Leo Trotzki

 

Was Nun?


XIII. Streikstrategie

Auf gewerkschaftlichem Gebiet hat die kommunistische Führung die Partei endgültig verwirrt. Der allgemeine Kurs der „dritten Periode“ ging auf parallele Gewerkschaftsverbände. Man nahm an, die Massenbewegung würde über die alten Verbände hinausströmen und die Organe der RGO (Revolutionäre Gewerkschaftsopposition) würden zu Initiativkomitees des wirtschaftlichen Kampfes werden. Zur Verwirklichung dieses Planes fehlte eine Kleinigkeit: die Massenbewegung. Bei Frühjahrshochwasser tragen die Wellen viele Umzäunungen ab. Versuchen wir die Umzäunung abzutragen – meinte Losowski, vielleicht werden dann Frühjahrsströme fließen!

Die reformistischen Verbände vermochten sich zu behaupten. Aus den Betrieben warf die Kommunistische Partei sich selbst heraus. Darauf begann man, die Gewerkschaftspolitik stückweise zu korrigieren. Die Kommunistische Partei weigert sich, die unorganisierten Arbeiter zum Eintritt in die reformistischen Gewerkschaften aufzurufen. Sie spricht sich aber auch gegen den Austritt aus den Gewerkschaften aus. Während sie parallele Gewerkschaften bildet, hat sie gleichzeitig die Losung des Kampfes um den Einfluß innerhalb der reformistischen Verbände wieder aufgenommen. Das Ganze ist eine ideale Selbstsabotage.

Die Rote Fahne beklagt sich darüber, daß viele Kommunisten die Beteiligung an den reformistischen Verbänden für zwecklos halten. „Wozu den alten Laden wieder beleben?“, erklären sie. Und wirklich: wozu? Will man ernstlich um die Eroberung der alten Verbände kämpfen, muß man die Unorganisierten zum Eintritt auffordern; gerade die neuen Schichten können eine Stütze für den linken Flügel abgeben. Dann darf man aber keine parallelen Verbände bauen, d.h. eine Konkurrenzagentur zur Rekrutierung von Arbeitern aufmachen.

Die von oben empfohlene Politik innerhalb der reformistischen Gewerkschaften steht ganz auf dem Niveau all des übrigen Wirrwarrs. Am 28. Januar werden in der Roten Fahne den kommunistischen Gewerkschaftsmitgliedern des Metallarbeiterverbandes in Düsseldorf die Leviten gelesen, weil sie die Losung: „Rücksichtsloser Kampf gegen jede Teilnahme der Gewerkschaftsführer an der Unterstützung der Brüningregierung“ aufgestellt haben. Solche opportunistischen Forderungen seien unstatthaft, denn sie setzten voraus, daß die Reformisten fähig seien, auf die Unterstützung Brünings und seiner Notverordnungen zu verzichten. Das sieht wahrlich einem üblen Scherz ähnlich! Die Rote Fahne meint, es genüge, die Führer zu beschimpfen, doch sei es unzulässig, sie einer politischen Prüfung durch die Massen zu unterwerfen.

Indes erschließt sich gerade in den reformistischen Verbänden ein außerordentlich dankbares Tätigkeitsgebiet. Besitzt die Sozialdemokratische Partei noch die Möglichkeit, die Arbeiter mit politischem Getue zu betäuben, so gleicht für die Gewerkschaften die Sackgasse des Kapitalismus einer hoffnungslosen Kerkermauer. Die 200.000-300.000 in den selbständigen Roten Verbänden organisierten Arbeiter könnten ein unschätzbarer Sauerteig innerhalb der reformistischen Gewerkschaften werden.

Ende Januar tagte in Berlin eine Konferenz kommunistischer Betriebsausschüsse aus dem ganzen Lande. Die Rote Fahne druckt einen Bericht: „Die Betriebsausschüsse schmieden die Rote Arbeiterfront“ (2. Februar). Vergeblich aber sucht man nach Angaben über die Zusammensetzung der Konferenz, die Zahl der vertretenen Betriebe und Arbeiter. Im Gegensatz zum Bolschewismus, der klipp und klar jede Veränderung des Kräfteverhältnisses in der Arbeiterklasse verzeichnete, spielen die deutschen Stalinisten, den russischen folgend, Versteck. Sie wollen nicht zugeben, daß die kommunistischen Betriebsräte weniger als 4 Prozent ausmachen gegenüber 84 Prozent sozialdemokratischer Betriebsräte. In diesem Kräfteverhältnis drückt sich die Bilanz der „Dritten Periode“ aus. Wird es aber die Sache vorwärtsbringen, wenn man die Isolierung der Kommunisten in den Betrieben „Rote Einheitsfront“ nennt?

Die andauernde Krise des Kapitalismus zieht innerhalb des Proletariats die scherzhafteste und gefahrvollste Trennungslinie: die zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen. Der Umstand, daß in den Betrieben die Reformisten vorherrschen, unter den Arbeitslosen dagegen die Kommunisten, paralysiert beide Teile des Proletariats. Arbeitende können warten. Arbeitslose sind ungeduldiger. Augenblicklich hat ihre Ungeduld revolutionären Charakter. Findet aber die Kommunistische Partei nicht Kampfformen und -losungen, die durch Vereinigung der Arbeitenden und der Arbeitslosen die Perspektive des revolutionären Auswegs eröffnen, wird sich die Ungeduld der Arbeitslosen unentrinnbar gegen die Kommunistische Partei wenden.

Im September und Oktober 1917 begannen, trotz richtiger Politik der Bolschewistischen Partei und rascher Entfaltung der Revolution, die schlechter gestellten und ungeduldigeren Schichten des Proletariats, sogar in Petrograd, sich von den Bolschewiken ab und den Syndikalisten und Anarchisten zuzuwenden. Wäre nicht rechtzeitig der Oktoberumsturz gekommen, so hätte der Zerfall des Proletariats akuten Charakter angenommen und zur Fäulnis der Revolution geführt. In Deutschland bedarf es nicht der Anarchisten; ihren Platz können die Nationalsozialisten einnehmen, die anarchistische Demagogie mit bewußt reaktionären Zielen verbinden.

Die Arbeiter sind keineswegs ein für allemal gegen den Einfluß der Faschisten versichert. Proletariat und Kleinbürgertum bilden kommunizierende Röhren, besonders unter den jetzigen Umständen, wo die Reservearmee kleine Krämer, fliegende Händler usw. hervorbringen muß, das in Zersetzung befindliche Kleinbürgertum aber – Proletarier und Lumpenproletarier.

Angestellte, technisches und administratives Personal, gewisse Beamtenschichten haben in der Vergangenheit eine der wichtigsten Stützen der Sozialdemokratie abgegeben. Jetzt gingen oder gehen diese Schichten zu den Nationalsozialisten über. Sie können die Schicht der Arbeiteraristokratie mit sich ziehen – wenn das nicht schon begonnen hat. Auf dieser Linie bricht der Nationalsozialismus ins Proletariat von oben ein. Viel gefährlicher ist aber sein möglicher Einbruch von unten durch die Arbeitslosen. Keine Klasse vermag lange ohne Perspektiven und Hoffnungen zu leben. Die Arbeitslosen sind keine Klasse, aber schon eine sehr kompakte und dauerhafte soziale Schicht, die sich vergeblich bemüht, den unerträglichen Verhältnissen zu entrinnen. Ist es allgemein richtig, daß nur die proletarische Revolution Deutschland vor dem Zerfall und dem Ruin retten kann, so gilt das vor allem in bezug auf die Millionen von Arbeitslosen.

Bei der Ohnmacht der Kommunistischen Partei in Betrieben und Gewerkschaften entscheidet das Wachstum der Partei nichts. In dem erschütterten, von Krise und Gegensätzen zerrissenen Volke kann eine extrem linke Partei zehntausende neuer Anhänger finden, besonders wenn ihr gesamter Apparat auf individuellen Mitgliederfang im Wege des „Wettbewerbs“ gerichtet ist. Alles liegt am Wechselverhältnis zwischen Partei und Klasse. Ein einziger Kommunist, der in den Betriebsausschuß oder die Gewerkschaftsleitung gewählt wird, hat mehr Bedeutung als tausend da und dort aufgelesene Mitglieder, die heute der Partei beitreten, um sie morgen zu verlassen.

Aber auch der individuelle Zustrom zur Partei wird keineswegs endlos andauern. Wenn die Kommunistische Partei auch weiterhin den Kampf bis zu dem Augenblick verschiebt, wo sie die Reformisten endgültig verdrängt hat, so wird sie merken, daß von einem gewissen Moment an die Sozialdemokratie nicht mehr zugunsten der Kommunisten an Einfluß verlieren wird, und daß der Faschismus anfängt, die Arbeitslosen, das Hauptfundament der Kommunistischen Partei, zu zersetzen.

Die Nichtausnutzung der eigenen Kräfte für die Aufgaben, die sich aus der ganzen Situation ergeben, bleibt für eine politische Partei nie straflos.

Um dem Massenkampf den Weg zu bahnen, versucht die Kommunistische Partei, Teilstreiks auszulösen. Die Erfolge auf diesem Gebiet sind nicht groß. Wie immer beschäftigen sich die Stalinisten mit Selbstkritik: „Wir verstehen noch nicht zu organisieren“ ..., „Wir verstehen noch nicht mitzureißen“ ..., „wir verstehen noch nicht zu erfassen“ ... Wobei „wir“ immer „Ihr“ bedeutet. Widerstanden ist die famose Theorie aus den Märztagen 1921: man muß das Proletariat durch Offensivaktionen der Minderheit „elektrisieren“. Doch die Arbeiter brauchen nicht „elektrisiert“ zu werden. sie wollen, daß man ihnen eine klare Perspektive gibt und die Voraussetzungen einer Massenbewegung schaffen hilft.

In ihrer Streikstrategie läßt sich die Kommunistische Partei augenscheinlich durch einzelne Lenin-Zitate in der Auslegung Manuilskis oder Losowskis leiten. Tatsächlich gab es Perioden, wo die Menschewiki gegen das „Streikhasard“ kämpften, während die Bolschewiki sich an die Spitze eines jeden neuen Streiks stellten und immer größere Massen in die Bewegung hineinzogen. Das entsprach der Periode des Erwachens neuer Schichten der Klasse. dies war die Taktik der Bolschewiki im Jahre 1905, während des industriellen Aufschwungs in den Vorkriegsjahren und auch in den ersten Monaten der Februarrevolution.

Aber in dem der Oktoberrevolution unmittelbar vorausgehenden Zeitabschnitt, seit den Julitagen 1917, hatte die Taktik der Bolschewiki anderen Charakter: sie hielten von Streiks zurück, bremsten sie ab, denn jeder größere Streik hatte die Tendenz, sich in eine Entscheidungsschlacht zu verwandeln, während die politischen Voraussetzungen dazu noch nicht herangereift waren.

Doch auch während jener Monate stellten sich die Bolschewiki weiterhin an die Spitze aller Streiks, die trotz ihrer Warnungen hauptsächlich in den rückständigeren Industriezweigen (Textilarbeiter, Lederarbeiter usw.) ausgebrochen waren.

Lösten unter bestimmten Bedingungen die Bolschewiki im Interesse der Revolution kühne Streiks aus, so hielten sie umgekehrt unter anderen Bedingungen im Interesse der Revolution von Streiks zurück. Auf diesem Gebiete gibt es, wie auf den übrigen, keinerlei fertige Rezepte. Doch bildete die Streikstrategie der Bolschewiki in jeder Phase ein Element der Gesamtstrategie, und den fortgeschrittenen Arbeitern war die Verbindung zwischen Teil und Ganzem klar.

Wie steht die Sache jetzt in Deutschland? Die beschäftigten Arbeiter widersetzen sich der Lohnsenkung nicht, da sie sich vor den Arbeitslosen fürchten. Kein Wunder, bei einigen Millionen Arbeitslosen ist der gewöhnliche, gewerkschaftlich organisierte Streikkampf offensichtlich hoffnungslos. Doppelt hoffnungslos ist er bei politischem Antagonismus zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen. Das schließt aber Teilstreiks nicht aus, besonders in zurückgebliebeneren, weniger zentralisierten Industriezweigen. Aber gerade die Arbeiter der wichtigsten Industrien neigen bei dieser Lage dazu, auf die reformistischen Führer zu hören. Die Versuche der Kommunistischen Partei, Teilstreiks auszulösen, ohne die Gesamtlage im Proletariat zu ändern, führen lediglich zu kleinen Partisanenoperationen, die selbst im Falle des Erfolgs keine Fortsetzung finden.

Nach Berichten kommunistischer Arbeiter (siehe etwa Der Rote Aufbau) spricht man in den Betrieben davon, daß Teilstreiks gegenwärtig keinen Sinn hätten und nur ein Generalstreik die Arbeiter aus dem Elend herausführen könne. „Generalstreik“ heißt hier: Kampf-Perspektive. Die Arbeiter können sich umso weniger durch zerstreute Streiks inspirieren lassen, als sie es unmittelbar mit der Staatsmacht zu tun bekommen: das Monopolkapital redet mit ihnen in der Sprache der Brüningschen Notverordnungen. [1*]

Zu Beginn der Arbeiterbewegung hatten sich die Agitatoren bei der Hineinziehung von Arbeitern in Streiks der Entwicklung revolutionärer und sozialistischer Perspektiven enthalten, um die Arbeiter nicht abzuschrecken. Jetzt ist die Situation genau umgekehrt. Die führende Schicht der deutschen Arbeiter kann sich zum Eintritt in den ökonomischen Verteidigungskampf nur dann entschließen, wenn ihr die allgemeinen Perspektiven des weiteren Kampfes klar sind. Diese Perspektiven findet sie nicht bei der Kommunistischen Führung.

Zur Taktik der Märztage des Jahres 1921 in Deutschland (die Minderheit des Proletariats „elektrisieren“, statt dessen Mehrheit zu erobern) sagte der Autor dieser Zeilen zur Zeit des III. Kongresses: „Wenn aber die überwiegende Majorität der Arbeiterklasse sich über die Bewegung keine Rechenschaft abgibt, mit ihr nicht sympathisiert oder an ihren Erfolg nicht glaubt, die Minorität hingegen vorwärtsstürmt und mit mechanischen Mitteln die Arbeiter in den Streik zu treiben sucht, – dann kann diese ungeduldige Minderheit in Gestalt der Partei mit der Arbeiterklasse in feindliche Zusammenstöße geraten und sich den Kopf einrennen“.

Soll man also auf den Streikkampf verzichten? Nein, nicht verzichten, sondern die notwendigen politischen und organisatorischen Voraussetzungen dafür schaffen. Eine von ihnen ist die Wiederherstellung der Gewerkschaftseinheit. Die reformistische Bürokratie will sie natürlich nicht. Die Spaltung hat ihre Lage bisher, wie es besser nicht möglich ist, gesichert. Doch die Bedrohung durch den Faschismus ändert die Lage in den Verbänden zu ungunsten der Bürokratie. Der Zug zur Einheit wächst. Wenn die Leipart-Clique unter den jetzigen Umständen versucht, die Wiederherstellung der Einheit zu verweigern, so würde das sogleich den kommunistischen Einfluß in den Verbänden verdoppeln und verdreifachen. Kommt die Einigung zustande, besser: den Kommunisten wird sich ein breites Arbeitsfeld erschließen. Nicht halbe Maßnahmen tun not, sondern eine kühne Wendung!

Ohne eine große Kampagne gegen die Teuerung, für die Kürzung der Arbeitswoche, gegen Lohnabbau; ohne die Einbeziehung der Arbeitslosen in den Kampf, Hand in Hand mit den Arbeitenden; ohne erfolgreiche Anwendung der Einheitsfrontpolitik – werden die kleinen, improvisierten Streiks die Bewegung nicht auf die breite Bahn hinausführen.

 

Die linken Sozialdemokraten sprechen von der Notwendigkeit, „im Falle der Machtübernahme durch die Faschisten“ zum Generalstreik zu greifen! Wahrscheinlich prunkt auch Leipart in seinen vier Wänden mit solchen Drohungen. auf diesem Anlaß spricht Die Rote Fahne von Luxemburgismus. Das ist eine Verleumdung der großen Revolutionärin. Hat Rosa Luxemburg auch die selbständige Bedeutung des Generalstreiks für die Machtergreifung überschätzt, so begriff sie immerhin sehr gut, daß man einen Generalstreik nicht willkürlich hervorrufen kann, daß er durch den ganzen bisherigen Weg der Arbeiterbewegung vorbereitet wird, durch die Politik von Partei und Gewerkschaften. Aber im Munde der linken Sozialdemokraten ist der Massenstreik eher ein tröstlicher Mythos, der die klägliche Wirklichkeit überhöht.

Die französische Sozialdemokratie hat viele Jahre hindurch versprochen, im Kriegsfalle zum Generalstreik zu greifen. Der Baseler Kongreß von 1912 versprach sogar, zum revolutionären Aufstand zu greifen. Die Drohung mit Generalstreik und Aufstand hatte in diesen Fällen nur den Charakter eines Theaterdonners. Hier geht es keineswegs um die Gegenüberstellung von Streik und Aufstand, sondern um eine abstrakte, formale, verbale Haltung zum Streik wie zum Aufstand. Ein mit der Abstraktion der Revolution gewappneter Reformist – das war überhaupt der Typus des Vorkriegs-Sozialdemokraten à la Bebel. [1] Der Nachkriegsreformist, der mit der Drohung des Generalstreiks fuchtelt, ist nur eine lebende Karikatur.

Die kommunistische Leitung verhält sich zum Generalstreik sicherlich weitaus ehrlicher. Aber ihr fehlt es auch in dieser Frage an Klarheit. Klarheit aber tut not. Der Generalstreik ist ein sehr wichtiges Kampfmittel, doch kein universales. Es gibt Bedingungen, unter denen der Generalstreik die Arbeiter mehr schwächen kann als ihren unmittelbaren Feind. Der Streik muß ein wichtiges Element im strategischen Kalkül bilden, nicht aber ein Allheilmittel, in dem jede Strategie ertrinkt.

Allgemein gesprochen ist der Generalstreik die Waffe des Schwächeren gegen den Stärkeren, oder genauer gesagt dessen, der zu Beginn des Kampfes sich schwächer fühlt dem gegenüber, den er für stärker hält; kann ich eine wirksame Waffe nicht ausnützen, so suche ich den Widersacher an deren Ausnutzung zu hindern, kann ich nicht aus Kanonen schießen, so löse ich zumindest ihren Verschluß. Das ist die „Idee“ des Generalstreiks.

Der Generalstreik war stets ein Kampfmittel gegen die bestehende Staatsmacht, die über Eisenbahn, Telegraf, militärisch-polizeilichen Apparat verfügt. Indem er den Staatsapparat paralysierte, versetzte der Generalstreik entweder die Mächtigen in Schrecken oder schuf die Voraussetzungen für die revolutionäre Lösung der Machtfrage.

Der Generalstreik erwies sich als ein besonders wirksames Kampfmittel unter Bedingungen, wo die werktätigen Massen lediglich durch revolutionäre Empörung geeint sind, aber über keinerlei Kampforganisationen und Stäbe verfügen und im voraus weder das Kräfteverhältnis abwägen, noch einen Operationsplan ausarbeiten können. So kann man sich vorstellen, daß die antifaschistische Revolution in Italien, durch diese oder jene isolierten Zusammenstöße eingeleitet, unvermeidlich durch ein Stadium des Generalstreiks hindurchgehen wird. Nur auf diese Weise wird das jetzt zersplitterte Proletariat Italiens sich wieder als Klasse fühlen und die Widerstandskraft des Feindes messen, den es stürzen muß.

Durch Generalstreik müßte der Faschismus in Deutschland nur in dem Falle bekämpft werden, daß er bereits an der Macht wäre und sich des Staatsapparats fest bemächtigt hätte. Handelt es sich aber darum, den Versuch der Machtergreifung durch die Faschisten zurückzuschlagen, so ist die Losung des Generalstreiks schon im voraus eine Leerformel.

Während Kornilows Offensive gegen Petrograd hatten weder die Bolschewiki noch die Sowjets im ganzen auch nur daran gedacht, den Generalstreik zu proklamieren. Bei den Eisenbahnen ging der Kampf darum, daß die Arbeiter und Angestellten die revolutionären Truppen beförderten und die Kornilowschen Staffeln aufhielten. Betriebe stellten die Arbeit nur ein, soweit die Arbeiter an die Front mußten. Die Betriebe, die die revolutionäre Front belieferten, arbeiteten mit verdoppelter Energie.

Während des Oktoberumsturzes war gleichfalls nicht die Rede vom Generalstreik. Betriebe und Regimenter hatten sich schon am Vorabend der Umwälzung in großer Mehrheit der Führung der bolschewistischen Sowjets untergeordnet. Die Betriebe zum Streik aufzurufen, hätte unter diesen Umständen bedeutet, sich selbst zu schwächen und nicht den Gegner. Bei den Eisenbahnen suchten die Arbeiter den Aufständischen Hilfe zu leisten; die Angestellten halfen unter dem Schein der Neutralität der Konterrevolution. Ein Eisenbahnstreik hätte keinen Sinn gehabt, die Frage wurde durch das Überwiegen der Arbeiter über die Angestellten entschieden.

Würde in Deutschland der Kampf die durch faschistische Provokation hervorgerufenen Teilkämpfe überschreiten, wäre ein Aufruf zum Generalstreik kaum der Lage entsprechend. Der Generalstreik würde vor allem bedeuten: eine Stadt von der anderen abzuschneiden, einen Bezirk vom anderen, einen Betrieb vom anderen. Nicht arbeitende Arbeiter sind schwerer zu finden und zu sammeln. Unter diesen Bedingungen könnten die Faschisten, denen es an Stäben nicht mangelt, dank zentralisierter Leitung ein gewisses Übergewicht erlangen. Allerdings sind ihre Massen so zerstreut, daß auch unter diesen Umständen ein Anschlag der Faschisten abgewehrt werden könnte. Das ist aber ein anderer Aspekt der Sache.

Die Frage der Verkehrsmittel zum Beispiel darf nicht unterm Gesichtspunkt des „Prestiges“ des Generalstreiks betrachtet werden, das verlangt, daß alles stillstehe, sondern unterm Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit des Kampfes, – wem und gegen wen die Verkehrsmittel während des Konfliktes dienen würden.

Man muß sich also nicht auf den Generalstreik, sondern auf Widerstand gegen die Faschisten vorbereiten. Das heißt: überall Stützpunkte schaffen, Stoßtruppen, Reserven, lokale Stäbe und Leitungszentren, einen gut funktionierenden Kurierdienst, elementare Mobilisierungspläne.

Das, was in Bruchsal und Klingenthal getan worden ist, wo die Kommunisten gemeinsam mit SAP und Gewerkschaften, unter Boykott der reformistischen Spitze, eine Abwehrorganisation geschaffen haben, ist trotz der bescheidenen Ausmaße ein Vorbild für das ganze Land. Verehrte Führer, weise Strategen, möchte man ihnen da zurufen, lernt bei den Arbeitern von Bruchsal und Klingenthal!

Das deutsche Proletariat verfügt über mächtige politische, wirtschaftliche und sportliche Organisationen. Darin besteht ja auch der Unterschied zwischen dem „Brüningregime“ und dem „Hitlerregime“. Darin liegt kein Verdienst Brünings – bürokratische Schwäche ist kein Verdienst. Doch muß man sehen, was ist. Die wichtigste, grundlegendste, kapitale Tatsache ist, daß Deutschlands Proletariat heute noch über das volle Rüstzeug seiner Organisationen verfügt. Wenn es schwach ist, so nur deshalb, weil seine organisatorische Kraft nicht richtig genutzt wird. Es würde aber genügen, den Versuch von Bruchsal und Klingenthal auf ganz Deutschland zu übertragen, um Deutschland ein anderes Gesicht zu geben. Gegen die Faschisten könnte die Arbeiterklasse unter diesen Bedingungen weitaus wirksamere und direktere Kampfmittel anwenden als den Generalstreik. Würde sich aber unter bestimmten Umständen dennoch die Notwendigkeit des Massenstreiks ergeben (eine solche Notwendigkeit könnte aus einem bestimmten Verhältnis zwischen Faschismus und Staatsorganen resultieren), so wäre ein System von Verteidigungskomitees auf der Grundlage der Einheitsfront imstande, den Massenstreik mit von vornherein gesichertem Erfolg durchzuführen.

Auf dieser Etappe würde der Kampf nicht halt machen. Denn was ist im Grunde die Bruchsaler oder die Klingenthaler Organisation? Man muß im Kleinen das Große zu sehen wissen: das ist der Lokalsowjet der Arbeiterdeputierten. Er nennt sich nicht so und fühlt sich nicht so, denn es handelt sich um einen vergessenen Provinzwinkel. Die Quantität bestimmt auch hier die Qualität. Übertragt den Versuch auf Berlin – und Ihr habt den Berliner Sowjet der Arbeiterdeputierten!

 

 

Fußnote von Trotzki

1*. Manche Ultralinken (zum Beispiel die italienische Gruppe der Bordigisten) meinen, die Einheitsfront sei nur im Wirtschaftskampf zulässig. Der Versuch, den wirtschaftlichen vom politischen Kampf zu trennen, ist in unserer Epoche undurchführbarer als je zuvor. Das Beispiel Deutschlands, wo durch Regierungsverordnungen Tarifverträge aufgehoben und Arbeitslöhne verkürzt werden, müßte diese Wahrheit auch kleinen Kindern begreiflich machen. Nebenbei sei bemerkt, daß in ihrem gegenwärtigen Stadium die Stalinisten viele der früheren Vorurteile des Bordigismus reproduzieren. Kein Wunder, daß die Gruppe um Prometeo, die nichts zulernt und keinen Schritt vorwärts macht, heute, in der Periode des ultralinken Zickzacks der Komintern, den Stalinisten weitaus näher stehen als uns.


Anmerkung

1. August Bebel (1840-1913): mit Wilhelm Liebknecht Gründer der deutschen Sozialdemokratie; wichtiger Führer bis zu seinem Tod.

 


Zuletzt aktualiziert am 22.7.2008