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Der italienische Faschismus erwuchs unmittelbar aus dem von den Reformisten verratenen Aufstand des italienischen Proletariats. Seit Kriegsende war die revolutionäre Bewegung Italiens im Aufstieg begriffen, um im September 1920 zur Besetzung der Betriebe und Fabriken durch die Arbeiter zu führen. Die Diktatur des Proletariats war zur Tatsache geworden, es hieß nur, sie zu organisieren und alle Konsequenzen daraus zu ziehen. Die Sozialdemokratie erschrak und drängte zurück. Nach kühnen, heroischen Anstrengungen stand das Proletariat vor dem Nichts. Der Zusammenbruch der revolutionären Bewegung wurde zur wichtigsten Voraussetzung des Wachstums des Faschismus. Im September war die revolutionäre Offensive des Proletariats zum Stillstand gekommen, im November fand bereits das erste bedeutendere Auftreten der Faschisten statt (die Besetzung Bolognas).
Allerdings war das Proletariat auch nach der Septemberkatastrophe zu Verteidigungskämpfen fähig. Doch die Sozialdemokraten hatten nur eine Sorge: die Arbeiter um den Preis unaufhörlicher Konzessionen aus dem Feuer zu führen. Die Sozialdemokraten hofften, durch unterwürfige Haltung der Arbeiter würde sich die „öffentliche Meinung“ der Bourgeoisie gegen die Faschisten richten. Noch mehr, die Reformisten erhofften sogar die Hilfe Viktor Emanuels. [1] Bis zur letzten Stunde hielten sie die Arbeiter vom Kampf mit den Mussolini-Banden zurück. Doch das half nichts. Die Krone schlug sich im Gefolge der Bourgeoisie auf die Seite des Faschismus. Nachdem sie sich in letzter Minute überzeugt hatten, daß der Faschismus durch Demut nicht aufzuhalten sei, riefen die Sozialdemokraten die Arbeiter zum Generalstreik auf. Aber ihr Appell führte zu einem Fiasko. Die Reformisten hatten solange das Pulver benetzt, in der Angst, es könnte Feuer fangen, daß, als sie endlich mit zitternder Hand das brennende Zündholz daran hielten, das Pulver nicht entflammte.
Zwei Jahre nach seinem Entstehen war der Faschismus an der Macht. Er festigte seine Positionen dank dem Umstand, daß die erste Periode seiner Herrschaft mit einer günstigen Wirtschaftskonjunktur zusammenfiel, die der Depression von 1921-22 folgte. Die Faschisten erdrückten das im Rückzug befindliche Proletariat mit der Angriffskraft der Kleinbourgeoisie. Doch geschah das nicht auf einen Schlag. Schon an der Macht, bewegte sich Mussolini auf seinem Wege mit einer gewissen Vorsicht weiter. Er verfügte noch nicht über fertige Muster. In den ersten beiden Jahren wurde nicht einmal die Verfassung geändert. Die faschistische Regierung hatte den Charakter einer Koalition. Die faschistischen Banden arbeiteten unterdessen mit Knütteln, Messern und Revolvern. Erst allmählich bildete sich der faschistische Staat heraus; das bedeutet die völlige Vernichtung aller selbständigen Massenorganisationen.
Mussolini erreichte das um den Preis der Bürokratisierung der faschistischen Partei selbst. Nachdem er die Angriffskraft des Kleinbürgertums ausgenutzt hatte, erstickte es der Faschismus in den Zangen des bürgerlichen Staates. Anders konnte er nicht verfahren, denn die Enttäuschung der durch ihn mobilisierten Massen wurde für ihn selbst zu einer unmittelbaren Gefahr. Der bürokratisierte Faschismus hat sich außerordentlich den anderen Formen militärisch-polizeilicher Diktatur genähert. Er verfügt nicht mehr über seine ehemalige soziale Stütze. Das Hauptreservoir des Faschismus – das Kleinbürgertum – hat sich verausgabt. Nur die historische Trägheitskraft gestattet dem faschistischen Staat, das Proletariat im Zustand der Zersplitterung und Ohnmacht zu halten. Das Kräfteverhältnis verschiebt sich automatisch zugunsten des Proletariats. Diese Verschiebung muß zur Revolution führen. Der Zusammenbruch des Faschismus wird eines der katastrophalsten Ereignisse der europäischen Geschichte sein. Doch all diese Prozesse brauchen, wie die Tatsachen beweisen, Zeit. Der faschistische Staat besteht schon seit zehn Jahren. Wie lange wird er sich noch halten? Ohne sich auf das riskante Gebiet der Fristbestimmungen zu begeben, kann man mit Gewißheit behaupten: Hitlers Sieg in Deutschland würde einen neuen und langfristigen Aufschub für Mussolini bedeuten. Hitlers Vernichtung wird für Mussolini den Anfang vom Ende bedeuten.
In ihrer Politik gegenüber Hitler hat die deutsche Sozialdemokratie nicht ein einziges Wort neu erfunden, sie wiederholt bloß gesetzter, was seinerzeit mit großem Temperament die italienischen Reformisten durchgemacht haben. Diese erklärten den Faschismus als Nachkriegspsychose; die deutsche Sozialdemokratie sieht in ihm die „Versailler“ Psychose oder die Krisenpsychose. In beiden Fällen verschließen die Reformisten die Augen vor dem organischen Charakter des Faschismus als einer aus dem Verfallskapitalismus entstehenden Massenbewegung.
In der Angst vor revolutionärer Mobilisierung der Arbeiter setzten die italienischen Reformisten alle Hoffnungen auf den „Staat“. Ihre Losung war: „Viktor Emanuel, greif ein!“ Die deutsche Sozialdemokratie verfügt nicht über eine so demokratische Hilfsquelle wie einen verfassungstreuen Monarchen. Da heißt’s eben, sich mit einem Präsidenten zu begnügen. „Hindenburg [2], greif ein!“
Im Kampf gegen Mussolini, d.h. auf dem Rückzug vor ihm, produzierte Turati [3] seine geniale Formel: „Man muß den Mut haben, ein Feigling zu sein“. Die deutschen Reformisten sind weniger spaßig in ihren Losungen. Sie fordern „Mut zur Unpopularität“. Das ist ein und dasselbe. Man darf nicht die durch feige Anpassung an den Feind hervorgerufene Unpopularität fürchten.
Gleiche Ursachen haben gleiche Wirkungen. Hinge der Gang der Dinge bloß von der sozialdemokratischen Parteileitung ab, Hitlers Karriere wäre gesichert!
Doch man muß zugeben, daß auch die deutsche Kommunistische Partei wenig aus der italienischen Erfahrung gelernt hat.
Die Kommunistische Partei Italiens war fast gleichzeitig mit dem Faschismus entstanden. Doch die gleichen Bedingungen der revolutionären Ebbe, die den Faschismus an die Macht brachten, hielten die Entwicklung der Kommunistischen Partei auf. Sie legte sich nicht Rechenschaft ab über das Ausmaß der faschistischen Gefahr, wiegte sich in revolutionären Illusionen, war ein unversöhnlicher Gegner der Einheitsfrontpolitik, mit einem Worte: sie litt an allen Kinderkrankheiten. Kein Wunder, sie war erst zwei Jahre alt. Der Faschismus erschien ihr lediglich als „kapitalistische Reaktion“. Die spezifischen Züge des Faschismus, die sich aus der Mobilisierung des Kleinbürgertums gegen das Proletariat ergeben, nahm die Kommunistische Partei Italiens nicht wahr. Mit Ausnahme des einzigen Gramsci [4] schloß die Kommunistische Partei, wie mir italienische Freunde mitteilen, selbst die Möglichkeit der faschistischen Machtergreifung aus. Hat einmal die proletarische Revolution eine Niederlage erlitten, der Kapitalismus sich befestigt, die Konterrevolution triumphiert, was für einen konterrevolutionären Umsturz kann es da noch geben? Die Bourgeoisie kann doch nicht gegen sich selbst einen Aufstand machen! Das war der Kern der politischen Orientierung der italienischen Kommunistischen Partei. Man darf dabei nicht vergessen, daß der Faschismus damals eine neue Erscheinung darstellte und sich erst im Formierungsprozeß befand. Seine spezifischen Züge herauszuschälen wäre auch einer erfahreneren Partei nicht leicht gefallen.
Die Leitung der Kommunistischen Partei Deutschlands wiederholt jetzt fast wörtlich die Ausgangsposition des italienischen Kommunismus: Der Faschismus ist lediglich eine kapitalistische Reaktion, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen der kapitalistischen Reaktion sind vom Standpunkt des Proletariats aus bedeutungslos. Dieser Vulgärradikalismus ist um so unverzeihlicher, als die deutsche Partei weitaus älter ist als die italienische in der entsprechenden Periode, und außerdem der Marxismus jetzt um Italiens tragische Erfahrung bereichert ist. Sagen, der Faschismus sei bereits da, oder selbst die Möglichkeit seiner Machtergreifung leugnen – das ist politisch ein und dasselbe. Das Verkennen des spezifischen Charakters des Faschismus lähmt unvermeidlich den Willen, gegen ihn zu kämpfen.
Die Hauptschuld liegt selbstverständlich bei der Kominternführung. Die italienischen Kommunisten wären mehr als alle anderen verpflichtet, ihre warnende Stimme zu erheben. Doch Stalin und Manuilski haben sie gezwungen, sich der wichtigsten Lehren ihrer eigenen Niederlage zu begeben. Wir haben gesehen, mit welch servilem Eifer Ercoli sich sputete, auf die Position des Sozialfaschismus überzugehen, d.h. auf die Position der passiven Erwartung des faschistischen Sieges in Deutschland.
Die internationale Sozialdemokratie hat sich lange damit getröstet, der Bolschewismus sei nur in einem zurückgebliebenen Lande denkbar. Die gleiche Behauptung wurde dann auch auf den Faschismus übertragen. Die deutsche Sozialdemokratie muß sich jetzt am eigenen Leibe von der Falschheit dieses Trostes überzeugen: ihre kleinbürgerlichen Mitläufer strömten und strömen ins Lager des Faschismus, während die Arbeiter zur Kommunistischen Partei ziehen. Und nur diese beiden Gruppierungen wachsen in Deutschland: Faschismus und Bolschewismus. Sind auch Rußland einerseits und Italien andererseits weitaus rückständigere Länder als Deutschland, so haben doch beide die Arena zur Entfaltung politischer Bewegungen abgegeben, die dem imperialistischen Kapitalismus eigen sind. Das fortgeschrittenere Deutschland ist gezwungen, Prozesse zu reproduzieren, die ihre Vollendung in Rußland und Italien gefunden haben. Das Grundproblem der deutschen Entwicklung kann gegenwärtig so formuliert werden: wird sie den russischen oder den italienischen Weg einschlagen?
Das heißt selbstverständlich nicht, daß Deutschlands hochentwickelte soziale Struktur für das Schicksal von Bolschewismus und Faschismus bedeutungslos wäre. Italien ist in weitaus größerem Maße als Deutschland ein Kleinbürger- und Bauernland. Es genügt, daran zu erinnern, daß auf 9,8 Millionen in Land- und Forstwirtschaft Beschäftigte in Deutschland 18,5 Millionen in Industrie und Handel kommen, d.h. fast doppelt soviel. In Italien kommen auf 10,3 Millionen in Land- und Forstwirtschaft Beschäftigte 6,4 Millionen in Industrie und Handel. Diese abstrakten Zahlen geben noch lange keine Vorstellung vom hohen spezifischen Gewicht des Proletariats im Leben des deutschen Volkes. Selbst die große Zahl der Arbeitslosen ist ein umgekehrter Beweis der sozialen Macht des deutschen Proletariats. Alles liegt daran, diese Macht in die Sprache der revolutionären Politik zu übersetzen.
Die letzte große Niederlage des deutschen Proletariats, die man auf eine historische Ebene mit den Septembertagen in Italien stellen kann, fällt in das Jahr 1923. In den seither verstrichenen mehr als acht Jahren sind viele Wunden verheilt, eine frische Generation ist entstanden. Die Kommunistische Partei Deutschlands stellt eine unvergleichlich größere Kraft dar als die italienischen Kommunisten im Jahre 1922. Das spezifische Gewicht des Proletariats, der bedeutende Zeitraum, der seit seiner letzten Niederlage verflossen ist, die bedeutende Kraft der Kommunistischen Partei – das sind drei Vorteile, die von ungeheurer Bedeutung sind bei der allgemeinen Einschätzung der Situation und der Aussichten.
Um aber seine Vorteile zu nutzen, muß man sie begreifen. Daran fehlt es. Thälmanns Position von 1932 reproduziert Bordigas [5] Position von 1922. Hier ist die Gefahr besonders groß. Aber auch hier gibt es einen ergänzenden Vorteil, den es zehn Jahre zuvor nicht gab. In den revolutionären Reihen Deutschlands existiert eine marxistische Opposition, die sich auf die Erfahrung des vergangenen Jahrzehnts stützt. Diese Opposition ist zahlenmäßig schwach, doch verleihen die Ereignisse ihrer Stimme außerordentliche Kraft. Unter bestimmten Bedingungen kann ein kleiner Stoß eine Lawine zum Absturz bringen. Der kritische Anstoß der Linken Opposition kann rechtzeitig einen Wechsel der Politik der proletarischen Avantgarde herbeiführen. Darin besteht heute die Aufgabe!
1. Viktor Emanuel III. (1869-1947): König Italiens ab 1900, zuerst durch den Ersten Weltkrieg und dann während der faschistischen Herrschaft Mussolinis; mußte 1946 abdanken.
2. Paul von Hindenburg (1847-1934): Oberbefehlshaber der Reichswehr ab 1916; 1925 als Präsident gewählt als Kandidat eines rechten Blocks; wiedergewählt 1932 mit Unterstützung der SPD sowie des Großkapitals; machte Hitler Januar 1933 zum Kanzler unter dem Einfluß von Großgrundbesitzern, Industriellen und Reichswehr.
3. Filippo Turati (1857-1932): Gründungsmitglied der Sozialistischen Partei Italiens (PSI); Gegner der Russischen Revolution; nach der Spaltung der PSI 1922 Führer der Reformisten.
4. Antonio Gramsci (1891-1937): Theoretiker der Betriebsbesetzungsbewegung in Turin 1919-20; Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei Italiens; Führer der Partei nach der Entlassung Bordigas 1924; verhaftet 1926; bekannt für seine Gefängnisschriften, die ein wichtiger Beitrag zum Marxismus sind; starb in Gefangenschaft.
5. Amadeo Bordiga (1889-1970): Führer der Opposition zur zentristischen Politik der SPI während und nach dem Ende des Ersten Weltkriegs; Gründungsmitglied der KPI 1921; wichtiger Einfluß auf der Partei bis 1924; später aus der Partei ausgeschlossen wegen Trotzkismus; wichtiger Theoretiker des „Links“-Kommunismus.
Zuletzt aktualiziert am 22.7.2008