Leo Trotzki

 

Krieg und die Vierte Internationale
(Teil 1)

 

Vorwort

Diese Thesen erscheinen zu eben dem Zeitpunkt, wo die Kriegsgefahr sich immer drohender über Europa zusammenballt. Die Abrüstungskonferenz wird zum Rüstplatz für den Abschluss neuer Militärbündnisse. Mussolini und General Weygand rufen zur Aufrüstung. Gestern war Österreich, heute sind die Saar und Mandschurei Brandherde für das neue Weltgemetzel. In der ganzen Welt ist von nichts anderem mehr die Rede als von Luftmobilmachung, von Verstärkung der Luft- und Seeflotten, von chemischem Krieg, Industriemobilisierung usw.

Die Kriegsgefahr bürdet uns allen ungeheure Pflichten und Verantwortung auf. Zunächst die Pflicht, den ideologischen Kampf gegen den Krieg vorzubereiten und zu organisieren, eine Pflicht, die umso größer ist, als die Zweite wie die Dritte Internationale heute nur noch Hemmnisse sind im Kampf gegen den Krieg.

Die patriotischen Führer der Zweiten Internationale bereiten sich wieder darauf vor, als getreue Diener des Imperialismus ihm wie 1914 das Kanonenfutter für den kommenden Krieg zu liefern.

Die Führer der ohnmächtigen Dritten Internationale leiten die Massen irre, indem sie ihre Mobilisierung gegen den Krieg durch lärmende Maskeradenkongresse ersetzen.

Der Kampf gegen den Krieg muss den beiden Internationalen zum Trotz und gegen sie geführt werden. Diesem Kampf ist eine neue Basis, ein neues Banner zu geben – das der Vierten Internationale. Mögen die Kader der Vierten Internationale auch noch wenig zahlreich sein, doch die Richtigkeit und Klarheit ihrer Politik und ihre Entschlossenheit werden ihnen ermöglichen, eine entscheidende Rolle zu spielen. Erinnern wir an Karl Liebknecht und an Rosa Luxemburg!

Die Frage des imperialistischen Krieges und seiner Vorbereitung ist die zentrale Frage unserer Tage. Der Kampf gegen den imperialistischen Krieg steht im Mittelpunkt des Differenzierungsprozesses in der Arbeiterklasse. Der Charakter der reformistischen und zentristischen Organisationen wird sich eben in diesem Kampfe entlarven; die Kader der Bolschewiki-Leninisten aber werden sich in ihm stählen.

Nur die Genossen, die ernst und kritisch diese Thesen studieren, werden ausreichend gewappnet sein für die politische Arbeit gegen den Krieg. Doch Studium, Diskussion, Kritik der Thesen – so nützlich sie sind – genügen nicht. Entscheiden wird der Kampf! Im tagtäglichen Klassenkampf gilt es zu streiten im Geiste der Thesen, im Geiste des unbeirrbaren revolutionären Internationalismus, im Geiste Lenins!

In diesem Sinn übergeben wir die Thesen, die als Entwurf bereits im Januar 1934, in unserer Zeitschrift Problèmes et discussions in französischer Sprache veröffentlicht wurden, nach Vornahme einer Anzahl von Ergänzungen und Verbesserungen der proletarischen Öffentlichkeit.

Genf, 10. Juni 1934

Das internationale Sekretariat

 

 

[Einleitung]

Die katastrophale Handels-, Industrie-, Agrar- und Finanzkrise, die Sprengung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, der Verfall der Produktivkräfte der Menschheit, die unerträgliche Zuspitzung der Klassen- wie der internationalen Gegensätze kennzeichnen den Niedergang des Kapitalismus und bestätigen vollauf, die Leninsche Charakteristik unserer Epoche als der Epoche der Kriege und Revolutionen.

Der Krieg von 1914-18 leitete offiziell eine neue Epoche ein, deren wichtigste politische Ereignisse bisher waren: die Eroberung der Macht durch das russische Proletariat im Jahre 1917 und die Niederschlagung des deutschen Proletariats im Jahre 1933. Das fürchterliche Elend der Volksmassen in allen Erdteilen und die noch fürchterlicheren Gefahren, die der morgige Tag bringt, sind das Ergebnis davon, dass die Revolution von 1917 auf der europäischen und der Weltarena keine siegreiche Entfaltung fand.

Innerhalb der einzelnen Länder kommt die geschichtliche Sackgasse des Kapitalismus zum Ausdruck in der Dauerarbeitslosigkeit, dem Sinken des Lebensstandards der Arbeiter, dem Ruin der Bauernschaft und des städtischen Kleinbürgertums, in Zersetzung und Verfaulen des parlamentarischen Staates, in ungeheurer Vergiftung des Volks durch „soziale“ und „nationale“ Demagogie bei faktischer Beseitigung der sozialen Reformen, in der Verdrängung und Ersetzung der alten Regierungsparteien durch den nackten Militär- und Polizeiapparat (den Bonapartismus des kapitalistischen Niedergangs), in dem Wachsen des Faschismus, seiner Machtergreifung und Vernichtung aller und jeder proletarischen Organisation.

Dieselben Prozesse schwemmen auf dem Weltschauplatz die letzten Überbleibsel von Festigkeit der internationalen Beziehungen hinweg, stellen jeden Konflikt zwischen den Staaten auf des Messers Schneide, legen die Vergeblichkeit der pazifistischen Lösungsversuche bloß, erzeugen gesteigertes Rüsten auf neuer, technisch höherer Grundlage, und führen so zum neuen imperialistischen Krieg. Der Faschismus ist sein konsequentester Vorbereiter und Organisator.

Andererseits stellen das Offenbarwerden der durch und durch reaktionären, Verfalls- und Räubernatur des heutigen Kapitalismus, der Zusammenbruch von Demokratie, Reformismus und Pazifismus, die unaufschiebbare und brennende Notwendigkeit für das Proletariat, den rettenden Ausweg aus dem unabwendbaren Verderben zu finden, mit neuer Gewalt die internationale Revolution auf die Tagesordnung. Nur der Sturz der Bourgeoisie durch das sich erhebende Proletariat kann die Menschheit vor dem neuen verheerenden Völkermorden bewahren.

 

 

Die Vorbereitung des neuen Krieges

1. Die vom heutigen Kapitalismus nicht zu trennenden Ursachen, die den letzten imperialistischen Krieg hervorriefen, haben heute eine unvergleichlich höhere Spannung erreicht als Mitte 1914. Die Furcht vor den Folgen eines neuen Krieges ist der einzige Faktor, der den Willen des Imperialismus im Zaume hält. Doch die Kraft dieser Bremse ist begrenzt. Die Spannung der inneren Widersprüche stößt ein Land nach dem anderen auf den Weg des Faschismus, der seinerseits sich an der Macht nicht anders halten kann als durch die Vorbereitung internationaler Explosionen. Alle Regierungen fürchten den Krieg. Aber keine einzige Regierung hat freie Wahl. Ohne proletarische Revolution ist ein neuer Weltkrieg unabwendbar.

2. Europa, unlängst Schauplatz des größten aller Kriege, taumelt, von Siegern und Besiegten gestoßen ohne Unterlass dem Verfall entgegen. Der Völkerbund, der dem offiziellen Programm nach „den Frieden organisieren“, in Wirklichkeit aber das Versailler System verewigen, die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten neutralisieren und einen Schutzwall gegen den roten Osten schaffen sollte, hat dem Druck der imperialistischen Gegensätze nicht standgehalten. Nur die zynischsten aller Sozialpatrioten (Henderson, Vandervelde, Jouhaux usw.) versuchen noch, mit dem Völkerbund Perspektiven der Abrüstung und des Pazifismus zu verbinden. In Wirklichkeit wurde der Völkerbund zu einer untergeordneten Figur auf dem Schachbrett der imperialistischen Kombinationen. Die diplomatische Hauptarbeit, die heute um Genf einen Bogen schlägt, besteht in der Suche nach militärischen Verbündeten, d.h. in der krampfhaften Vorbereitung des neuen Gemetzels. Parallel dazu geht eine dauernde Erhöhung der Rüstungen, die aus dem faschistischen Deutschland einen neuen gigantischen Anstoß erhalten hat.

3. Der Zusammenbruch des Völkerbundes ist untrennbar verknüpft mit dem beginnenden Zusammenbruch der französischen Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent. Die demographische und wirtschaftliche Macht Frankreichs erwies sich, wie zu erwarten war, als eine zu schmale Unterlage für das Versailler System. Der bis an die Zähne bewaffnete französische Imperialismus mit seinem scheinbaren „Verteidigungs“charakter, bleibt, soweit er gezwungen ist, die durch Verträge legalisierten Früchte seiner Aneignungen und Räubereien zu schützen, seinem Wesen nach einer der Hauptfaktoren des neuen Krieges.

Von unerträglichen Widersprüchen und den Folgen der Niederlage getrieben, war der deutsche Kapitalismus gezwungen, die Zwangsjacke des demokratischen Pazifismus herunterzureißen und tritt jetzt auf als Hauptbedroher des Versailler Systems. Die Gruppierung der Staaten auf dem europäischen Kontinent erfolgt bisher noch vorwiegend auf der Linie:. Sieger und Besiegte. Italien nimmt die Haltung des treulosen Vermittlers ein, um im entscheidenden Augenblick seine Freundschaft der stärkeren Seite anzutragen, so wie es das während des vergangenen Krieges tat. England versucht seine „Unabhängigkeit“, Schatten der einstigen „splendid isolation“, zu wahren in der Hoffnung, die Antagonismen in Europa, die Gegensätze zwischen Europa und Amerika und die heraufziehenden Konflikte im fernen Osten für sich auszunutzen. Doch immer weniger wollen dem herrschenden England seine Vorhaben glücken. Erschrocken über den Zerfall ihres Imperiums, die revolutionäre Bewegung in Indien, die Unsicherheit ihrer Positionen in China, bemäntelt die britische Bourgeoisie mit der widerlichen pazifistischen Scheinheiligkeit Macdonalds und Hendersons die habgierige und feige Politik des Abwartens und Lavierens, die ihrerseits eine der Hauptquellen der heutigen allgemeinen Unsicherheit und der morgigen Katastrophe ist.

4. Die größten Veränderungen nahmen Krieg und Nachkriegsperiode an der inneren wie der internationalen Lage der Vereinigten Staaten von Nordamerika vor. Das riesige wirtschaftliche Übergewicht über Europa und folglich über die Welt gestattete der Bourgeoisie der Vereinigten Staaten in die erste Periode nach dem Krieg einzutreten als unparteiische „Friedensstifterin“, Hüterin der „Freiheit der Meere“ und der „Offenen Türen“. Die Handels- und Industriekrise offenbarte jedoch mit furchtbarer Gewalt die Störung des alten wirtschaftlichen Gleichgewichts, dem der Binnenmarkt eine genügende Stütze war. Dieser Weg hat sich restlos erschöpft.

Das wirtschaftliche Übergewicht der Vereinigten Staaten ist selbstverständlich auch heute nicht verschwunden, im Gegenteil, potenziell wuchs es sogar infolge des weiteren Verfalls Europas; doch die alten Formen, in denen sich dies Übergewicht kundtat (Industrietechnik, Handelsbilanz, unerschütterlicher Dollar, Verschuldung Europas) büßten ihre Wirksamkeit ein: die hohe Technik findet keine Anwendung, die Bilanz ist ungünstig, der Dollar im Fallen, die Schulden werden nicht bezahlt. Das Übergewicht der Vereinigten Staaten muss neue Ausdrucksformen finden wozu den Weg bahnen kann nur der Krieg.

Die Losung der „offenen Tür“ in China erweist sich machtlos vor einigen japanischen Divisionen. Bei seiner fernöstlichen Politik lässt sich Washington von der Überlegung leiten, im günstigsten Augenblick in der Lage zu sein, einen kriegerischen Zusammenstoß der UdSSR mit Japan hervorzurufen, sowohl Japan wie die UdSSR zu schwächen und je nach dem Kriegsausgang seine weiteren strategischen Pläne zu entwerfen. Während sie, dem Trägheitsgesetz folgend, die Diskussion über die Befreiung der Philippinen fortsetzen, bereiten sich die amerikanischen Imperialisten in Wirklichkeit darauf vor, sich in China eine territoriale Basis zu verschaffen, um in der folgenden Etappe im Falle eines Konflikts mit Großbritanniens die Frage der „Befreiung“ Indiens zu stellen. Der Kapitalismus der Vereinigten Staaten ist dicht an die Aufgaben herangerückt, welche Deutschland 1914 auf den Kriegspfad drängten. Die Welt ist schon verteilt? Soll man sie neu aufteilen! Für Deutschland galt es, „Europa zu organisieren“. Den Vereinigten Staaten fällt es zu, „die Welt zu organisieren“. Die Geschichte treibt die Menschheit schnurstracks zum Vulkanausbruch des amerikanischen Imperialismus.

5. Den verspäteten japanischen Kapitalismus, der sich von den Säften der Rückständigkeit, der Armut und der Barbarei nährt, treiben unerträgliche innere Schwären und Eiterbeulen auf den Weg unaufhörlicher räuberischer Annexionen. Das Fehlen einer eigenen Industriebasis und die äußerste Wackligkeit der gesamten Gesellschaftsordnung machen den japanischen Kapitalismus zum aggressivsten und zügellosesten von allen. Doch wird die Zukunft zeigen, dass hinter dieser gierigen Aggression allzu wenig reale Kräfte stehen. Japan vermag wohl als erstes das Signal zum Krieg zu geben; aber aus dem halb-feudalen Japan, das all die Widersprüche zerreißen, die schon das zaristische Russland kannte, kann auch eher als aus anderen Ländern das Signal zur Revolution ertönen.

6. Es wäre jedoch zu gewagt, erraten zu wollen, woher und wann gerade der erste Schuss fallen wird. Unter dem Einfluss der sowjetrussisch-amerikanischen Verständigung sowie der inneren Schwierigkeiten kann Japan vorläufig zurücktreten; aber dieselben Umstände können umgekehrt die japanische Kamarilla auch veranlassen, sich mit dem Schlag zu beeilen, bevor es zu spät ist. Wird sich die französische Regierung zu einem „Präventiv“krieg entschließen, der unter Italiens Mitwirkung in allgemeinem Gemetzel enden wird? Oder wird Frankreich umgekehrt, abwartend und lavierend, unter Englands Druck den Weg der Verständigung mit Hitler beschreiten, ihm eben damit den Weg des Angriffs gegen Osten öffnend?

Wird Kriegsanstifter wieder die Balkanhalbinsel sein? Oder könnte die Initiative diesmal den Donauländern zufallen? Die Vielfalt der Faktoren und die Verflechtung der einander feindlichen Kräfte schließen die Möglichkeit einer konkreten Prognose aus. Doch die allgemeine Entwicklungstendenz ist ganz klar: die Nachkriegsperiode wurde zu einer bloßen Pause zwischen zwei Kriegen, und diese Pause geht vor unseren Augen zu Ende. Der Plan-, Korporativ- oder Staatskapitalismus, der Hand in Hand geht mit dem autoritären, bonapartistischen oder faschistischen Staat, bleibt eine Utopie und eine Lüge, soweit er sich als offizielles Ziel die harmonische Nationalwirtschaft auf der Grundlage des Privateigentums setzt. Doch ist er eine drohende Realität, soweit es die Zusammenfassung aller wirtschaftlichen Kräfte der Nation zur Vorbereitung des neuen Krieges gilt. Dieses Werk ist jetzt voll im Gange. Ein neuer großer Krieg pocht an der Tür. Er wird erbittert, verheerender als sein Vorgänger sein. Das Verhalten zum nahenden Krieg wird somit zur zentralen Frage der proletarischen Politik.

 

 

Die UdSSR und der imperialistische Krieg

7. Im geschichtlichen Maßstab genommen ist der Gegensatz zwischen dem Weltimperialismus und der Sowjetunion unvergleichlich tiefer als die Antagonismen, welche die einzelnen kapitalistischen Länder einander gegenüberstellen. Doch der Klassengegensatz zwischen dem Arbeiterstaat und den Staaten des Kapitals verändert seine Schärfe entsprechend dem Entwicklungsgang des Arbeiterstaates und den Veränderungen der Weltlage. Die unerhörte Entwicklung des Sowjetbürokratismus und die schweren Lebensbedingungen der Werktätigen haben die Anziehungskraft der UdSSR für die Weltarbeiterklasse außerordentlich gesenkt. Die schweren Niederlagen der Komintern und die nationalpazifistische Außenpolitik der Sowjetregierung mussten ihrerseits die Besorgnisse der Weltbourgeoisie mildern. Schließlich nötigt die neuerliche Verschärfung der inneren Widersprüche in der kapitalistischen Welt die Regierungen Europas und Amerikas in der augenblicklichen Etappe, der UdSSR nicht vom Standpunkt der Grundfrage Kapitalismus oder Sozialismus?, gegenüberzutreten, sondern vom Standpunkt der konjunkturellen Rolle des Sowjetstaates im Kampf imperialistischer Gewalten. Ausdruck für diese internationale Lage waren eben die Nichtangriffspakte, die Anerkennung der UdSSR durch die Washingtoner Regierung usw. Die beharrlichen Bemühungen Hitlers, Deutschlands Aufrüstung mit Hinweisen auf die „Gefahr im Osten“ zu rechtfertigen, haben bisher keinen Anklang gefunden, besonders nicht bei Frankreich und seinen Satelliten, gerade weil die revolutionäre Gefahr des Kommunismus trotz der fürchterlichen Krise ihre Schärfe verloren hat. Die diplomatischen Erfolge der Sowjetunion erklären sich somit – wenigstens zur Hälfte – aus der außerordentlichen Schwächung der internationalen Revolution.

8. Ein unheilvoller Fehler wäre es jedoch, zu glauben, die Militärintervention gegen die Sowjetunion sei überhaupt von der Tagesordnung abgesetzt. Milderte sich auch die konjunkturmäßige Schärfe der Beziehungen, so bleibt doch der Gegensatz der Gesellschaftsordnungen voll in Kraft. Der unaufhaltsame Verfall des Kapitalismus wird die bürgerlichen Regierungen auf den Weg radikaler Lösungen drangen. Jeder große Krieg wird, unabhängig von seinen ursprünglichen Motiven, schroff die Frage stellen nach der Militärintervention in die UdSSR mit dem Ziel der Übertragung frischen Bluts in die verkalkten Adern des Kapitalismus.

Die unbestreitbare und tiefe bürokratische Entartung des Sowjetstaates wie der national-konservative Charakter seiner Außenpolitik verändern die soziale Natur der Sowjetunion als des ersten Arbeiterstaates nicht. Jede Art demokratischer, idealistischer, ultralinker, anarchistischer Theorie, die den in der Tendenz sozialistischen Charakter der Eigentumsverhältnisse verneint und den Klassengegensatz zwischen der UdSSR und den bürgerlichen Staaten leugnet oder vertuscht, muss unvermeidlich, besonders im Kriegsfalle, zu konterrevolutionären politischen Schlussfolgerungen führen.

Die Verteidigung der Sowjetunion gegen die Anschläge seitens der kapitalistischen Feinde ist, unabhängig von den Umständen und unmittelbaren Ursachen des Zusammenstoßes, elementare und gebieterische Pflicht jeder ehrlichen Arbeiterorganisation.

 

 

Die „nationale Verteidigung“

9. Als klassische Arena schuf sich der Kapitalismus im Kampf mit dem mittelalterlichen Partikularismus den Nationalstaat. Doch kaum richtig zusammengefügt; begann er sich schon in eine Bremse für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung zu verwandeln. Aus dem Widerspruch zwischen den Produktivkräften und dem Rahmen des Nationalstaats, in Verbindung mit dem Grundwiderspruch – zwischen den Produktivkräften und dem Privateigentum an den Produktionsmitteln –, erwuchs eben die Krise des Kapitalismus als der Weltgesellschaftsordnung.

10. Wäre es möglich, mit einem Schlage alle Staatsgrenzen wegzufegen, so könnten sich die Produktivkräfte, auch unter dem Kapitalismus, während einer gewissen Periode – allerdings um den Preis unzähliger Opfer – noch auf ein höheres Niveau erheben. Bei Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln können die Produktivkräfte, wie die Erfahrung der UdSSR bezeugt, sogar im Rahmen eines einzigen Staates zu größerer Entfaltung gelangen. Doch nur die Aufhebung sowohl des Privateigentums wie der Staatsschranken zwischen den Nationen vermag die Voraussetzungen für die neue Wirtschaftsordnung zu schaffen: die sozialistische Gesellschaft.

11. Die Verteidigung des Nationalstaates ist, vor allem im balkanisierten Europa, seiner Heimat, im vollen Sinne des Wortes reaktionäres Beginnen. Der Nationalstaat mit seinen Grenzen, Pässen, Geldsystemen, Zollämtern und Truppen zur Verteidigung der Zölle ist zu einem ungeheuren Hindernis auf dem Wege der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung der Menschheit geworden. Aufgabe des Proletariats ist nicht die Verteidigung des Nationalstaats, sondern dessen völlige und endgültige Beseitigung.

12. Stellte der heutige Nationalstaat einen fortschrittlichen Faktor dar, so müsste man ihn verteidigen unabhängig von seinen politischen Formen und gar schon ganz unabhängig davon, wer als erster den Krieg „begann“. Unsinn ist es, die Frage der geschichtlichen Funktion des Nationalstaates mit der Frage der „Schuld“ der betreffenden Regierung zu vermengen. Kann man darauf verzichten, ein brauchbares Wohnhaus zu retten, bloß weil der Brand aus Unvorsichtigkeit oder böser Absicht des Eigentümers entstand? Doch das ist es eben: das betreffende Haus taugt nicht zum Wohnen, sondern nur, um darin zu sterben. Damit die Völker leben können, muss das Haus des Nationalstaates dem Erdboden gleichgemacht werden.

13. Ein „Sozialist“, der die nationale Verteidigung predigt, ist kleinbürgerlicher Reaktionär im Dienste des faulelenden Kapitalismus. Während des Krieges sich nicht an den Nationalstaat ketten, sich leiten lassen nicht von der Kriegskarte, sondern der Karte des Klassenkampfes, kann nur die Partei, welche dem Nationalstaat schon in Friedenszeiten unversöhnlichen Krieg erklärt hat. Nur wenn sie die objektiv reaktionäre Rolle des imperialistischen Staates vollauf begreift, kann die proletarische Vorhut gefeit sein gegen Sozialpatriotismus aller Art. Das bedeutet: der wirkliche Bruch mit Ideologie und Politik der „nationalen Verteidigung“ ist möglich nur vom Standpunkt der internationalen proletarischen Revolution.

 

 

Die nationale Frage und der imperialistische Krieg

14. Das Proletariat verhält sich nicht gleichgültig zur Nation. Im Gegenteil, gerade weil die Geschichte ihm das Schicksal der Nation in die Hand legt, lehnt es ab, die Sache ihrer Freiheit und Unabhängigkeit dem Imperialismus anzuvertrauen, der die Nation nur „rettet“, um sie morgen schon neuen Lebensgefahren auszusetzen namens der Interessen einer winzigen Ausbeuterminderheit.

15. Während er die Nation für seine Entwicklung ausnutzt, hat der Kapitalismus nirgends, auf keinem Fleck der Erde, die nationale Frage gänzlich gelöst. Die Grenzen des Versailler Europa sind quer durch das lebendige Fleisch der Nationen gezogen. Reinste Utopie ist der Gedanke, das kapitalistische Europa so umzuschneidern, dass die Grenzen der Staaten mit den Grenzen der Nationen zusammenfallen. Auf friedlichem Wege wird kein einziger Staat auch nur einen Fußbreit Boden abtreten. Ein neuer Krieg aber würde Europa wieder nur umschustern nach Maßgabe der Kriegskarte und nicht der Grenzen der Nationen. Die Aufgabe der völligen nationalen Selbstbestimmung und friedlichen Zusammenarbeit Europas ist nur zu lösen auf Grund des wirtschaftlichen Zusammenschlusses eines von bürgerlichen Staaten gesäuberten Europa. Die Losung der Vereinigten Sowjetstaaten von Europa ist die rettende Losung nicht allein für die Balkan- und Donauländer, sondern auch für die Völker Deutschlands und Frankreichs.

16. Einen besonderen und zwar großen Raum nimmt die Frage der kolonialen und halbkolonialen Länder des Ostens ein, die erst um den unabhängigen Nationalstaat kämpfen. Ihr Kampf ist zweifach fortschrittlich: indem er die zurückgebliebenen Völker dem Asiatentum, dem Partikularismus und dem fremdländischen Joch entreißt, erteilt er den Staaten des Imperialismus gewaltige Schläge. Man muss sich aber von vornherein klar Rechenschaft darüber ablegen, dass die verspäteten Revolutionen in Asien oder Afrika nicht imstande sind eine neue Blütezeit des Nationalstaats heraufzubeschwören, die Befreiung der Kolonien wird nur eine grandiose Episode sein in der sozialistischen Weltrevolution, wie die verspätete demokratische Umwälzung in Russland, das auch ein halbkoloniales Land war, nur die Einleitung der sozialistischen Umwälzung bildete.

17. In Südamerika, wo der verspätete und bereits faulende Kapitalismus die Verhältnisse eines halbkolonialen, d.h. halbversklavten Daseins aufrechterhält, erzeugen die Weltantagonismen einen heftigen Kampf der Kompradorencliquen, unaufhörliche Umstürze im Innern der Staaten und chronischem Kriegsgeplänkel zwischen ihnen. Die amerikanische Bourgeoisie, die in der Epoche ihres geschichtlichen Aufstiegs die nördliche Hälfte des amerikanischen Festlandes in einen Bund zu vereinigen verstand, nutzt heute all ihre auf diesem Boden erworbene Macht aus Entzweiung, Schwächung und Knechtung seiner südlichen Hälfte. Sich aus der Zurückgebliebenheit und Knechtschaft losreißen können Süd- und Mittelamerika nicht anders als durch die Einigung all ihrer Staaten in einem mächtigen Bund. Diese grandiose geschichtliche Aufgabe zu lösen, ist jedoch nicht die rückständige südamerikanische Bourgeoise ausersehen, ganz und gar käufliche Agentur des fremdländischen Imperialismus, sondern das junge südamerikanische Proletariat als der berufene Führer der unterdrückten Volksmassen. Die Losung des Kampfes gegen die Vergewaltigungen und Ränke des Weltimperialismus und gegen das blutige Treiben der einheimischen Kompradorencliquen lautet daher: die Vereinigten Sowjetstaaten von Süd- und Mittelamerika.

Das nationale Problem verknüpft sich allenthalben mit dem sozialen. Nur die Eroberung der Macht durch das Weltproletariat vermag allen Nationen unseres Erdballs wirkliche und unerschütterliche Entwicklungsfreiheit zu sichern.

 

 

Verteidigung der Demokratie

18. Die Lüge der nationalen Verteidigung deckt sich in allen Fällen, wo es angängig ist, mit der ergänzenden Lüge von der Verteidigung der Demokratie. Wenn die Marxisten heute, in der imperialistischen Epoche, Demokratie mit Faschismus nicht gleichsetzen und in jedwedem Augenblick bereit sind, dem die Demokratie bedrängenden Faschismus Widerstand zu leisten, soll da das Proletariat nicht auch im Kriegsfalle die demokratischen Regierungen gegen die faschistischen unterstützen?

Ein grober Sophismus: Die Demokratie beschützen wir vor dem Faschismus mittels der Organisationen und Methoden des Proletariats. Im Gegensatz zur Sozialdemokratie übertragen wir diesen Schutz nie auf den Staat der Bourgeoisie („Staat, greif zu!“) Stehen wir aber schon in Friedenszeiten unversöhnlich in Opposition zur „demokratischsten“ Regierung, können wir da auch nur den Schatten einer Verantwortung für sie in Kriegszeiten übernehmen, wo alle Niedertracht und alle Verbrechen des Kapitalismus viehischste und blutrünstigste Gestalt annehmen?

19. Ein moderner Krieg zwischen Großmächten ist kein Aufeinanderprall von Demokratie und Faschismus, sondern der Kampf zweier Imperialismen zur Neuaufteilung der Welt. Der Krieg muss außerdem unvermeidlich internationalen Charakter annehmen, wobei in beiden Lagern sowohl faschistische (halbfaschistische, bonapartistische usw.) wie auch „demokratische“ Staaten stehen werden. Die republikanische Form des französischen Imperialismus hat ihn nicht gehindert, sich in Friedenszeiten auf die bürgerlichen Militärdiktaturen in Polen, Jugoslawien und Rumänien zu stützen, wie sie ihn nötigenfalls nicht hindern wird, die österreichisch-ungarische Monarchie wiederherzustellen als Schranke gegen den Anschluss Österreichs an Deutschland. Schließlich würde sich in Frankreich selbst die auch heute schon hinreichend geschwächte parlamentarische Demokratie zweifellos als eines der ersten Opfer des Krieges erweisen, sollte sie nicht schon vor seinem Beginn gestürzt sein.

20. Die Bourgeoisie mehrerer zivilisierter Länder bewies bereits und wird weiter beweisen, dass sie im Falle innerer Gefahren sich nicht bedenken, die parlamentarische Form ihrer Herrschaft auszuwechseln gegen die autoritäre, diktatorische, bonapartistische oder faschistische. Umso eher und entschiedener wird sie eine solche Vertauschung im Kriege vornehmen, wenn ihren grundlegenden Klasseninteressen äußere und innere Gefahren von zehnfach größerer Gewalt drohen. Unterstützen unter diesen Umständen Arbeiterparteien „ihren“ nationalen Imperialismus um seiner zerbrechlichen demokratischen Schale willen, so ist das gleichbedeutend mit dem Verzicht auf selbständige Politik und mit chauvinistischer Demoralisierung der Arbeiter, das heißt mit der Vernichtung des einzigen Faktors, der die Menschheit vor dem Untergang zu retten vermag.

21. „Kampf um die Demokratie“ während des Krieges wird vor allem heißen: Kampf um die Erhaltung der Arbeiterpresse und der Arbeiterorganisationen gegen das Wüten von Militärzensur und Militärgewalt. Auf dem Boden dieser Aufgaben wird die revolutionäre Vorhut streben nach der Einheitsfront mit den übrigen Arbeiterorganisationen gegen die eigene „demokratische“ Regierung, keinesfalls aber nach der Einheit mit ihrer Regierung gegen das Feindesland.

22. Der imperialistische Krieg steht über der Frage nach der Form der Staatsgewalt des Kapitals. Er legt jeder nationalen Bourgeoisie die Frage vor nach dem Schicksal des nationalen Kapitalismus, und der Bourgeoisie aller Länder die Frage nach dem Schicksal des Kapitalismus überhaupt. Nur so darf das Proletariat die Frage stellen: Kapitalismus oder Sozialismus, Triumph eines der imperialistischen Lager oder proletarische Revolution.

 

 

Die Verteidigung der kleinen und neutralen Staaten

23. Der Gedanke der nationalen Verteidigung kann, besonders wenn er mit dem Gedanken der Verteidigung der Demokratie zusammenfällt, leicht die Arbeiter der kleinen und neutralen Staaten täuschen (Schweiz, zum Teil Belgien, die skandinavischen Länder), die, da sie zu selbständiger Eroberungspolitik nicht fähig sein werden, dem Schutz ihrer nationalen Grenzen den Charakter eines unanfechtbaren und unbedingten Dogmas geben. Gerade an Belgiens Beispiel sehen wir jedoch, wie ganz natürlich die formelle Neutralität ersetzt wird durch ein System imperialistischer Abkommen, und wie unvermeidlich ein Krieg um die „nationale Verteidigung“ zu einem Annexionsfrieden führt. Der Charakter des Krieges wird nicht bestimmt durch das isoliert genommene Moment des Regimes („Verletzung der Neutralität“, „feindlicher Einmarsch“ usw.) sondern durch die Haupttriebkräfte des Krieges, seine Gesamtentwicklung und die Ergebnisse, zu denen er letzten Endes führt.

24. Es ist gern zu glauben, dass die Schweizer Bourgeoisie nicht die Kriegsinitiative ergreifen wird. In diesem Sinne ist sie formell mehr als irgendeine andere Bourgeoisie im Recht, von ihrer Verteidigungsposition zu reden. Aber in dem Augenblick, wo die Schweiz sich im Verlauf der Ereignisse in den Krieg hineingerissen sähe, wird sie sich in den Kampf der Weltmächte einschalten, die hüben und drüben imperialistische Ziele verfolgen. Wird die Neutralität verletzt, so wird sich die Schweizer Bourgeoisie dem stärkeren der beiden Angreifer anschließen, unabhängig davon, auf wen mehr Verantwortung für die Verletzung der Neutralität fällt und in welchem Lager es mehr „Demokratie“ gibt. So hat im letzten Krieg Belgien, Verbündeter des Zarismus, das Lager der Entente durchaus nicht verlassen, als diese im Verlauf des Krieges es angebracht fand, die Neutralität Griechenlands anzutasten.

Nur ein völlig stupider Kleinbürger eines Schweizer Krähwinkels (wie etwa Robert Grimm) kann sich ernsthaft einbilden, der Weltkrieg, in den er hineingerissen wurde, sei Mittel zum Schutz der Unabhängigkeit der Schweiz. Der Krieg wird von der Schweizer Neutralität keinerlei Spuren übriglassen wie der vorhergehende Krieg die Neutralität Belgiens hinwegfegte. Ob sich die Schweiz nach dem Krieg als Staatsganzes halten kann, und sei es auch unter Einbuße ihrer Selbständigkeit, oder ob sie zwischen Deutschland, Frankreich und Italien aufgeteilt werden wird, das hängt von einer Reihe europäischer und Weltfaktoren ab, unter denen die „nationale Verteidigung“ der Schweizer einen verschwindend kleinen Platz einnimmt.

Wir sehen also, auch mit der neutralen, demokratischen, Kolonien entbehrenden Schweiz, wo der Gedanke der nationalen Verteidigung vor uns in seiner reinsten Form ersteht, machen die Gesetze der imperialistischen Epoche keine Ausnahme. Die Aufforderung der Bourgeoisie, sich der Politik der nationalen Verteidigung anzuschließen, muss das Schweizer Proletariat beantworten mit der Politik der Klassenverteidigung, um dann zum revolutionären Angriff überzugehen.

 

 

Die zweite Internationale und der Krieg

25. Das Gebot der nationalen Verteidigung geht von dem Dogma aus, die nationale Solidarität stehe über dem Klassenkampf. In Wahrheit hat keine besitzende Klasse jemals die Verteidigung des Vaterlandes als solches, das heißt unter allen und jeden Bedingungen, anerkannt sondern hinter dieser Formel nur die Verteidigung ihrer bevorrechteten Stellung im Vaterland versteckt. Gestürzte herrschende Klassen wurden stets zu „Defätisten“, d.h. waren stets bereit, ihre Vorrechte mit Hilfe fremder Waffen wiederaufzurichten.

Die unterdrücken Klassen, unbewusst ihrer Interessen und an Opfer gewöhnt, nehmen die Losung der „nationalen Verteidigung“ für bare Münze, das heißt für eine unbedingte, scheinbar über den Klassen stehende Pflicht. Das geschichtliche Hauptverbrechen der Zweiten Internationale besteht darin dass sie mit Hilfe der Ideen des Patriotismus die Sklavengewohnheiten der Tradition der Unterdrückten nährt und festigt ihre revolutionäre Auflehnung neutralisiert und ihr Klassenbewusstsein verfälscht.

Wenn das europäische Proletariat die Bourgeoisie beim Ausgang des großen Krieges nicht gestürzt hat, wenn die Menschheit sich heute in Krisenqualen windet, wenn ein neuer Krieg Dorf und Stadt in Trümmerhaufen zu verwandeln droht, so trägt die Hauptschuld an diesen Verbrechen und Verheerungen die Zweite Internationale.

26. Die Politik des Sozialpatriotismus hat die Massen ideologisch wehrlos gemacht gegenüber dem Faschismus. Soll man Sich während des Krieges vom Klassenkampf lossagen namens der Interessen der Nation, so muss man auf den „Marxismus“ auch in der Epoche der großen Wirtschaftskrise verzichten, die die Nation nicht weniger bedroht als ein Krieg. Rosa Luxemburg erschöpfte diese Frage bereits im April 1915 in den folgenden Worten: „Entweder ist der Klassenkampf auch im Kriege das übermächtige Daseinsgesetz des Proletariats... Oder der Klassenkampf ist auch im Frieden ein Frevel gegen die nationalen Interessen und die Sicherheit des Vaterlandes“ ...“. Den Gedanken der „nationalen Interessen“ und der „Sicherheit des Vaterlandes“ verwandelte der Faschismus in Hand- und Fußschellen für das Proletariat.

27. Die deutsche Sozialdemokratie unterstützte die Außenpolitik Hitlers so lange, bis er sie davonjagte. Die endgültige Ersetzung der Demokratie durch den Faschismus zeigte, die Sozialdemokratie bleibt patriotisch „nur solange ihr Profit und politische Vorrechte garantiert. In die Emigration versetzt, krempeln sich die ehemaligen hohenzollerischen Patrioten plötzlich um und sind bereit, einen Präventivkrieg der französischen Bourgeoisie gegen Hitler willkommen zu heißen. Der Zweiten Internationale kostete es nicht viel Mühe, Wels & Co zu amnestieren, die schon morgen, wenn die deutsche Bourgeoisie ihnen den kleinen Finger reichte, sich wieder in flammende Patrioten zurückverwandeln würden.

28. Die französischen, belgischen und anderen Sozialisten beantworten die deutschen Ereignisse mit einem offenen Bündnis mit ihrer Bourgeoisie hinsichtlich der „nationalen Verteidigung“. Während das offizielle Frankreich einen „kleinen“, „unscheinbaren“ aber durch außerordentliche Niedertracht hervorstechenden Krieg gegen Marokko führte, verbreiteten sich die französische Sozialdemokratie und die reformistische Gewerkschaften auf ihren Kongressen gegen die Unmenschlichkeit der Kriege überhaupt, wobei sie damit vornehmlich den Revanchekrieg seitens Deutschland meinten. Parteien, welche die Grausamkeiten der Kolonialräuberei unterstützten, wo es nur neue Gewinne gilt, werden mit verbundenen Augen jede nationale Regierung stützen in dem großen Krieg, wo es um das Schicksal des bürgerlichen Regimes gehen wird.

29. Die Unvereinbarkeit der sozialdemokratischen Politik mit den geschichtlichen Aufgaben des Proletariats ist in der Gegenwart unvergleichlich tiefer und schärfer als am Vorabend des imperialistischen Krieges. Der Kampf mit dem patriotischen Aberglauben der Massen bedeutet vor allem unversöhnlichen Kampf gegen die Zweite Internationale als Organisation, als Partei, als Programm, als Banner.

 

 

Der Zentrismus und der Krieg

30. Der erste imperialistische Krieg hat die Zweite Internationale als revolutionäre Partei vollständig liquidiert und dadurch die Notwendigkeit und Möglichkeit geschaffen zur Bildung der Dritten Internationale. Doch die republikanische „Revolution“ in Deutschland und Österreich-Ungarn, die Demokratisierung des Wahlrechts in einer Reihe von Ländern, die Zugeständnissen seitens der tief erschrockenen europäischen Bourgeoisie auf dem Gebiet der Sozialgesetzgebung in den ersten Nachkriegsjahren – all das gewährte, zusammen mit der verderblichen Politik der Epigonen des Leninismus, der Zweiten Internationale eine beträchtliche Fristverlängerung schon nicht mehr als revolutionäre, sondern als konservativ-liberale Arbeiterpartei der friedlichen Reformen. Sehr schnell jedoch – endgültig mit dem Anbruch der letzten Weltkrise – erwiesen sich alle Möglichkeiten auf dem Reformwege als erschöpft. Die Bourgeoisie ging zum Gegenangriff über. Die Sozialdemokratie gab verräterisch eine Position nach der anderen preis. Alle Spielarten des Reformismus – der Parlaments-, der Gewerkschafts-, der Gemeinde-, der Genossenschafts-„Sozialismus“ – erlitten in den letzten Jahren eine Reihe von nicht wieder gut zu machenden Bankrotten und Katastrophen. Im Endergebnis trifft die Vorbereitung des neuen Krieges durch den Imperialismus die Zweite Internationale mit zerbrochenem Rückgrat an. In den Sozialdemokratischen Parteien geht ein intensiver Mauserungsprozess vor sich. Der konsequente Reformismus schminkt sich um, verstummt oder spaltet sich ab. An seine Stelle treten die verschiedenen Schattierungen des Zentrismus, bald in der Form zahlreicher Fraktionen innerhalb der alten Parteien, bald in Form selbständiger Organisationen.

31. In der Frage der Vaterlandsverteidigung greifen die maskierten Reformisten und rechten Zentristen (Leon Blum, Hendrik de Man, Robert Grimm, Martin Tranmæl, Otto Bauer, usw.) zu immer diplomatischeren, verworreneren, bedingteren Formulierungen, berechnet zugleich auf die Beschwichtigung der Bourgeoisie und auf die Täuschung der Arbeiter. Sie stellen Wirtschafts“pläne“ oder eine Reihe sozialer Forderungen auf und versprechen dafür, soweit die nationale Bourgeoisie ihr Programm unterstützen wird, das Vaterland vor dem äußeren „Faschismus“ zu schützen. Der Zweck dieser Fragestellung ist, die Frage des Klassencharakters des Staates zu verwischen, dem Problem der Machteroberung auszuweichen und unter dem Deckmantel einen „sozialistischen“ Planes die Verteidigung des kapitalistischen Vaterlandes durchzuschmuggeln.

32. Die linken Zentristen, die sich ihrerseits durch eine große Anzahl von Färbungen auszeichnen (SAP in Deutschland, OSP in Holland, ILP in England, die Gruppen Zyromskis und Marceau Piverts in Frankreich usw. usw.) gehen in Worten bis zur Ablehnung der Vaterlandsverteidigung. Doch ziehen sie aus dieser nackten Ablehnung nicht die notwendigen praktischen Schlussfolgerungen. Ihr Internationalismus trägt zur Hälfte, wenn nicht zu neun Zehnteln platonischen Charakter. Sie fürchten, sich von den rechten Zentrismus zu trennen: Im Namen des Kampfes gegen das „Sektierertum“ führen sie einen Kampf gegen den Marxismus, verzichten auf den Kampf um die revolutionäre Internationale oder verbleiben weiter in der Zweiten Internationale, an deren Spitze der königliche Lakai Vandervelde steht. In gewissen Augenblicken dem Schub der Massen nach links Ausdruck verleihend, bremsen die Zentristen letzten Endes die revolutionäre Umgruppierung im Proletariat und folglich auch den Kampf gegen den Krieg.

33. Seinem ganzen Wesen nach bedeutet Zentrismus Halbheit und Schwanken. Indes ist das Kriegsproblem am allerwenigsten für eine Politik des Schwankens geeignet. Für die Massen ist der Zentrismus immer nur eine kurze Übergangsetappe. Die wachsende Kriegsgefahr wird eine immer schärfere Differenzierung in den zentristischen Gruppierungen, die heute in der Arbeiterbewegung vorherrschen, hervorrufen. Die proletarische Vorhut wird sich für den Kampf gegen den Krieg umso besser gewappnet erweisen, je schneller und vollständiger sie ihr Denken aus den Verstrickungen des Zentrismus befreit. Klare und unversöhnliche Stellung aller mit dem Krieg verbundenen Fragen ist die notwendige Vorbedingung für einen Erfolg auf diesem Wege.

 

 

Die Sowjetdiplomatie und die internationale Revolution

34. Nach der Machteroberung bezieht das Proletariat selbst die Position der „Vaterlandsverteidigung“. Doch hinter dieser Formel steckt von da an ein ganz neuer geschichtlicher Inhalt. Der isolierte Arbeiterstaat ist kein selbstgenügsames Ganzes, sondern lediglich Truppensammelplatz der Weltrevolution. In Gestalt der UdSSR verteidigt das Proletariat nicht nationale Grenzen, sondern die einstweilen in nationale Grenzen gezwängte sozialistische Diktatur. Nur tiefes Verständnis dafür, dass die proletarische Revolution im nationalen Rahmen nicht zur Vollendung gelangen kann, dass ohne den Sieg des Proletariats in den wichtigsten Ländern alle Erfolge des sozialistischen Aufbaus in der UdSSR dem Untergang geweiht sind, dass es für kein einziges Land eine andere Rettung gibt als die internationale Revolution, dass die sozialistische Gesellschaft nur auf Grund internationaler Zusammenarbeit errichtet werden kann – nur diese unerschütterliche, in Fleisch und Blut übergegangene Überzeugung vermag der revolutionären proletarischen Politik während des Krieges eine verlässliche Grundlage zu schaffen.

35. Die Außenpolitik der Sowjets, die ausgeht von der Theorie des Sozialismus in einem Lande, d.h. der faktischen Nichtachtung der Aufgaben der internationalen Revolution, ist auf zwei Gedanken aufgebaut: die allgemeine Abrüstung und der gegenseitige Angriffsverzicht. Dass die Sowjetregierung auf dem Gebiet der diplomatischen Garantien zu einer rein formalistischen Stellung der Fragen von Krieg und Frieden Zuflucht nehmen muss, ergibt sich aus den Bedingungen der kapitalistischen Umkreisung. Doch niemals durfte man diese Methoden der Anpassung an den Feind, die sich aufdrängten durch die Schwäche der internationalen Revolution und in erheblichem Maße durch die vorangegangenen Fehler der Sowjetmacht selbst, zu einem Universalsystem ausbauen. Indes bildeten die Taten und Reden der Sowjetdiplomatie, die längst die Grenzscheide der unvermeidlichen und zulässigen praktischen Kompromisse überschritten hat, die heilige und unantastbare Grundlage der internationalen Politik der Dritten Internationale und wurde zur Quelle gröblichster pazifistischer Illusionen und sozialpatriotischer Abirrungen.

36. Abrüstung ist kein Mittel gegen den Krieg, denn, wie uns die Erfahrung desselben Deutschland zeigt, ist eine episodische Abrüstung lediglich eine Etappe auf dem Wege zu neuer Aufrüstung. Die Möglichkeit zu neuer, und zwar sehr schneller Aufrüstung ist in der heutigen Industrietechnik gegeben. Die „allgemeine“ Abrüstung würde, selbst wenn sie verwirklicht werden könnte, nur eine Stärkung des militärischen Übergewichts der mächtigsten Industrieländer bedeuten. Eine „Abrüstung“ um 50% ist der Weg nicht zu völliger Abrüstung, sondern zu einer vollkommenen Aufrüstung auf 100%. Die Abrüstung hinstellen als das „einzig wirksame Mittel zur Verhinderung des Krieges“, heißt die Arbeiter täuschen im Namen einer gemeinsamen Front mit den kleinbürgerlichen Pazifisten.

37. Man kann nicht für eine Minute dem Sowjetstaat das Recht abstreiten, in diesen oder jenen Verträgen mit den Imperialisten mit größtmöglicher Genauigkeit den Begriff des Angriffs zu definieren. Doch versuchen, diese bedingte juristische Formel zum obersten Regulator der internationalen Beziehungen zu machen, heißt das revolutionäre Kriterium mit einem konservativen vertauschen und die internationale Politik des Proletariats auf den Schutz der bestehenden Annexionen und Gewaltgrenzen zurückführen.

38. Wir sind keine Pazifisten. Den revolutionären Krieg halten wir ebenso für ein Mittel der proletarischen Politik wie den Aufstand. Unser Verhalten zum Krieg richtet sich nicht nach der Rechtsformel des „Angriffs“, sondern danach, welche Klasse den Krieg führt namens welcher Ziele. Bei Zusammenstößen von Staaten wie im Kampfe der Klassen stellen „Angriff“ und „Verteidigung“ Fragen der praktischen Zweckmäßigkeit dar und keine rechtlichen oder sittlichen Normen. Das leere Kriterium des Angriffs bietet nur eine Stütze für die sozialpatriotische Politik der Herren Léon Blum, Vandervelde usw., die dank Versailles die Möglichkeit besitzen, die imperialistische Beute zu verteidigen unter dem Schein der Aufrechterhaltung des Friedens.

39. Stalins berüchtigte Formel: „Keinen Fleck fremden Bodens wollen wir, keinen Fußbreit Boden lassen wir“, stellt ein konservatives Programm der Erhaltung des Status quo dar, das von Grund auf dem Angriffscharakter der proletarischen Revolution widerspricht. Die Ideologie des Sozialismus in einem Lande führt unausweichlich zur Verwischung der reaktionären Rolle des Nationalstaates, zur Versöhnung mit ihm, zu seiner Idealisierung, zur Herabdrückung der Bedeutung des revolutionären Internationalismus.

40. Die Führer der Dritten Internationale rechtfertigen die Politik der Sowjetdiplomatie damit, der Arbeiterstaat müsse die Gegensätze im Lager der Imperialisten ausnutzen. Die an sich unbestreitbare Feststellung bedarf jedoch der Konkretisierung.

Die Außenpolitik jeder Klasse ist die Fortsetzung und Weiterentwicklung ihrer Innenpolitik. Soll das Proletariat an der Macht die Gegensätze im Lager seiner äußeren Feinde aufspüren und ausnutzen, so muss das um die Macht kämpfende Proletariat die Gegensätze im Lager seiner inneren Feinde aufzuspüren und auszunutzen wissen. Der Umstand, dass die Dritte Internationale sich als absolut unfähig erwies, den Gegensatz zwischen reformistischer Demokratie und Faschismus zu begreifen und auszunutzen, hat unmittelbar zur größten Niederlage des Proletariats geführt und die Gefahr eines neuen Krieges dicht heraufbeschworen.

Die Ausnutzung der Gegensätze unter den imperialistischen Regierungen ist andererseits nicht anders zu bewerkstelligen als vom Standpunkt der internationalen Revolution. Die Verteidigung der UdSSR ist nur denkbar bei gänzlicher Unabhängigkeit der internationalen proletarischen Vorhut von der Politik der Sowjetdiplomatie, bei völliger Freiheit der Entlarvung ihrer national-konservativen, gegen die Interessen der internationalen Revolution und damit auch gegen die Interessen der Sowjetunion gerichteten Methoden.

 


Zuletzt aktualiziert am 21.7.2008