werden die Aktionskomitees nach Stimmenmehrheit (bei Vorhandensein völliger Freiheit der Parteien- und Fraktionsgruppierungen). Im Hinblick auf die Parteien kann man die Aktionskomitees ein revolutionäres Parlament nennen: die Parteien sind nicht ausgeschlossen, sondern im Gegenteil notwendig vorausgesetzt: gleichzeitig werden sie in der Aktion geprüft, und die Massen lernen sich von dem Einfluss der verrotteten Parteien zu befreien.
Bedeutet das, dass die Aktionskomitees einfach dasselbe sind wie Sowjets? Unter gewissen Umständen können die Aktionskomitees Sowjets werden. Es wäre jedoch falsch, die Aktionskomitees mit diesem Namen zu belegen. Heute, im Jahre 1935, sind die Massen gewohnt, mit dem Wert Sowjet die Vorstellung der bereits eroberten Macht zu verbinden, doch so weit ist es in Frankreich noch nicht. Die russischen Sowjets waren zu Beginn durchaus nicht das, was sie später wurden, und trugen damals sogar oft den bescheidenen Namen Arbeiter- oder Streikkomitees. Die Aktionskomitees in ihrem heutigen Stadium sollen dazu dienen, den Abwehrkampf der werktätigen Massen Frankreichs zusammenzufassen und ihnen so das Bewusstsein ihrer eigenen Kraft für den künftigen Angriff zu vermitteln. Ob es zu echten Sowjets kommen wird, das hängt davon ab, ob die heutige kritische Situation in Frankreich sich bis zu den letzten revolutionären Schlussfolgerungen entwickeln wird. Das hängt selbstverständlich nicht nur von dem Willen der revolutionären Avantgarde ab, sondern auch von einer Reihe objektiver Bedingungen; jedenfalls wird die Massenbewegung, die heute an die Schranke der Volksfront prallt, ohne Aktionskomitees nicht vorwärts kommen.
Aufgaben wie die Schaffung einer Arbeitermiliz usw., die Vorbereitung des Generalstreiks, werden auf dem Papier bleiben, wenn die kämpfende Masse in der Person ihrer verantwortlichen Organe nicht selber diese Aufgabe im Angriff nimmt. Nur im Kampf erstandene Aktionskomitees können eine wirkliche Miliz gewährleisten, die nicht nach Tausenden, sondern Zehntausenden von Kämpfern zählt. Nur Aktionskomitees, die die wichtigsten Zentren des Landes umfassen, werden den Augenblick für den Übergang zu entschiedeneren Methoden des Kampfes wählen können, dessen Führung ihnen rechtmäßig gehört.
Aus den oben gemachten Feststellungen folgt eine Reihe von Schlussfolgerungen für die politische Arbeit der proletarischen Revolutionäre in Frankreich. Die erste betrifft die sogenannte „Revolutionäre (?) Linke“. Diese Gruppierung ist gekennzeichnet durch absolutes Unverständnis für die Bewegungsgesetze der revolutionären Massen. So sehr die Zentristen auch von den „Massen“ schwätzen, stets orientieren sie sich nach dein reformistischen Apparat. Wenn Marceau Pivert diese oder jene revolutionäre Losung nachspricht, ordnet er sie dem abstrakten Prinzip der „organischen Einheit“ unter, die in Wirklichkeit Einheit mit den Patrioten gegen die Revolutionäre bedeutet. Während es für die revolutionären Massen eine Lebensfrage ist, den Widerstand der vereinigten sozialpatriotischen Apparate zu brechen, betrachten die linken Zentristen die „Einheit“ dieser Apparate als ein absolutes, über den Interessen des revolutionären Kampfes stehendes Gut.
Nur der kann Aktionskomitees schaffen, der restlos die Notwendigkeit begriffen hat, die Massen von der verräterischen Führung der Sozialpatrioten zu befreien. Allein, Pivert klammert sich an Zyromsky. Zyromsky an Blum, Blum gemeinsam mit Thorez an Herriot, und Herriot an Laval. Pivert gliedert sich in das System der Volksfront ein (nicht umsonst stimmte er auf dem letzten Nationalrat der Partei für die schmähliche Resolution Blums!), und die Volksfront gliedert sich als ein Flügel in Lavals bonapartistisches Regime ein. Der Zusammenbruch des bonapartistischen Regimes ist unvermeidlich. Wenn es der Führung der Volksfront (Herriot-Blum-Cachin-Thorez-Zyromsky-Pivert) in der allernächsten, entscheidenden Periode sich zu halten gelingt, dann wird das bonapartistische Regime unvermeidlich dem Faschismus Platz machen. Voraussetzung für den Sieg des Proletariats ist die Beseitigung der heutigen Führung. Die Losung der „Einheit“ wird unter all diesen Umständen nicht nur eine Dummheit, sondern auch ein Verbrechen. Keine Einheit mit den Agenten des französischen Imperialismus und des Völkerbundes. Ihrer treubrüchigen Führung heißt es die revolutionären Aktionskomitees gegenüberstellen. Diese Komitees kann man nur schaffen, wenn man unbarmherzig die antirevolutionäre Politik der sogenannten „Revolutionären Linken“ mit Marceau Pivert an der Spitze anprangert. Für Illusionen und Zweifel kann in dieser Hinsicht in unseren Reihen selbstverständlich kein Platz sein.
Zuletzt aktualiziert am 21.7.2008