Leo Trotzki

 

Was Nun?


III. Bürokratischer Ultimatismus

Wenn die Blätter der neuen Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) [1] gegen den „Parteiegoismus“ von Sozialdemokratie und Kommunistischer Partei schreiben, wenn Seydewitz [2] beteuert, daß für ihn „das Klasseninteresse über dem Parteiinteresse stehe“, so verfallen sie in politische Sentimentalität oder, noch schlimmer, verdecken mit sentimentalen Phrasen die Interessen ihrer eigenen Partei. Das ist ein untauglicher Weg. Wenn die Reaktion fordert, man möge die Interessen der „Nation“ über die Klasseninteressen stellen, sagen wir Marxisten, daß unter dem Schein der Interessen des „Ganzen“ die Reaktion die Interessen der Ausbeuterklasse verteidigt. Die Interessen der Nation lassen sich nicht anders formulieren als unter dem Gesichtspunkt der herrschenden Klasse oder der Klasse, die die Herrschaft anstrebt. Die Interessen der Klasse lassen sich nicht anders formulieren als in Gestalt eines Programms; das Programm läßt sich nicht anders verteidigen als durch die Schaffung einer Partei.

Die Klasse an sich ist nur Ausbeutungsmaterial. Die selbständige Rolle des Proletariats beginnt dort, wo es aus einer sozialen Klasse an sich zu einer politischen Klasse für sich wird. Das vollzieht sich nicht anders als durch Vermittlung der Partei. Die Partei ist das historische Organ, durch dessen Vermittlung die Klasse zum Selbstbewußtsein kommt. Zu sagen: „Die Klasse steht höher als die Partei“ – heißt behaupten: die urwüchsige Klasse steht höher als die zu Bewußtsein kommende Klasse. Das ist nicht nur falsch, sondern auch reaktionär. Um die Notwendigkeit der Einheitsfront zu begründen, bedarf es nicht im Mindesten dieser Spießertheorie.

Der Weg der Klasse zum Selbstbewußtsein, d.h. die Herausbildung einer revolutionären Partei, die das Proletariat hinter sich herführt, ist ein verwickelter und widerspruchsvoller Prozeß. Die Klasse ist nicht homogen. Ihre verschiedenen Teile kommen auf verschiedenen Wegen und zu verschiedenen Zeitpunkten zu Bewußtsein. Die Bourgeoisie nimmt aktiven Anteil an diesem Prozeß. Sie schafft ihre Organe innerhalb der Arbeiterklasse oder benutzt die vorhandenen, indem sie bestimmte Schichten von Arbeitern anderen gegenüberstellt. Im Proletariat wirken gleichzeitig verschiedene Parteien. Politisch bleibt es daher den größten Teil seines historischen Weges gespalten. Daraus erwächst in bestimmten Perioden mit außerordentlicher Schärfe das Problem der Einheitsfront.

Die Kommunistische Partei drückt – bei richtiger Politik – die historischen Interessen des Proletariats aus. Ihre Aufgabe besteht darin, die Mehrheit des Proletariats zu erobern, nur so ist auch der sozialistische Umsturz möglich. Ihre Mission kann die Kommunistische Partei nicht anders erfüllen als durch volle und bedingungslose Wahrung der politischen und organisatorischen Unabhängigkeit anderen Parteien und Organisationen innerhalb und außerhalb der Arbeiterklasse gegenüber. Der Verstoß gegen diese Grundforderung der marxistischen Politik ist das schwerste aller Verbrechen an den Interessen des Proletariats als Klasse. Die chinesische Revolution von 1925-1927 ging gerade deshalb zugrunde, weil die Komintern, geführt von Stalin und Bucharin, die chinesische Kommunistische Partei gezwungen hatte, der Kuomintang, der Partei der chinesischen Bourgeoisie, beizutreten und sich deren Disziplin zu unterwerfen. Die Erfahrung der Stalinschen Politik in bezug auf die Kuomintang wird für ewige Zeiten in die Geschichte eingehen als Musterbeispiel verderblicher Sabotage der Revolution durch ihre Führer. Die Stalinsche Theorie der „Zweiklassenparteien der Arbeiter und Bauern“ für den Osten ist die verallgemeinerte und zum Gesetz erhobene Kuomintang-Praxis; die Anwendung dieser Theorie in Japan, Indien, Indonesien, Korea hat die Autorität des Kommunismus untergraben und die Entwicklung des Proletariats für eine Reihe von Jahren aufgehalten. Die gleiche verräterische Politik wurde, wenn auch nicht so zynisch, in den Vereinigten Staaten, in England und in allen Ländern Europas bis zum Jahre 1928 praktiziert.

Der Kampf der Linken Opposition für die volle und bedingungslose Unabhängigkeit der Kommunistischen Partei und ihrer Politik unter allen historischen Bedingungen und auf allen Entwicklungsstufen des Proletariats führte zu einer außerordentlichen Verschärfung der Beziehungen zwischen der Opposition und der Fraktion Stalins in der Periode seines Blocks mit Tschiang Kai-schek, Wang Tschin-wei, Purcell, Lafollette, Radic [3] usw. Unnötig, daran zu erinnern, daß Thälmann und Remmele ebenso wie Brandler und Thalheimer [4] in diesem Kampf bedingungslos auf Seiten Stalins gegen die Bolschewiki-Leninisten standen. Wir brauchen darum nicht erst von Stalin und Thälmann etwas über selbständige Politik der Kommunistischen Partei zu lernen!

Doch das Proletariat kommt nicht über Schultreppen zum revolutionären Selbstbewußtsein, sondern durch den Klassenkampf, der keine Unterbrechung duldet. Zum Kampf braucht das Proletariat die Einheitsfront. Das gilt gleichermaßen für wirtschaftliche Teilkonflikte innerhalb eines einzelnen Betriebes und für solche „nationalen“ politischen Kämpfe wie die Abwehr des Faschismus. Die Einheitsfront-Taktik ist also nichts Zufälliges und Künstliches, irgendein schlaues Manöver, sondern erwächst ganz und gar aus den objektiven Entwicklungsbedingungen des Proletariats. Die Worte des Kommunistischen Manifests, daß sich die Kommunisten dem Proletariat nicht gegenüberstellen, daß sie keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen haben, drücken den Gedanken aus, daß der Kampf der Partei um die Mehrheit der Klasse keinesfalls in Widerspruch geraten darf mit dem Bedürfnis der Arbeiter nach Einheit ihrer Kampfesreihen.

Die Rote Fahne verurteilt mit vollem Recht das Gerede, daß „die Klasseninteressen höher stehen als die Parteiinteressen“. In Wirklichkeit fallen die richtig verstandenen Interessen der Klasse mit den richtig formulierten Aufgaben der Partei zusammen. Soweit sich die Sache auf diese geschichtsphilosophische These beschränkt, ist die Position der Roten Fahne unantastbar. Doch die politischen Schlußfolgerungen, die sie daraus ableitet, stellen schon eine direkte Verhöhnung des Marxismus dar.

Die im Prinzip bestehende Identität der Interessen des Proletariats und der Aufgaben der Kommunistischen Partei bedeutet weder, daß sich das gesamte Proletariat schon heute seiner Interessen bewußt ist, noch daß die Partei sie unter allen Umständen richtig formuliert. Erwächst doch die Notwendigkeit der Partei selber gerade daraus, daß das Proletariat nicht mit zureichendem Verständnis seiner historischen Interessen auf die Welt kommt. Die Aufgabe der Partei besteht darin, in der Kampferfahrung zu lernen, dem Proletariat ihr Recht auf Führung zu beweisen. Aber die Stalinsche Bürokratie glaubt, auf Grund des mit dem Kominternsiegel versehenen Parteipasses vom Proletariat kurz und bündig Unterwerfung fordern zu können.

Jede Einheitsfront, die nicht im voraus unter Führung der Kommunistischen Partei steht – wiederholt Die Rote Fahne –, ist gegen die Interessen des Proletariats gerichtet. Wer die Führung der Kommunistischen Partei nicht anerkennt, ist schon dadurch ein „Konterrevolutionär“. Der Arbeiter ist verpflichtet, der kommunistischen Organisation auf Vorschuß, aufs Ehrenwort Glauben zu schenken. Aus der prinzipiellen Identität der Aufgaben von Partei und Klasse leitet der Bürokrat sein Recht ab, die Klasse zu kommandieren. Die historische Aufgabe, welche die Kommunistische Partei erst zu lösen hat – Vereinigung der überwältigenden Mehrheit der Arbeiter unter ihrem Banner verwandelt die Bürokratie in ein Ultimatum, einen Revolver, den sie der Arbeiterklasse an die Schläfe setzt. Das dialektische Denken wird durch formalistisches, administratives, bürokratisches Denken ersetzt.

Die historische Aufgabe, die zu erfüllen ist, wird als schon erfüllt angesehen. Das Vertrauen, das zu erwerben ist, wird für schon gewonnen ausgegeben. Das ist natürlich äußerst einfach. Doch die Sache wird damit wenig vorwärtsgebracht. Man muß in der Politik ausgehen von dem, was ist, und nicht von dem, was man wünscht und was sein wird. Zu Ende geführt ist die Position der Stalinschen Bürokratie in Wirklichkeit die Negation der Partei. Denn worauf läuft deren historische Arbeit hinaus, wenn das Proletariat im voraus verpflichtet ist, Thälmanns und Remmeles Führung anzuerkennen?

Vom Arbeiter, der sich in die kommunistische Front einreihen will, hat die Kommunistische Partei das Recht, zu fordern: Du mußt unser Programm anerkennen, unsere Statuten und die Führung unserer gewählten Institutionen. Aber unsinnig und verbrecherisch ist es, die gleiche Forderung a priori – auch nur teilweise – an die Arbeitermassen oder Arbeiterorganisationen zu richten, wo es um gemeinsame Aktionen im Namen bestimmter Kampfaufgaben geht. Das heißt, das Fundament der Partei untergraben, die ihre Bestimmung nur bei richtigen Wechselbeziehungen mit der Klasse erfüllen kann. Statt ein einseitiges Ultimatum zu stellen, das die Arbeiter reizt und verbittert, muß man ein bestimmtes Programm gemeinsamer Aktionen vorschlagen; das ist der sicherste Weg, die Führung wirklich zu erobern.

Ultimatismus ist der Versuch, die Arbeiterklasse zu vergewaltigen, wo es mißlingt, sie zu überzeugen: wenn Ihr, Arbeiter, Thälmann-Remmele-Neumanns Führung nicht anerkennt, werden wir Euch nicht gestatten, die Einheitsfront zu bilden. Der schlimmste Feind könnte keine ungünstigere Lage ausdenken als jene, in die sich die kommunistischen Parteiführer begeben. Das ist der sichere Weg ins Verderben.

Die Leitung der deutschen Kommunistischen Partei stellt ihren Ultimatismus noch deutlicher heraus, wenn sie in ihren Aufrufen spitzfindige Vorbehalte macht: „Wir fordern nicht von Euch, daß ihr Euch im vorhinein unsere kommunistischen Auffassungen über die Grundfragen des proletarischen Klassenkampfes zu eigen macht.“ Das klingt wie eine Entschuldigung für eine Politik, für die es keine Entschuldigung geben kann. Wenn die Partei ihre Weigerung erklärt, in irgendwelche Unterhandlungen mit den übrigen Organisationen einzutreten, gleichzeitig aber den Sozialdemokraten anheimstellt, mit ihrer Organisation zu brechen und, ohne sich Kommunisten zu nennen, unter die Führung der Kommunistischen Partei zu treten, so ist das reinster Ultimatismus. Der Vorbehalt hinsichtlich der „kommunistischen Auffassungen“ ist vollkommen lächerlich: ein Arbeiter, der bereit ist, schon heute mit seiner Partei zu brechen, um unter kommunistischer Führung am Kampf teilzunehmen, wird nicht zögern, sich Kommunist zu nennen. Diplomatische Finten, Etikettenspiel, sind dem Arbeiter fremd. Er nimmt Politik und Organisation ihrem Wesen nach. Er bleibt in der Sozialdemokratie, solange er der kommunistischen Führung mißtraut. Man kann mit Sicherheit sagen, daß die Mehrheit der sozialdemokratischen Arbeiter bis heute noch in ihrer Partei bleibt, nicht weil sie der reformistischen Führung vertraut, sondern nur deshalb, weil sie der kommunistischen noch mißtraut. Die Arbeiter wollen aber schon heute gegen den Faschismus kämpfen. Zeigt man ihnen die nächste Etappe des gemeinsamen Kampfes, werden sie fordern, daß ihre Organisationen diesen Weg betreten. Werden die Organisationen sich widersetzen, können sie es bis zum Bruch kommen lassen.

Statt den sozialdemokratischen Arbeitern zu helfen, durch Erfahrung ihren Weg zu finden, hilft das ZK der Kommunistischen Partei den Führern der Sozialdemokratie gegen die Arbeiter. Ihren Widerwillen gegen den Kampf, ihre Furcht vor dem Kampf, ihre Unfähigkeit zum Kampf verhüllen die Wels und Hilferding jetzt höchst erfolgreich durch den Hinweis auf die Weigerung der Kommunistischen Partei, am gemeinsamen Kampf teilzunehmen. Die starrköpfige, stumpfsinnige, abgeschmackte Verweigerung der Einheitsfront durch die Kommunistische Partei ist unter den gegenwärtigen Bedingungen zur wichtigsten politischen Hilfsquelle der Sozialdemokratie geworden. Daher klammert sich auch die Sozialdemokratie mit dem ihr eigenen Parasitismus an unsere Kritik der ultimatistischen Politik Stalin-Thälmanns.

Die offiziellen Kominternführer schwafeln jetzt mit tiefsinniger Miene von der Hebung des theoretischen Niveaus der Partei und vom Studium der „Geschichte des Bolschewismus“. In Wirklichkeit sinkt das Niveau immer mehr, die Lehren des Bolschewismus werden vergessen, gefälscht, mit Füßen getreten. Aber es ist nicht schwer, in der Geschichte der Bolschewistischen Partei den Vorläufer der heutigen Politik des ZK zu finden: es ist dies der verstorbene Bogdanow [5], Begründer des Ultimatismus oder Otsowismus. Noch im Jahre 1905 hielt er die Beteiligung der Bolschewiki am Petersburger Sowjet für ummöglich, wenn der Sowjet nicht zuvor die sozialdemokratische Führung anerkenne. Unter Bogdanows Einfluß faßte das Petersburger Büro des ZK der Bolschewiki im Oktober 1905 den Beschluß, im Petersburger Sowjet die Anerkennung der Führerschaft der Partei zu fordern und im Fall der Nichtanerkennung aus dem Sowjet auszutreten. Der junge Advokat Krassikow [6], damals Mitglied des ZK der Bolschewiki, brachte dieses Ultimatum in der Plenarsitzung des Sowjets vor. Die Arbeiterdeputierten, darunter auch die bolschewistischen, sahen einander erstaunt an und – gingen zur Tagesordnung über. Kein Mensch verließ den Sowjet. Bald traf Lenin aus dem Ausland ein und wusch den Ultimatisten grausam den Kopf: man kann – lehrte er – die Massen nicht mit Hilfe ultimativer Forderungen zwingen, die unentbehrlichen Phasen ihrer eigenen politischen Entwicklung zu überspringen.

Aber Bogdanow entsagte seiner Methodologie nicht und begründete in der Folge eine ganze Fraktion von „Ultimatisten“ oder „Otsowisten“ (Abberufern); diesen Namen erhielten sie, weil sie gewillt waren, die Bolschewiki aus all jenen Organisationen abzuberufen, die es ablehnten, das ihnen von oben gestellte Ultimatum „Akzeptiere im voraus unsere Führerschaft“ anzunehmen. Ihre Politik versuchten die Ultimatisten nicht nur auf die Sowjets anzuwenden, sondern auch auf dem Gebiet des Parlamentarismus, der Gewerkschaften und überhaupt allen legalen und halblegalen Organisationen der Arbeiterklasse gegenüber.

Lenins Kampf gegen die Ultimatisten war der Kampf um das richtige Verhältnis zwischen Partei und Klasse. Die Ultimatisten haben in der alten Bolschewistischen Partei nie eine bedeutende Rolle gespielt, sonst wäre der Sieg des Bolschewismus unmöglich gewesen. Aufmerksame und feinfühlige Beziehungen zur Klasse waren die Stärke des Bolschewismus. Der Kampf gegen den Ultimatismus wurde von Lenin auch dann weitergeführt, als er an der Macht stand, vor allem in bezug auf die Gewerkschaften. „Wenn wir jetzt in Rußland, nach 2½ Jahren unvergleichlicher Siege über die Bourgeoisie Rußlands und der Entente, die ‚Anerkennung der Diktatur‘ zur Bedingung für den Eintritt in die Gewerkschaften machen wollten, so würden wir eine Dummheit begehen, unserem Einfluß auf die Massen Abbruch tun und den Menschewiki Vorschub leisten. Denn die ganze Aufgabe der Kommunisten besteht darin, daß sie es verstehen, die Rückständigen zu überzeugen, unter ihnen zu arbeiten, und sich nicht durch ausgeklügelte, kindische ‚linke‘ Losungen von ihnen absondern.“ (Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus). Umso mehr ist dies Pflicht der Kommunistischen Parteien des Westens, die erst die Minderheit der Arbeiterklasse bilden.

Während der letzten Periode hat sich aber die Lage in der UdSSR radikal verändert. Die mit Macht ausgestattete Kommunistische Partei repräsentiert bereits ein anderes Wechselverhältnis zwischen Avantgarde und Klasse, in dieses Verhältnis wird ein Element von Zwang eingeführt. Lenins Kampf gegen Partei und Sowjetbürokratismus war wesentlich nicht ein Kampf gegen schlechte Kanzleiführung, Amtsschimmel, Schlamperei usw., sondern gegen das Apparatkommando über die Klasse, gegen die Verwandlung der Parteibürokratie in eine neue „herrschende“ Schicht. Lenins letzter Ratschlag vor seinem Tode, eine vom ZK unabhängige proletarische Kontrollkommission zu schaffen und Stalin und seine Fraktion aus dem Parteiapparat zu entfernen, war gegen die bürokratische Entartung der Partei gerichtet. Aus einer Reihe von Gründen, auf die wir an dieser Stelle nicht eingehen können, hat die Partei diesen Ratschlag übergangen. Die bürokratische Entartung der Partei ist in den letzten Jahren bis zur äußersten Grenze fortgeschritten. Der Stalinsche Apparat kommandiert nur. Die Sprache des Kommandos ist die Sprache des Ultimatismus. Jeder Arbeiter hat im voraus alle vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Beschlüsse des ZK als unfehlbar anzuerkennen. Die Ansprüche auf Unfehlbarkeit sind umsomehr gewachsen, je fehlerhafter die Politik wurde.

Nachdem sie den Kominternapparat in ihre Hände bekommen hatte, übertrug die Stalinsche Fraktion ihre Methoden natürlich auch auf die ausländischen Sektionen, d.h. auf die kommunistischen Parteien der kapitalistischen Länder. Die Politik der deutschen Leitung ist die Widerspiegelung der Politik der Moskauer Führung. Thälmann sieht, wie die Stalinsche Bürokratie kommandiert und jeden für einen Konterrevolutionär erklärt, der ihre Unfehlbarkeit nicht anerkennt. Ist Thälmann schlechter als Stalin? Wenn sich die Arbeiterklasse nicht gehorsamst seiner Führung unterstellt, so deshalb, weil die Arbeiterklasse konterrevolutionär ist. Doppelt konterrevolutionär sind jene, die Thälmann die Schädlichkeit seines Ultimatismus aufzeigen. Zu den konterrevolutionärsten Büchern gehören Lenins Werke. Nicht umsonst unterwirft Stalin sie einer so harten Zensur, besonders bei der Herausgabe in fremden Sprachen.

Ist der Ultimatismus unter allen Umständen schädlich und bedeutet er in der UdSSR die Verschleuderung, Verausgabung des moralischen Parteikapitals, so ist er doppelt verfehlt in den Parteien des Westens, die erst moralisches Kapital zu sammeln haben. In der Sowjetunion hat die siegreiche Revolution zumindest die materiellen Voraussetzungen für den bürokratischen Ultimatismus in Gestalt des Machtapparates geschaffen. In den kapitalistischen Ländern hingegen, darunter in Deutschland, verwandelt sich der Ultimatismus in eine kraftlose Karikatur und verhindert den Marsch der Kommunistischen Partei zur Macht. Remmeles Ultimatismus ist vor allem lächerlich. Aber Lächerlichkeit tötet, besonders wenn es sich um die Partei der Revolution handelt.

Verlegen wir für einen Augenblick das Problem in die englische Arena, wo die Kommunistische Partei (infolge verderblicher Fehler der Stalin-Bürokratie) immer noch nur einen verschwindenden Teil des Proletariats ausmacht. Gibt man zu, daß jede Form der Einheitsfront außer der kommunistischen „konterrevolutionär“ ist, so müßte das englische Proletariat den revolutionären Kampf offenbar bis zu jenem Zeitpunkt verschieben, wo die Kommunistische Partei an ihre Spitze tritt. Die Kommunistische Partei kann aber nichts anders an die Spitze der Klasse treten als auf Grund von deren eigener revolutionärer Erfahrung. Die Erfahrung aber kann revolutionären Charakter nur durch die Einbeziehung von Millionen von Menschen in den Kampf annehmen. Doch die nichtkommunistischen Massen, vor allem die organisierten, lassen sich nur auf Grund der Einheitsfrontpolitik in den Kampf einbeziehen. Wir geraten in einen Teufelskreis, aus dem es auf dem Wege des bürokratischen Ultimatismus kein Entrinnen gibt. Doch die revolutionäre Dialektik hat den Ausweg längst schon gezeigt und ihre Wirksamkeit an zahllosen Beispielen in den verschiedensten Bereichen erwiesen: Verbindung des Kampfes um die Macht mit dem Kampf um Reformen; vollkommene Selbständigkeit der Partei bei Währung der Gewerkschaftseinheit; Kampf gegen das bürgerliche Regime unter Ausnützung seiner Einrichtungen; unversöhnliche Kritik des Parlamentarismus – von der Parlamentstribüne herab; unbarmherziger Kampf gegen den Reformismus bei praktischen Vereinbarungen mit den Reformisten in Teilkämpfen.

In England springt die Unzulänglichkeit des Ultimatismus infolge der außerordentlichen Schwäche der Kommunistischen Partei in die Augen. In Deutschland wird die Verderblichkeit des Ultimatismus durch die bedeutende zahlenmäßige Stärke der Partei und durch ihr Wachstum etwas maskiert. Doch wächst die deutsche Partei dank dem Druck der Umstände und nicht durch die Politik der Leitung, nicht wegen, sondern trotz des Ultimatismus. Überdies entscheidet nicht das zahlenmäßige Wachstum der Partei; was entscheidet, ist das politische Wechselverhältnis zwischen Partei und Klasse. In dieser Hauptfrage bessert sich die Situation nicht, weil die deutsche Partei zwischen sich und der Klasse den Drahtverhau des Ultimatismus aufrichtet.

 

 

Anmerkungen

1. Sozialistische Arbeiterpartei: linke Abspaltung von der SPD 1931; lehnte es ab, der KPD beizutreten; schwankte zwischen revolutionären und reformistischen Positionen.

2. Max Seydewitz: Führer des linken Flügels der SPD, der 1931 abspaltete und die SAP gründete.

3. Robert Lafollette: amerikanischer Senator; Mitglied der Republican Party aus Wisconsin; Präsidentschaftskandidat der Progressive Party 1924. – Stefan Radic: kroatischer Unabhängigkeitskämpfer; Teilnehmer an der Gründung der Bauerninternationale in Moskau 1924.

4. August Thalheimer (1884-1948): Mitglied der SPD ab 1904; Redakteur verschiedener sozialdemokratischen Zeitungen; Spartakist und Mitbegründer der KPD; Führer der KPD 1921-24 mit Brandler; aus der KPD ausgeschlossen mit Brandler 1929; zusammen gründeten sie die KPD-Opposition oder KPO; 1933 Exil in Frankreich und ab 1941 in Kuba.

5. A.A. Bogdanow: Pseudonym von Alexander Malinowski (1873-1928): Anhänger Lenins in der Spaltung mit den Menschewiki 1903; wurde 1909 Führer der Wperjod-Gruppe in der Bolschewistischen Partei mit Lunascharski und Gorki; diese Gruppe spaltete später ab; denunzierte der Beteiligung an der zaristischen Duma als Opportunismus; eine der Zielscheiben von Lenins Buch Materialismus und Empiriokritizismus 1908; nach der Oktoberrevolution einer der Organisatoren von Proletkult; gründete den russischen Bluttransfusionsdienst 1926.

6. P.A. Krassikow: Aktivist der Bolschewistischen Partei in 1905.

 


Zuletzt aktualiziert am 22.7.2008