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Rede gehalten bei einer Veranstaltung in Kopenhagen Ende November 1932
Transkription und HTML-Mark-Up: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Werte Zuhörer!
Gestatten Sie mir von Anfang an dem aufrichtigen Bedauern darüber Ausdruck zu verleihen, daß ich nicht die Möglichkeit habe vor einem Kopenhagener Auditorium in dänischer Sprache vorzutragen. Lassen wir dahingestellt, ob die Zuhörer dadurch etwas zu verlieren haben. Was den Vortragenden anlangt, so raubt ihm die Unkenntnis der dänischen Sprache jedenfalls die Möglichkeit, das skandinavische Leben und die skandinavische Literatur unmittelbar aus erster Hand und im Original zu verfolgen. Und dies ist ein großer Verlust.
Die deutsche Sprache, zu der ich hier Zuflucht zu nehmen gezwungen bin, ist mächtig und reich. Meine deutsche Sprache ist aber ziemlich begrenzt. Sich mit der notwendigen Freiheit über komplizierte Fragen auseinanderzusetzen vermag man übrigens nur in der eigenen Sprache. Ich muß daher im voraus um die Nachsicht des Auditoriums ersuchen.
Zum ersten Male war ich in Kopenhagen auf dem internationalen sozialistischen Kongreß und nahm die besten Erinnerungen von Ihrer Stadt mit mir. Das liegt aber schon fast ein Vierteljahrhundert zurück. Im Belt und in den Fjorden hat seither das Wasser viele Male gewechselt. Aber nicht allein das Wasser. Der Krieg hat dem alten europäischen Kontinent die Wirbelsäule zerbrochen. Europas Flüsse und die Meere haben nicht wenig Menschenblut mit sich geschwemmt. Die Menschheit, insbesondere die europäische, ist durch schwere Prüfungen hindurchgegangen, ist düsterer und rauher geworden. Alle Arten des Kampfes sind erbitterter geworden. Die Welt ist in eine Epoche der großen Wende eingetreten. Ihre extremen Äußerungen sind der Krieg und die Revolution.
Bevor ich zum Thema meines Vortrages übergehe – zur Revolution – halte ich es für meine Pflicht, den Veranstaltern der Versammlung, der Kopenhagener Organisation der sozialdemokratischen Studentenschaft meinen Dank auszusprechen. Ich tue dies als politischer Gegner. Mein Vortrag verfolgt zwar wissenschaftlich-historische Aufgaben und nicht politische. Ich unterstreiche dies gleich eingangs. Es ist aber unmöglich von einer Revolution, aus der die Sowjetrepublik hervorgegangen ist, zu sprechen, ohne eine politische Position zu beziehen. In meiner Eigenschaft als Vortragender stehe ich unter derselben Fahne, unter der ich als Teilnehmer der revolutionären Ereignisse stand.
Bis zum Kriege gehörte die bolschewistische Partei zur internationalen Sozialdemokratie. Am 4. August 1914 hat die Abstimmung der deutschen Sozialdemokratie für die Kriegskredite dieser Verbindung ein für allemal ein Ende gesetzt und die Ära des ununterbrochenen und unversöhnlichen Kampfes des Bolschewismus gegen die Sozialdemokratie eingeleitet. Soll dies bedeuten, die Veranstalter dieser Versammlung hätten einen Irrtum begangen, indem sie mich als Vortragenden einluden? Darüber wird das Auditorium erst nach meinem Vortrag zu urteilen imstande sein. Zur Rechtfertigung dessen, daß ich die Einladung, einen Bericht über die russische Revolution zu halten, angenommen habe, erlaube Ich mir, darauf hinzuweisen, daß während der 35 Jahre meines politischen Lebens das Thema der russischen Revolution die praktische und theoretische Achse meiner Interessen und meiner Handlungen bildete. Die vier Jahre meines Aufenthaltes in der Türkei waren hauptsächlich der historischen Verarbeitung der Probleme der russischen Revolution gewidmet. Vielleicht gibt mir dies ein gewisses Anrecht zu hoffen, daß es mir gelingen wird, nicht nur Freunden und Gesinnungsgenossen, sondern auch Gegnern wenigstens teilweise zu helfen, manche Züge der Revolution besser zu erfassen, die früher ihrer Aufmerksamkeit entgangen waren. Jedenfalls ist die Aufgabe meines Vortages: helfen, zu verstehen. Ich gedenke nicht, die Revolution zu propagieren oder zur Revolution aufzurufen. Ich will sie erklären.
Ich weiß nicht, ob es auf dem skandinavischen Olymp eine besondere Göttin der Rebellion gab. Kaum! Jedenfalls werden wir heute nicht Ihre Gunst anrufen. Wir werden unseren Vortrag unter das Zeichen der Saotra stellen, der alten Göttin der Erkenntnis. Ungeachtet der leidenschaftlichen Dramatik der Revolution als eines lebendigen Geschehens, werden wir uns bemühen, sie mit der Leidenschaftslosigkeit eines Anatomen zu behandeln. Wenn dadurch der Vortrag trockener wird, mögen die Zuhörer dies mit in Kauf nehmen.
Beginnen wir mit einigen elementaren soziologischen Leitsätzen, die Ihnen allen zweifellos bekannt sind, die wir aber beim Herantreten an eine so komplizierte Erscheinung wie die Revolution in unserem Gedächtnis auffrischen müssen.
Die menschliche Gesellschaft ist eine geschichtlich im Kampfe um das Dasein und die Sicherung der Aufrechterhaltung der Generation entstandene Kooperation. Der Charakter der Gesellschaft wird durch den Charakter ihrer Wirtschaft bestimmt. Der Charakter der Wirtschaft wird durch die Arbeitsmittel bestimmt.
Jeder großen Epoche in der Entwicklung der Produktionskräfte entspricht ein bestimmtes soziales Regime. Jedes soziales Regime sicherte bisher der herrschenden Klasse ungeheure Vorteile.
Schon aus dem Gesagten geht klar hervor, daß die sozialen Regimes nicht ewig sind. Sie entstehen geschichtlich, um dann zu Fesseln für den Fortschritt zu werden. Alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht.
Aber keine herrschende Klasse hat freiwillig und friedlich abgedankt. In Fragen von Leben und Tod haben niemals Argumente der Vernunft die Argumente der Gewalt ersetzt. Das mag traurig sein, aber es ist nun einmal so. Nicht wir haben diese Welt geschaffen. Es bleibt nichts übrig, als sie so zu nehmen, wie sie ist.
Die Revolution bedeutet folglich einen Wechsel des sozialen Regimes. Sie übergibt die Macht aus den Händen einer Klasse, die sich erschöpft hat, in die Hände der anderen Klasse, die im Aufsteigen begriffen ist. Der Aufstand bildet den kritischsten und schärfsten Moment im Ringen zweier Klassen um die Macht. Der Aufstand kann nur in dem Falle zum wirklichen Siege der Revolution und zur Errichtung eines neuen Regimes führen, wenn er sich auf eine fortschrittliche Klasse stützt, die fähig ist, die überwältigende Mehrheit des Volkes um sich zu scharen.
Zum Unterschied von den naturgeschichtlichen Prozessen wird die Revolution von Menschen und durch Menschen verwirklicht. Aber auch in der Revolution wirken die Menschen unter dem Einfluß der sozialen Bedingungen, die nicht frei von ihnen erwählt, sondern von der Vergangenheit herübergenommen sind und die ihnen gebieterisch den Weg weisen. Eben darum und nur darum ist die Revolution gesetzmäßig.
Das menschliche Bewußtsein widerspiegelt aber die objektiven Bedingungen nicht passiv. Es pflegt aktiv auf sie zu reagieren. In gewissen Momenten nimmt diese Reaktion gespannten, leidenschaftlich Massencharakter an. Die Barrieren von Recht und Macht werden umgestürzt. Das aktive Eingreifen der Massen in die Ereignisse bildet ja auch das unerläßlichste Element der Revolution.
Aber selbst die stürmischste Aktivität kann im Stadium der Demonstration verbleiben, ohne sich auf die Höhe der Revolution zu erheben. Der Aufstand der Massen muß zur Niederwerfung der Herrschaft einer Klasse und zur Aufrichtung der Herrschaft einer anderen führen. Dann erst haben wir eine vollendete Revolution. Der Massenaufstand ist kein isoliertes Unternehmen, das man nach Belieben heraufbeschwören kann. Er stellt ein objektiv bedingtes Element in der Entwicklung der Revolution dar, wie die Revolution einen objektiv bedingten Prozeß in der Entwicklung der Gesellschaft. Sind aber die Bedingungen des Aufstandes vorhanden, darf man nicht passiv, mit aufgerissenem Munde abwarten: auch in menschlichen Dingen gibt es, wie Shakespeare sagt, Flut und Ebbe.
Um das überlebte Regime hinwegzufegen, muß die fortschrittliche Klasse verstehen, daß ihre Stunde geschlagen hat und sich die Eroberung der Macht zur Aufgabe stellen. Hier erschließt sich das Feld der bewußten revolutionären Aktion, wo sich Voraussicht und Berechnung mit Willen und Wagemut verbinden. Mit anderen Worten: hier erschließt sich das Aktionsfeld der Partei.
Die revolutionäre Partei vereinigt in sich die Auslese der fortschrittlichen Klasse. Ohne eine Partei, die fähig ist, sich in der Umgebung zu orientieren, Gang und Rhythmus der Ereignisse abzuschätzen und rechtzeitig das Vertrauen der Massen zu erobern, ist der Sieg der proletarischen Revolution unmöglich. Das ist die Wechselbeziehung der objektiven und der subjektiven Faktoren der Revolution und des Aufstandes.
Bei Disputen pflegen, wie Sie wissen, die Widersacher – insbesondere in der Theologie – häufig die wissenschaftliche Wahrheit zu diskreditieren, indem sie sie zur Absurdität treiben. Diese Methode heißt ja auch in der Logik: reductio ad absurdum. Wir werden den entgegengesetzten Weg zu gehen versuchen: das heißt, wir werden ein Absurdum zum Ausgangspunkt nehmen, um uns desto sicherer der Wahrheit zu nähern. Wenn es sich um die Revolution handelt, läßt sich über Mangel an Absurdums jedenfalls nicht klagen. Nehmen wir eines der frischesten und krassesten.
Der italienische Schriftsteller Malaparte, so etwas wie ein faschistischer Theoretiker – es gibt auch solche –, hat unlängst ein Buch über die Technik des Staatsstreiches vom Stapel gelassen. Der Verfasser weist selbstverständlich eine nicht unbeträchtliche Seitenzahl seiner „Forschung“ der Oktoberumwälzung zu.
Zum Unterschied von der „Strategie“ Lenins, die mit den sozialen und politischen Verhältnissen des Rußlands von 1917 verbunden bleibt, „ist Trotzkis Taktik“, nach Malapartes Worten, „im Gegenteil mit den allgemeinen Bedingungen des Landes nicht verbunden“. Dies ist die Hauptidee des Werkes! Malaparte zwingt Lenin und Trotzki, auf den Seiten seines Buches zahlreiche Dialoge zu führen, in denen beide Gesprächspartner zusammen ebensoviel Tiefsinnigkeit zur Schau tragen, wie die Natur dem einen Malaparte zur Verfügung gestellt hat. Auf Lenins Erwägungen über die sozialen und politischen Voraussetzungen des Umsturzes beauftragt Malaparte den imaginären Trotzki buchstäblich folgendes zu antworten: „Ihre Strategie erfordert viel zu viel günstige Bedingungen: die lnsurrektion braucht nichts, sie genügt sich selbst“. Sie hören: „die Insurektion braucht nichts!“ Das ist eben, werte Zuhörer, jenes Absurdum, das uns helfen muß, der Wahrheit näherzukommen. Der Verfasser wiederholt beharrlich, Im Oktober habe nicht die Strategie Lenins, sondern Trotzkis Taktik gesiegt. Diese Taktik bedroht, nach seinen Worten, auch jetzt die Ruhe der europäischen Staaten. „Die Strategie Lenins“, ich zitiere wörtlich, „bildet keine unmittelbare Gefahr für die Regierungen Europas. Aktuelle und dabei permanente Gefahr bildet für sie die Taktik Trotzkis“. Noch konkreter: „Setzen Sie Poincaré an die Stelle Kerenskis und der bolschewistische Staatsstreich vom Oktober 1917 würde ebensogut gelingen.“ Schwer zu glauben, daß solch ein Buch in verschiedene Sprachen übersetzt und ernst genommen wird.
Vergeblich würden wir zu ergründen suchen, wozu überhaupt die von geschichtlichen Bedingungen abhängige Strategie Lenins notwendig ist, wenn „Trotzkis Taktik“ die gleiche Aufgabe in jeder Situation zu lösen vermag. Und warum sind die glücklichen Revolutionen so selten, wenn zu ihrem Gelingen nur ein paar technische Rezepte ausreichen?
Der vom faschistischen Schriftsteller vorgeführte Dialog zwischen Lenin und Trotzki ist dem Sinn wie der Form nach eine abgeschmackte Erfindung – vom Anfang bis zu Ende. Solche Erfindungen treiben sich nicht wenige auf der Weit herum. So wird jetzt zum Beispiel In Madrid unter meinem Namen ein Buch gedruckt: La Vita del Lenin (Das Leben Lenins), für das ich ebensowenig verantwortlich bin, wie für die taktischen Rezepte Malapartes. Das Madrider Wochenblatt Estampa brachte aus diesem angeblichen Buch Trotzkis über Lenin ganze Kapitel im Vorabdruck, die abscheuliche Schändungen des Andenkens jenes Menschen beinhalten, den ich unvergleichlich höher als sonst jemanden unter meinen Zeltgenossen schätzte und schätze.
Doch überlassen wir die Fälscher ihrem Schicksal. Der alte Wilhelm Liebknecht, der Vater des unvergeßlichen Kämpfers und Helden Karl Liebknecht, liebte zu sagen: „der revolutionäre Politiker muß sich mit einer dicken Haut versehen“. „Doktor Stockmann“ empfahl noch ausdrucksvoller jedem, der der gesellschaftlichen Meinung zuwiderhandeln beabsichtige, keine neuen Hosen anzuziehen. Wir wollen die beiden guten Ratschläge zur Kenntnis nehmen und zur Tagesordnung übergehen.
Welche Fragestellungen erweckt die Oktoberrevolution bei einem denkenden Menschen?
Die erste Frage – über die Ursachen – kann man schon jetzt mehr oder minder erschöpfend beantworten. Ich habe versucht, dies in meiner Geschichte der Revolution zu tun. Hier kann ich nur die wichtigsten Schlußfolgerungen formulieren. Die Tatsache, daß das Proletariat zum ersten Male in einem so zurückgebliebenen Lande wie dem ehemaligen zaristischen Rußland zur Macht gelangt ist, erscheint nur auf den ersten Blick geheimnisvoll, In Wirklichkeit ist sie vollkommen gesetzmäßig. Man konnte sie voraussehen und man hat sie vorausgesehen. Noch mehr: auf der Voraussicht dieser Tatsache bauten die revolutionären Marxisten lange vor den entscheidenden Ereignissen Ihre Strategie auf.
Die erste und allgemeinste Erklärung: Rußland ist ein zurückgebliebenes Land, aber nur ein Teil der Weltwirtschaft, nur ein Element des kapitalistischen Weltsystems. In diesem Sinne hat Lenin das Rätsel der russischen Revolution mit der lapidaren Formel erschöpft: die Kette ist an Ihrem schwächsten Glied zerrissen.
Eine krasse Illustration: der große Krieg, hervorgegangen aus den Gegensätzen des Weltimperialismus, zog in seinen Wirbel Länder verschiedener Entwicklungsstufen, stellte aber die gleichen Ansprüche an alle Teilnehmer. Es ist klar: die Bürde des Krieges mußte besonders unerträglich für die zurückgebliebensten Länder sein. Rußland war als erstes gezwungen, das Feld zu räumen. Um sich aber vom Kriege loszureißen, mußte das russische Volk die herrschenden Klassen niederwerfen. So zerriß die Kriegskette an ihrem schwächsten Gliede.
Doch ist der Krieg keine von außen kommende Katastrophe wie das Erdbeben, sondern die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Im Kriege äußerten sich nur krasser die Haupttendenzen des imperialistischen Systems der „Friedens“-Zeit ... Je höher die Weltproduktionskräfte, je gespannter die Weltkonkurrenz, je schärfer die Antagonismen, je rasender der Rüstungswettlauf, desto schwieriger ist es für die schwächeren Teilnehmer. Eben darum nehmen die rückständigen Länder die ersten Plätze in der Reihenfolge der Zusammenbrüche ein. Die Kette des Weltkapitalismus hat immer die Tendenz, am schwächsten Gliede zu zerreißen.
Sollte infolge irgendwelcher außerordentlicher oder außerordentlich ungünstiger Bedingungen – sagen wie einer siegreichen militärischen Intervention von außen oder nicht wiedergutzumachender Fehler der Sowjetregierung selbst – auf dem unermeßlichen Sowjetterritorium der russische Kapitalismus wieder auferstehen, mit ihm zugleich würde unausbleiblich auch seine geschichtliche Unzulänglichkeit wieder erstehen und er selbst wiederum in Bälde das Opfer der gleichen Widersprüche werden, die ihn im Jahre 1917 zur Explosion gebracht haben. Keine taktischen Rezepte hätten die Oktoberrevolution ins Leben rufen können, würde Rußland sie nicht in seinem Leibe getragen haben. Die revolutionäre Partei kann für sich letzten Endes nur die Rolle eines Geburtshelfers beanspruchen, der gezwungen ist, zum Kaiserschnitt Zuflucht zu nehmen.
Man könnte mir erwidern: Ihre allgemeinen Erwägungen mögen hinlänglich erklären, warum das alte Rußland Schiffbruch erleiden mußte, dieses Land, wo der rückständige Kapitalismus bei verelendetem Bauerntum von einem parasitären Adel und einer verfaulten Monarchie gekrönt war. Aber im Gleichnis von der Kette und dem schwächsten Glied fehlt immer noch der Schlüssel zum eigentlichen Rätsel: Wie konnte in einem rückständigen Lande die sozialistische Revolution siegen? Die Geschichte kennt ja nicht wenige Beispiele des Verfalls von Ländern und Kulturen bei gleichzeitigem Zusammenbruch der alten Klassen, für die sich keine progressive Ablösung gefunden hatte. Der Zusammenbruch des alten Rußland hätte auf den ersten Blick das Land eher in eine kapitalistische Kolonie als in einen sozialistischen Staat verwandeln müssen.
Dieser Einwand ist sehr interessant. Er führt uns direkt zum Kern des gesamten Problems. Und doch ist dieser Einwand fehlerhaft, ich möchte sagen, bar innerer Proportion. Einerseits geht er von einer übertriebenen Vorstellung in bezug auf die Rückständigkeit Rußlands aus, andererseits von einer theoretisch falschen Vorstellung in bezug auf das Phänomen der geschichtlichen Rückständigkeit überhaupt.
Im Gegensatz zur Anatomie und Physiologie unterscheidet sich die Psychologie, die individuelle wie die kollektive, durch außerordentliche Aufnahmefähigkeit. Geschmeidigkeit und Elastizität: darin besteht ja auch der aristokratische Vorzug des Menschen vor seinen nächsten zoologischen Verwandten, der Gattung der Affen. Die aufnahmefähige und geschmeidige Psyche verleiht als notwendige Bedingung des historischen Fortschritts den sogenannten sozialen Organismen, zum Unterschied von den wirklichen, d.h. den biologischen Organismen, eine außerordentliche Unbeständigkeit der inneren Struktur. In der Entwicklung der Nationen und Staaten, insbesondere der kapitalistischen, gibt es weder Gleichartigkeit noch Gleichmäßigkeit. Verschiedene Kulturstufen, selbst Ihre Pole nähern und verquicken sich nicht selten im Leben ein und desselben Landes.
Wollen, wir, werte Zuhörer, nicht vergessen, daß die geschichtliche Zurückgebliebenheit ein relativer Begriff ist. Gibt es rückständige und fortgeschrittene Länder, so gibt es auch eine Wechselwirkung unter ihnen: es gibt den Druck der fortgeschrittenen Länder auf die zurückgebliebenen: es gibt die Notwendigkeit für die bei ihnen Technik, zurückgebliebenen Länder, die fortgeschrittenen einzuholen, Wissenschaft zu entlehnen usw. So entsteht ein kombinierter Typus der Entwicklung: Züge der Rückständigkeit paaren sich mit den letzten Worten der Welttechnik und des Weltgedankens. Endlich sind die geschichtlichen zurückgebliebenen Länder, um sich der Rückständigkeit zu entwinden, manchmal gezwungen, den übrigen vorauszueilen.
In diesem Sinne kann man sagen, daß die Oktoberrevolution für die Völker Rußlands ein heroisches Mittel war, die eigene ökonomische und kulturelle Barbarei zu überwinden.
Gehen wir aber von diesen geschichtsphilosophischen, vielleicht etwas zu abstrakten Verallgemeinerungen dazu über, dieselben Fragen in konkreter Form zu stellen, das heißt in Anschauung der lebendigen ökonomischen Tatsachen. Die Rückständigkeit Rußlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts äußerte sich am deutlichsten darin, daß die Industrie Im Lande einen geringen Platz einnahm im Vergleiche zur Landwirtschaft, die Stadt im Vergleiche zum Dorfe, das Proletariat im Vergleich zum Bauerntum. Im Ganzen bedeutet dies eine niedrige Produktivität der nationalen Arbeit. Es genügt zu sagen, daß am Vorabend des Krieges, als das zaristische Rußland den Höhepunkt seines Wohlstandes erreicht hatte, das Volkseinkommen 8 bis 10mal niedriger war als in den Vereinigten Staaten. Dies ist zahlenmäßig ausgedrückt die Größe der Rückständigkeit, wenn in bezug auf die Rückständigkeit das Wort Rückständigkeit überhaupt anwendbar ist.
Gleichzeitig aber äußert sich das Gesetz der kombinierten Entwicklung auf wirtschaftlichem Gebiete bei jedem Schritt, In den einfachsten wie in den kompliziertesten Erscheinungen. Fast ohne Landstraßen, sah sich Rußland gezwungen, Eisenbahnen zu bauen. Ohne durch das europäische Handwerkswesen und die Manufaktur hindurchgegangen zu sein, ging Rußland direkt zu mechanisierten Betrieben über. Die Zwischenstufen zu überspringen, Ist das Schicksal der zurückgebliebenen Länder.
Während die bäuerliche Landwirtschaft häufig auf dem Niveau des 17. Jahrhunderts verblieb, stand Rußlands Industrie, wenn nicht dem Umfange so dem Typus nach, auf dem Niveau der fortgeschrittenen Länder und eilte diesen in mancher Beziehung voraus. Es genügt zu sagen, daß die Riesenunternehmungen mit über je tausend Arbeiter In den Vereinigten Staaten weniger als 18% der Gesamtzahl der Industriearbeiter beschäftigten, in Rußland dagegen über 41%. Diese Tatsache läßt sich schlecht vereinbaren mit der banalen Vorstellung von der ökonomischen Rückständigkeit Rußlands. Sie widerlegt indes nicht die Rückständigkeit, sondern ergänzt diese dialektisch.
Den gleichen widerspruchsvollen Charakter trug auch die Klassenstruktur des Landes. Das Finanzkapital Europas industrialisierte die russische Wirtschaft in beschleunigtem Tempo. Die industrielle Bourgeoisie nahm sogleich großkapitalistischen und volksfeindlichen Charakter an. Die fremden Aktienbesitzer lebten zudem außerhalb des Landes. Die Arbeiter dagegen waren selbstverständlich Russen. Einer zahlenmäßig schwachen russischen Bourgeoisie, die keine nationale Wurzeln hatte, stand auf diese Weise ein verhältnismäßig starkes Proletariat gegenüber mit kräftigen Wurzeln in den Tiefen des Volkes.
Zum revolutionären Charakter des Proletariats trug die Tatsache bei, daß Rußland gerade als zurückgebliebenes Land, unter dem Zwang, die Gegner einzuholen, nicht dazu gekommen war, einen eigenen Konservatismus, weder einen sozialen noch einen politischen, herauszuarbeiten. Als konservativstes Land Europas, ja der ganzen Welt, gilt mit Recht das älteste kapitalistische Land: England. Das von Konservatismus freieste Land Europas dürfte wohl Rußland sein. Das junge, frische, entschlossene Proletariat Rußlands bildete jedoch nur eine verschwindende Minderheit der Nation. Die Reserven seiner revolutionären Macht lagen außerhalb des Proletariats selbst: in dem in halber Leibeigenschaft lebenden Bauerntum und in den unterdrückten Nationen.
Den Untergrund der Revolution bildete die Agrarfrage. Die alte ständisch-monarchistische Fron wurde doppelt unerträglich unter den Bedingungen der neuen kapitalistischen Ausbeutung. Der bäuerliche Gemeindeboden bildete ungefähr 140 Millionen Desjatinen. Auf dreißigtausend Großgrundbesitzer, von denen jeder durchschnittlich über 2.000 Desjatinen besaß, entfielen Im Ganzen 70 Millionen Desjatinen, d.h. ebensoviel wie auf ungefähr 10 Millionen Bauernfamilien oder 50 Millionen Bauernbevölkerung, mit dem Unterschied, daß der beste Boden den Gutsbesitzern gehörte. Diese Statistik des Grund und Bodens bildete ein fertiges Programm des Bauernaufstandes.
Der adelige Boborkin schrieb im Jahre 1917 an den Kammerherrn Rodsjanko, den Vorsitzenden der letzten Stadtduma: „Ich bin ein Gutsbesitzer und es will mir nicht in den Kopf, daß ich meinen Boden verlieren soll und noch dazu für ein unglaubliches Ziel, für das Experiment der sozialistischen Lehre.“ Doch Revolutionen haben eben die Aufgabe, das zu vollbringen, was in die Köpfe der herrschenden Klassen nicht hinein will. Im Herbst 1917 wurde fast das ganze Land zum Territorium des Bauernaufstandes. Von 624 Kreisen des alten Rußland waren 482, d.h. 77% von der Bewegung ergriffen: Der Widerschein der Dorfbrände beleuchtete die Arena der Aufstände In den Städten. Aber der Bauernkrieg gegen die Gutsbesitzer – werden Sie mir erwidern – ist eines der klassischen Elemente der bürgerlichen und beileibe nicht der proletarischen Revolution!
Vollständig richtig, antworte ich, – so war es in der Vergangenheit. Aber gerade darin kam ja die Lebensunfähigkeit der kapitalistischen Gesellschaft in einem geschichtlich zurückgebliebenen Lande zum Ausdruck, daß der Bauernaufstand die bürgerlichen Klassen Rußlands nicht vorwärtstrieb, sondern im Gegenteil, sie endgültig ins Lager der Reaktion zurückwarf. Wollte sie nicht zugrundegehen, blieb der Bauernschaft nichts anderes übrig als der Anschluß an das Industrielle Proletariat. Diesen revolutionären Zusammenschluß der beiden unterdrückten Klassen sah Lenin genial voraus und bereitete ihn von langer Hand vor. Wäre die Agrarfrage von der Bourgeoisie mutig gelöst worden, dann hätte freilich das Proletariat Rußlands im Jahre 1917 keinesfalls an die Macht gelangen können. Zu spät gekommen, frühzeitig der Altersschwäche verfallen, wagte indes die habgierige und feige russische Bourgeoisie nicht, ihre Hand gegen das feudale Eigentum zu erheben. Dadurch aber lieferte sie dem Proletariat die Macht aus und damit zugleich das Verfügungsrecht über die Geschicke der bürgerlichen Gesellschaft.
Damit der Sowjetstaat zustandekomme, war folglich das Zusammenwirken zweier Faktoren von verschiedener geschichtlicher Natur notwendig: des Bauernkrieges. d.h. einer Bewegung, die für die Morgenröte der bürgerlichen Entwicklung charakteristisch ist, und des proletarischen Aufstandes, d.h. einer Bewegung, die den Untergang der bürgerlichen Bewegung anzeigt. Darin besteht eben der kombinierte Charakter der russischen Revolution.
Stellt er sich einmal auf die Hinterpfoten, wird der bäuerliche Bär furchtbar in seiner Wut. Doch ist er nicht imstande seiner Empörung bewußten Ausdruck zu verleihen. Er braucht einen Führer. Zum ersten Male in der Weltgeschichte hat das aufständige Bauerntum in der Person des Proletariats einen treuen Führer gefunden. Vier Millionen Industrie- und Transportarbeiter führten 100 Millionen Bauern. Das ist die natürliche und unvermeidliche Wechselbeziehung zwischen Proletariat und Bauerntum in der Revolution.
Die zweite revolutionäre Reserve des Proletariats bildeten die unterdrückten Nationen, übrigens auch vorwiegend bäuerlicher Zusammensetzung. Eng verbunden mit der geschichtlichen Rückständigkeit des Landes Ist der extensive Charakter der Entwicklung des Staates, der wie ein Fettfleck vom Moskauer Zentrum bis zur Peripherie auseinanderfloß. Im Osten unterwarf er sich die noch mehr zurückgebliebenen Völkerschaften, um auf sie gestützt die entwickelteren Nationalitäten im Westen zu ersticken. Zu den 70 Millionen Großrussen, die die Hauptmasse der Bevölkerung bildeten, kamen allmählich an 90 Millionen „Andersstämmige“ hinzu.
So entstand das Imperium, in dessen Zusammensetzung die herrschende Nation nur 43% der Bevölkerung bildete, während die übrigen 57% auf Nationalitäten verschiedener Kultur und Entrechtung entfielen. Der nationale Druck war in Rußland unvergleichlich roher als in den benachbarten Staaten, und zwar nicht nur der jenseits der westlichen, sondern auch jenseits der östlichen Grenze. Dies verlieh dem nationalen Problem eine ungeheure Explosivkraft.
Die russisch liberale Bourgeoisie wollte in der nationalen wie auch in der Agrarfrage nicht über gewisse Milderungen des Regimes der Unterdrückung und Vergewaltigung hinausgehen. Die „demokratische“ Regierungen Miljukows und Kerenskis, die die Interessen der großrussischen Bourgeoisie und Bürokratie widerspiegelten, beeilten sich geradezu, den unzufriedenen Nationen im Laufe der 8 Monate ihrer Existenz einzugeben: Ihr werdet nur das erreichen, was ihr gewaltsam entreißt.
Die Unvermeidlichkeit der Entwicklung der zentrifugalen nationalen Bewegung hatte Lenin sehr bald in Betracht gezogen. Die bolschewistische Partei kämpfte Jahre hindurch hartnäckig um das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, das heißt um das Recht auf volle staatliche Lostrennung. Nur durch diese mutige Stellung in der nationalen Frage konnte das russische Proletariat allmählich das Vertrauen der unterdrückten Völkerschaften gewinnen. Die nationale Freiheitsbewegung wie auch die Agrarbewegung wendete sich zwangsläufig gegen die offizielle Demokratie. stärkte das Proletariat und ergoß sich in das Bett der Oktoberumwälzung.
So entschleiert sich vor uns allmählich das Rätsel der proletarischen Umwälzung in einem geschichtlich zurückgebliebenen Lande. Die marxistischen Revolutionäre haben lange vor den Ereignissen den Gang der Revolution und die geschichtliche Rolle des jungen russischen Proletariats vorausgesehen. Man wird mir vielleicht gestatten, hier einen Auszug aus meiner eigenen Arbeit vom Jahre 1905 wiederzugeben:
„Es ist möglich, daß das Proletariat in einem ökonomisch rückständigen Lande eher an die Macht kommt als in einem kapitalistisch fortgeschrittenen Land ... Unserer Ansicht nach wird die russische Revolution die Bedingungen schaffen, unter denen die Macht in die Hände des Proletariats übergehen kann (und im Falle des Sieges der Revolution muß sie dies tun), bevor die Politiker des bürgerlichen Liberalismus Gelegenheit erhalten, ihr staatsmännisches Genie voll zu entfalten ...
Das Schicksal der elementarsten revolutionären Interessen der Bauernschaft ... (ist) verknüpft mit dem Schicksal der ganzen Revolution, d.h. mit dem Schicksal des Proletariats. Das Proletariat, das sich an der Macht befindet, wird vor die Bauernschaft als die sie befreiende Klasse treten ...
Das Proletariat wird in die Regierung als der revolutionäre Vertreter der Nation eintreten, als der anerkannte Volksführer im Kampf gegen den Absolutismus und die Barbarei der Leibeigenschaft ...
Das proletarische Regime muß schon in der allerersten Zeit die Lösung der Agrarfrage in Angriff nehmen, mit der das Schicksal großer Massen der Bevölkerung Rußlands zusammenhängt.“
Ich habe mir erlaubt, dieses Zitat zu bringen als Zeugnis dafür, daß die von mir heute dargelegte Theorie der Oktoberumwälzung keine flüchtige Improvisation ist und nicht nachträglich unter dem Druck der Ereignisse konstruiert wurde. Nein, in der Form einer politischen Prognose war sie der Oktoberumwälzung vorausgegangen. Sie werden mit mir übereinstimmen, daß die Theorie überhaupt nur insofern von Wert ist. als sie den Gang der Entwicklung vorauszusehen und auf ihn zweckmäßig einzuwirken hilft. Darin besteht allgemein gesprochen die unschätzbare Bedeutung des Marxismus als einer Waffe der gesellschaftlichen und geschichtlichen Orientierung. Ich bedauere, daß der enge Rahmen des Vortrages mir nicht erlaubt, das angeführte Zitat bedeutend zu erweitern. Ich begnüge mich daher mit einem kurzen Resümee der ganzen Schrift aus dem Jahre 1905.
„Ihrer unmittelbaren Aufgabe nach ist die russische Revolution eine bürgerliche. Doch das russische Bürgertum ist antirevolutionär. Der Sieg der Revolution ist daher nur als Sieg das Proletariats möglich. Das siegreiche Proletariat wird aber beim Programm der bürgerlichen Demokratie nicht stehen bleiben, sondern zum Programm des Sozialismus übergehen. Die russische Revolution wird zur ersten Etappe der sozialistischen Weltrevolution werden.“
Das war die Theorie der permanenten Revolution, im Jahre 1905 von mir aufgestellt unter dem Namen des „Trotzkismus“ der schärfsten Kritik ausgesetzt. Richtiger gesagt: es ist nur ein Teil dieser Theorie. Der andere, jetzt besonders aktuelle lautet:
„Die heutigen Produktionskräfte sind längst über die nationalen Schranken hinausgewachsen. Die sozialistische Gesellschaft ist in nationalen Grenzen undurchführbar. Wie bedeutend die Wirtschaftserfolge eines isolierten Arbeiterstaates auch sein mögen, das Programm des 'Sozialismus in einem Lande' ist eine kleinbürgerliche Utopie. Nur eine europäische und sodann eine Weltföderation sozialistischer Republiken kann die wirkliche Arena für eine harmonische sozialistische Gesellschaft abgeben.“
Heute, nach der Überprüfung durch die Ereignisse, sehe ich weniger Grund denn je, mich von dieser Theorie loszusagen.
Ist es nach all dem Gesagten noch der Mühe wert, sich des faschistischen Schriftstellers Malaparte zu erinnern, der mir eine Taktik zuschreibt, die von der Strategie unabhängig sein soll und auf technische Insurrektionsrezepte hinausläuft, die immer und auf allen Meridianen anwendbar sein sollen? Es ist wenigstens gut, daß der Name des unglückseligen Theoretikers der Staatsstreiche ihn mühelos von dem siegreichen Praktiker der Staatsstreiche zu unterscheiden gestattet.
Niemand riskiert somit, den Malaparte mit Bonaparte zu verwechseln. Ohne den bewaffneten Aufstand vom 7. November 1917 würde der Sowjetstaat nicht existieren. Der Aufstand selbst war aber nicht vom Himmel gefallen. Für die Oktoberrevolution war eine Reihe geschichtlicher Voraussetzungen notwendig.
Wenn ich diese Bedingung als letzte in der Reihenfolge aufzähle, so nur, weil dies der logischen Konsequenz entspricht und nicht, weil ich der Partei der Bedeutung nach die letzte Stelle zuteile.
Nein, ich bin weit entfernt von diesem Gedanken. Die liberale Bourgeoisie, ja, sie kann die Macht ergreifen und hat sie schon mehr als einmal ergriffen als Ergebnis von Kämpfen, an denen sie nicht teil gehabt hatte: sie besitzt hierzu auch prachtvoll entwickelte Greiforgane. Die werktätigen Massen befinden sich indes in einer anderen Lage: Man hat sie daran gewöhnt, zu geben und nicht zu nehmen. Sie arbeiten, dulden so lange es geht, hoffen, verlieren die Geduld, erheben sich, kämpfen, sterben, bringen den anderen den Sieg, werden betrogen, verfallen in Mutlosigkeit, wieder beugen sie den Nacken, wieder arbeiten sie. Dies ist die Geschichte der Volksmassen unter allen Regimen. Um fest und sicher die Macht in seine Hände zu nehmen, braucht das Proletariat eine Partei, die die übrigen Parteien an Klarheit des Gedankens und an revolutionärer Entschlossenheit weit übertrifft.
Die Partei der Bolschewiki, die man mehr als einmal und mit hinlänglicher Berechtigung als revolutionäre Partei in der Geschichte der Menschheit bezeichnete, war die lebendige Verdichtung der neueren Geschichte Rußlands, alles dessen, was in ihr dynamisch war. Noch mehr, die revolutionären Tendenzen der europäischen und der Weltentwicklung haben zeitweilig im russischen Bolschewismus ihren vollendetsten Ausdruck gefunden. Zur Vorbedingung für die Entwicklung von Wirtschaft und Kultur war schon längst der Sturz des Zarismus geworden. Zur Lösung dieser Aufgabe mangelte es aber an Kräften. Die Bourgeoisie fürchtete sich vor der Revolution. Die Intelligenz versuchte die Bauernschaft auf die Beine zu bringen. Unfähig, die eigenen Mühsale und Ziele zu verallgemeinern, ließ der Muschik diesen Mahnruf unbeantwortet. Die Intelligenz bewaffnete sich mit Dynamit. Eine ganze Generation verbrannte in diesem Kampfe.
Am 1. März 1887 vollführte Alexander Uljanow das letzte der großen terroristischen Attentate. Der Attentatsversuch gegen Alexander den Dritten mißlang. Uljanow und die übrigen Teilnehmer wurden gehenkt. Der Versuch, die revolutionäre Klasse durch ein chemisches Präparat zu ersetzen, hatte Schiffbruch erlitten. Selbst die heldenhafteste Intelligenz ist nichts ohne Massen. Unter dem unmittelbaren Eindruck dieser Tatsachen und Schlußfolgerungen wuchs und bildete sich Uljanows jüngerer Bruder Wladimir, der spätere Lenin, heran, die größte Figur der russischen Geschichte. Schon in früher Jugend stellte er sich auf den Boden des Marxismus und kehrte das Gesicht dem Proletariat zu. Ohne einen Augenblick das Dorf aus den Augen zu verlieren, suchte er den Weg zum Bauerntum durch die Arbeiter. Indem er von seinen revolutionären Vorgängern die Entschlossenheit, Aufopferungsfähigkeit, die Bereitschaft bis ans Ende zu gehen ererbt hatte, wurde Lenin in jungen Jahren zum Erzieher der neuen Generation der Intelligenz und der fortgeschrittenen Arbeiter. In Streiks, und Straßenkämpfen, in Gefängnissen und in der Verbannung erhielten die Arbeiter die notwendige Stählung.
Ihnen tat der Scheinwerfer des Marxismus not, um in der Finsternis der Selbstherrschaft ihren geschichtlichen Weg zu beleuchten. Im Jahre 1883 entstand In der Emigration die erste marxistische Gruppe.
Im Jahre 1898 wurde, auf einer geheimen Tagung die Gründung der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei verkündet (wir alle nannten uns in jenen Zeiten Sozialdemokraten). Im Jahre 1903 setzte die Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki ein. Im Jahre 1912 wurde die bolschewistische Fraktion endgültig zu einer selbständigen Partei.
Die Klassenmechanik der Gesellschaft lernte sie in Kämpfen, in grandiosen Ereignissen von 12 Jahren (1905-1917) erkennen. Sie erzog Kader, gleichermaßen befähigt zur Initiative wie zur Unterordnung. Die Disziplin der revolutionären Aktion stützte sich auf die Einheit der Doktrin, auf die Tradition der gemeinsamen Kämpfe und auf das Vertrauen zur erprobten Führung.
So stand die Partei im Jahre 1917 da. Während sie die offizielle öffentliche Meinung und die papiernen Donner der Intelligenzpresse mißachtete, richtete sie sich nach der Bewegung der Massen aus. Fest hielt sie das Heft über Betriebe und Regimenter in der Hand. Die Bauernmassen wendeten sich ihr immer mehr zu. Versteht man unter Nation nicht die privilegierten Spitzen, sondern die Mehrheit des Volkes, d.h., die Arbeiter und Bauern, so wurde der Bolschewismus im Laufe des Jahres 1917 zur wahrhaft nationalen russischen Partei.
Im September 1917 gab Lenin, der gezwungen war sich im Versteck zu halten, das Signal: „Die Krise ist reif, die Stunde des Aufstandes ist herangerückt.“ Er hatte recht. Die herrschenden Klassen waren in die Sackgasse geraten angesichts der Probleme des Krieges, des Grund und Bodens und der nationalen Befreiung. Die Bourgeoisie verlor endgültig den Kopf. Die demokratischen Parteien, die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, vergeudeten den letzten Rest ihres Vertrauens bei den Massen durch die Unterstützung des imperialistischen Krieges, durch die Politik kraftloser Kompromisse und Zugeständnisse an die bürgerlichen und feudalen Eigentümer. Die erwachte Armee wollte nicht mehr um die ihr fremden Ziele des Imperialismus kämpfen. Ohne die demokratischen Ratschläge zu achten, räucherte die Bauernschaft die Gutsbesitzer aus deren Gutsbesitzern aus. Die unterdrückte nationale Peripherie des Reiches erhob sich gegen die Petrograder Bürokratie. In den wichtigsten Arbeiter- und Soldatenräten herrschten die Bolschewiki. Die Arbeiter und Soldaten forderten Taten. Die Eiterung war reif geworden. Es bedurfte eines Stiches mit der Lanzette.
Nur unter diesen sozialen und politischen Bedingungen wurde der Aufstand möglich. Und so wurde er auch unausbleiblich. Mit dem Aufstand läßt sich aber nicht scherzen. Wehe dem Chirurgen, der nachlässig mit der Lanze umgeht. Der Aufstand ist eine Kunst. Er hat seine Gesetze und seine Regeln.
Die Partei führte den Oktoberaufstand mit kalter Berechnung und flammender Entschlossenheit durch. Dem gerade war zu danken, daß sie fast ohne Opfer siegte. Durch die siegreichen Sowjets stellten sich die Bolschewiki an die Spitze des Landes, das ein Sechstel der Erdoberfläche einnimmt.
Die Mehrheit meiner heutigen Zuhörer beschäftigten sich, wie anzunehmen ist, im Jahre 1917 noch gar nicht mit Politik. Desto besser. Der jungen Generation steht zweifellos noch sehr viel Interessantes, wenn auch nicht immer Leichtes bevor. Doch die Vertreter der älteren in diesem Saale werden sich gewiß sehr gut erinnern, wie die Machtergreifung durch die Bolschewiki aufgenommen wurde: als Kuriosum, als Mißverständnis, als Skandal, am häufigsten als Alpdruck, der sich mit dem ersten Morgenstrahl zerstreuen müssen wird. Die Bolschewiki werden sich 24 Stunden halten, eine Woche, einen Monat, ein Jahr. Man mußte die Fristen immer weiter verschieben ... Die Herrschenden der ganzen Welt rüsteten gegen den ersten Arbeiterstaat: Entfachung des Bürgerkrieges, neue und neue Interventionen, Blockade. So verging Jahr um Jahr. Die Geschichte hat inzwischen fünfzehn Jahre Existenz der Sowjetmacht zu buchen gehabt.
Ja, – wird irgendein Gegner sagen: das Oktoberabenteuer hat sich als viel solider erwiesen, als viele von uns dachten. Vielleicht war es nicht einmal ganz ein „Abenteuer“. Nichtsdestoweniger behält die Frage ihre ganze Kraft: was ist durch diesen hohen Preis erzielt worden? Sind etwa jene blendenden Aufgaben verwirklicht, die von den Bolschewiki am Vorabend der Umwälzung verkündet worden waren? Ehe wir dem vermeintlichen Gegner antworten, wollen wir bemerken, daß die Frage an sich nicht neu ist. Im Gegenteil, sie folgt der Oktoberrevolution auf den Fersen, seit dem Tage ihrer Geburt.
Der französische Journalist Claude Anet, der sich während der Revolution in Petrograd aufhielt, schrieb schon am 27. Oktober 1917:
„Les maximalistes ont pris le pouvoir et le grand jour est arrivé. – Enfin, me disje, je vais voir se réaliser l’Eden socialiste qu'on nous promet depuis tant d'années ... Admirable aventure! Position privilégiée!“ („Die Maximalisten“ – so nannten die Franzosen in jenen Tagen die Bolschewiki – „haben die Macht ergriffen und der große Tag ist angebrochen. Endlich, sage ich mir, werde ich die Verwirklichung des sozialistischen Paradieses erblicken, das man uns schon seit Jahren verspricht ... Ein prachtvolles Abenteuer! Eine privilegierte Position!“)
Und so weiter, und so weiter und so fort. Welch aufrichtiger Haß hinter den ironischen Begrüßungen! Scho)n am Morgen nach der Einnahme des Winterpalais beeilte sich der reaktionäre Journalist, seinen Anspruch auf eine Eintrittskarte ins Eden anzumelden. Fünfzehn Jahre sind seit der Umwälzung verflossen. Mit desto größerer Zeremonienlosigkeit offenbaren die Gegner ihre Schadenfreude darüber, daß das Land der Sowjets auch heute noch sehr wenig einem Reiche des allgemeinen Wohlstandes gleiche, wozu also die Revolution und wozu die Opfer?
Werte Zuhörer! – ich gestatte mir zu denken, daß die Widersprüche, Schwierigkeiten, Fehler und Nöte des Sowjetregimes nicht minder bekannt sind als wem auch immer. Ich persönlich habe sie niemals verheimlicht weder in Reden noch in Schriften. Ich meinte und meine, daß die revolutionäre Politik zum Unterschied von der konservativen auf Maskierung nicht aufgebaut werden kann. „Aussprechen, was ist“, muß das höchste Prinzip des Arbeiterstaates sein.
In der Kritik wie in der schöpferischen Tätigkeit tun richtige Proportionen not. Der Subjektivismus ist ein schlechter Berater, gar in großen Fragen. Die Fristen müssen den Aufgaben angemessen sein und nicht individueller Laune. Fünfzehn Jahre! Wieviel ist dies für ein einzelnes Leben! In dieser Frist wurden nicht wenige aus unserer Generation zu Grabe getragen, bei den Übriggebliebenen haben sich die grauen Haare zahllos vermehrt. Aber dieselben 15 Jahre: welch nichtige Frist im Leben eines Volkes! Eine Minute nur auf der Uhr der Geschichte.
Der Kapitalismus brauchte Jahrhunderte, um sich im Kampfe gegen das Mittelalter zu behaupten, Wissenschaft und Technik zu heben, Eisenbahnen zu bauen, elektrische Drähte zu spannen. Und dann? Dann wurde die Menschheit durch den Kapitalismus in die Hölle der Kriege und Krisen gestürzt! Dem Sozialismus aber gewähren seine Gegner, das heißt die Anhänger des Kapitalismus, nur anderthalb Jahrzehnte, das Paradies auf Erden mit allem Komfort einzurichten. Nein, solche Verpflichtungen hatten wir nicht auf uns genommen. Solche Fristen hatten wir nicht gestellt. Prozesse großer Umwandlungen muß man mit ihren Maßstäben messen. Ich weiß nicht, ob die sozialistische Gesellschaft dem biblischen Paradies ähneln wird. Ich zweifele sehr daran. In der Sowjetunion gibt es aber noch keinen Sozialismus, Es herrscht dort ein Übergangszustand, voll Widersprüchen, belastet mit dem schweren Erbe der Vergangenheit, noch dazu unter dem feindlichen Druck der kapitalistischen Staaten. Die Oktoberrevolution hat das Prinzip der neuen Gesellschaft verkündet. Die Sowjetregierung hat nur das erste Stadium von dessen Verwirklichung gezeigt. Die erste Edisonlampe war sehr schlecht. Unter den Fehlern und Mißgriffen des ersten sozialistischen Aufbaus muß man die Zukunft zu unterscheiden wissen.
Die Unbilden aber, die auf die lebenden Menschen niederprasseln? Rechtfertigen etwa die Ergebnisse der Revolution die von ihr verursachten Opfer? Eine fruchtlose, durch und durch rhetorische Frage: Als ob die Prozesse der Geschichte eine buchhalterische Bilanz zuließen! Mit dem gleichen Rechte könnte man angesichts der Schwierigkeiten und Mühsalen des menschlichen Daseins fragen: Lohnt es sich überhaupt, auf die Welt zu kommen? Heine schrieb darüber: „und der Narr wartet auf Antwort...“ Die melancholischen Grübeleien haben den Menschen nicht verwehrt, zu gebären und geboren zu worden. Die Selbstmörder bilden selbst in diesen Tagen einer beispiellosen Weltkrise glücklicherweise einen unerheblichen Prozentsatz. Völker pflegen aber nie zu Selbstmord Zuflucht zu nehmen. Aus den unerträglichen Bürden suchen sie den Ausweg in der Revolution.
Wer entrüstet sich übrigens über die Opfer der sozialistischen Umwälzung? Am häufigsten jene, die die Opfer des imperialistischen Krieges vorbereitet und verherrlicht oder sich wenigstens mit ihnen sehr leicht abgefunden haben. An uns ist jetzt die Reihe, zu fragen: hat sich der Krieg gerechtfertigt? Was hat er gegeben? Was gelehrt?
Der reaktionäre Historiker Hippolyte Taine schildert in seiner elfbändigen Schmähschrift gegen die große französische Revolution nicht ohne Schadenfreude die Qualen des französischen Volkes in den Jahren der Jakobinerdiktatur und danach. Am schwersten hatten es die unteren städtischen Schichten, die Plebejer, die als Sansculotten den besten Teil ihrer Seele für die Revolution hergegeben hatten. Sie oder ihre Frauen standen nun kalte Nächte hindurch Schlange, um frühmorgens mit leeren Händen zum erloschenen Herd der Familie zurückzukehren. Im zehnten Jahre der Revolution war Paris ärmer als vor deren Ausbruch.
Sorgfältig ausgewählte, künstlich zusammengestoppelte Tatsachen dienen Taine zur Begründung seines vernichtenden Verdikts gegen die Revolution. Seht, die Plebejer wollten Diktatoren sein und haben sich ins Elend gestürzt. Es ist schwer, sich ein flacheres Moralisieren vorzustellen! Die große französische Revolution erschöpfte sich nicht in Hungerschlangen vor Bäckerläden. Das gesamte moderne Frankreich, in mancher Beziehung die gesamte moderne Zivilisation ist aus dem Bade der französischen Revolution hervorgegangen.
Im Laufe des Bürgerkrieges in den Vereinigten Staaten während der Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts sind 50.000 Mann gefallen. Lassen sich diese Opfer rechtfertigen?
Vom Standpunkt der amerikanischen Sklavenhalter und der mit ihnen marschierenden herrschenden Klassen Großbritanniens – nein! Vom Standpunkt der Neger oder der britischen Arbeiter – vollständig! und vom Standpunkt der Entwicklung der Menschheit als ganzer – auch darüber kann kein Zweifel bestehen. Aus dem Bürgerkrieg der Sechzigerjahre sind die heutigen Vereinigten Staaten hervorgegangen mit ihrer unbändigen praktischen Initiative, der rationalisierten Technik, dem wirtschaftlichen Elan. Auf diesen Errungenschaften des Amerikanismus wird die Menschheit die neue Gesellschaft aufbauen. Die Oktoberrevolution ist tiefer als alle ihr vorangegangenen in das Allerheiligste der Gesellschaft eingedrungen – in die Eigentumsverhältnisse. Desto längere Fristen sind nötig, um die schöpferischen Folgen der Revolution auf allen Gebieten des Lebens zu offenbaren. Doch die allgemeine Richtung der Umwälzung ist schon jetzt klar: vor ihren kapitalistischen Anklägern hat die Sowjetrepublik keinesfalls Grund, den Kopf hängen zu lassen und die Sprache der Entschuldigung zu führen.
Das objektivste, tiefste und unbestreitbarste Kriterium das Fortschrittes ist das Wachstum der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit. Die Bewertung der Oktoberrevolution ist unter diesem Gesichtswinkel bereits durch die Erfahrung gegeben. Das Prinzip der sozialistischen Organisation hat zum ersten Male in der Geschichte seine Fähigkeit bewiesen, in einer kurzen Frist nie dagewesene Produktionsergebnisse zu zeitigen.
Die Kurve der industriellen Entwicklung Rußlands ist in groben Indexziffern ausgedrückt die folgende: Setzen wir das Jahr 1913, das letzte Jahr vor dem Kriege, mit 100 an. Das Jahr 1920, der Höhepunkt des Bürgerkrieges ist auch der Tiefpunkt der Industrie: nur 25, das heißt ein Viertel der Vorkriegsproduktion. 1923 ein Anwachsen bis zu 75, d.i. bis zu drei Vierteln der Vorkriegsproduktion. 1929 ca. 200; 1932 – 300, daß heißt dreimal so viel wie am Vorabend des Krieges.
Das Bild wird noch greller im Licht des Internationalen Index. Von 1925 bis 1932 ist die industrielle Produktion Deutschlands fast um zwei Drittel gesunken, in Amerika fast um die Hälfte, in der Sowjetunion ist sie um mehr als das Vierfache gestiegen. Diese Ziffer spricht für sich selbst.
Ich gedenke keinesfalls die Schattenseiten der Sowjetwirtschaft zu leugnen oder zu verheimlichen. Die Ergebnisse des Industrieindex werden außerordentlich beeinträchtigt durch die ungünstige Entwicklung der Landwirtschaft, das heißt jenes Gebietes, das sich im Wesen noch nicht zu sozialistischen Methoden erhoben hat, gleichzeitig aber auf den Weg der Kollektivierung geführt wurde, ohne genügende Vorbereitung, eher bürokratisch als technisch und ökonomisch. Das ist eine große Frage, die jedoch den Rahmen meines Vortrages überschreitet.
Die angeführten Indexziffern erfordern noch einen wesentlichen Vorbehalt. Die unbestreitbaren und in ihrer Art glänzenden Erfolge der Sowjetindustrialisierung erheischen eine weitere ökonomische Überprüfung vom Standpunkt der gegenseitigen Abgestimmtheit der verschiedenen Elemente der Wirtschaft, ihres dynamischen Gleichgewichts und folglich ihrer Leistungsfähigkeit. Hier sind noch größere Schwierigkeiten und sogar Rückschläge unvermeindlich. Der Sozialismus entsteigt nicht in vollendeter Gestalt dem Fünfjahrplan, so wie Minerva Jupiters Haupt oder Venus dem Meerschaum entstieg. Es stehen noch Jahrzehnte von hartnäckiger Arbeit, von Fehlern, Verbesserungen und Umbau bevor. Vergessen wir überdies nicht, daß der sozialistische Aufbau seinem Wesen nach nur auf der internationalen Arena zur Vollendung gelangen kann.
Doch selbst die ungünstigste Wirtschaftsbilanz der bisher erzielten Resultate könnte nur die Unrichtigkeit der Vorberechnungen, die Fehler des Planes und die Mißgriffe der Führung aufdecken, aber keineswegs die empirisch feststehende Tatsache widerlegen: die Möglichkeit, mit Hilfe sozialistischer Methoden die Produktivität der kollektiven Arbeit zu einer nie dagewesenen Höhe zu steigern. Dieser Eroberung, die von weltgeschichtlicher Bedeutung ist, wird uns niemand und nichts berauben können.
Kaum lohnt es sich nach dem Gesagten, bei den Klagen zu verweilen, die Oktoberrevolution habe Rußland zum Niedergang der Kultur geführt. Das ist die Stimme der beunruhigten Herrschaftshäuser und Salons. Die durch die proletarische Umwälzung gestürzte adelig-bürgerliche „Kultur“ war bloß eine Talmiverzierung der Barbarei. Während sie dem russischen Volk unzugänglich blieb, brachte sie wenig Neues in die Schatzkammer der Menschheit.
Aber auch in bezug auf diese Kultur, die von der weißen Emigration so beweint wird, muß man die Frage präzisieren: in weichem Sinne ist sie zertrümmert? In dem einzigen: das Monopol einer kleinen Minderheit auf die Güter der Kultur ist vernichtet. Doch alles, was wirklich kulturell war an der alten russischen Kultur ist unangetastet geblieben. Die Hunnen des Bolschewismus haben weder die Eroberungen des Gedankens noch die Werke der Kunst zertreten. Im Gegenteil. Sorgfältig haben sie die Denkmäler der menschlichen Schöpfung gesammelt und sie in mustergültige Ordnung gebracht. Die Kultur der Monarchie, des Adels und der Bourgeoisie ist jetzt zur Kultur der historischen Museen geworden.
Das Volk besichtigt diese Museen eifrig. Aber es lebt nicht in ihnen. Es lernt. Es baut. Die Tatsache allein, daß die Oktoberrevolution das russische Volk, die dutzende Völker des zaristischen Rußland lesen und schreiben gelehrt hat, steht unermeßlich höher als die ganze einstige treibhausartige russische Kultur. Die Oktoberrevolution hat die Grundlage gelegt für eine neue Kultur, die nicht für Auserwählte, sondern für alle berechtigt ist. Das fühlen die Massen der ganzen Welt. Daher ihre Sympathien zur Sowjetunion, die ebenso glühend sind, wie früher ihr Haß gegen das zaristische Rußland.
Werte Zuhörer, Sie wissen, daß die menschliche Sprache ein unersetzliches Werkzeug nicht nur für die Benennung der Geschehnisse, sondern auch für deren Wertung darstellt. Indem sie das Zufällige, Episodenhafte, Künstliche ausscheidet, saugt sie das Wesentliche, Charakteristische, Vollgewichtige in sich ein. Beachten Sie, mit welcher Feinfühligkeit die Sprachen der zivilisierten Nationen zwei Epochen in der Entwicklung Rußlands unterschieden haben. Die adelige Kultur brachte in den Weltumgang solche Barbarismen wie Zar, Kosak, Progrom, Nagalka. Sie kennen diese Wörter und wissen, was sie bedeuten. Der Oktober führte in die Sprache der Welt solche Wörter wie Bolschewik, Sowjet, Kolchos, Gosplan, Pjatilekat ein. Hier hält die praktische Linguistik ihr oberstes historisches Gericht
Die tiefste. doch einer unmittelbaren Bemessung am schwersten unterliegende Bedeutung jeder großen Revolution besteht darin, daß sie den Volkscharakter formt und stählt. Die Vorstellung vom russischen Volk als einem langsamen, passiven, schwermütig-mystischen ist weit verbreitet und nicht zufällig. Sie hat ihre Wurzeln in der Vergangenheit. Bis jetzt sind aber im Westen jene tiefgehenden Veränderungen nicht genügend in Betracht gezogen worden, die die Revolution in den Volkscharakter hineingetragen hat. Konnte es auch anders sein?
Jeder Mensch mit Lebenserfahrung kann in seinem Gedächtnis das Bild irgendeines ihm bekannten Jünglings wachrufen, der – empfänglich, lyrisch, allzu empfindsam – später mit einem Male, unter der Wirkung eines starken Stoßes kräftiger, gestählter wurde und nicht wiederzuerkennen war. In der Entwicklung einer ganzen Nation vollführt derartige moralische Umwandlung die Revolution.
Der Februaraufstand gegen die Selbstherrschaft, der Kampf gegen den Adel, gegen den imperialistischen Krieg, für den Frieden, für Grund und Boden, für nationale Gleichberechtigung, der Oktoberaufstand, die Niederwerfung der Bourgeoisie und jener Parteien, die Vereinbarungen mit der Bourgeoisie erstrebt hatten, drei Jahre Bürgerkrieg auf einem Frontgürtel von 8000 Kilometern, die Jahre der Blockade, des Elends, des Hungers und der Epidemien, die Jahre des gespannten wirtschaftlichen Aufbaus, der neuen Schwierigkeiten und Entbehrungen – das ist eine rauhe aber gute Schule. Ein schwerer Hammer zertrümmert Glas, doch den Stahl schmiedet er. Der Hammer der Revolution schmiedet den Stahl des Volkscharakters.
„Wer wird es glauben“, schrieb mit Empörung bald nach der Umwälzung einer der zaristischen Generale, Zaleski, „daß ein Portier oder ein Wächter mit einem Male Gerichtsvorsitzender wird, ein Krankenwärter Lazarettvorsteher, ein Barbier Würdenträger, ein Fähnrich Oberkommandierender, ein Taglöhner Stadthauptmann, ein Schlosser Werkleiter“.
„Wer wird es glauben?“ Man mußte es schon glauben. Man konnte nicht umhin es zu glauben, als die Fähnriche Generäle schlugen, der Stadthauptmann einst Tagelöhner – den Widerstand der alten Bürokratie brach, der Wagenschmierer den Transport in Ordnung brachte, der Schlosser als Direktor die Industrie instandsetzte. „Wer wird es glauben?“ Möge man nur versuchen, es nicht zu glauben.
Zur Erklärung der ungewöhnlichen Ausdauer, die die Volksmassen der Sowjetunion in den Jahren der Revolution beweisen, berufen sich manche ausländischen Beobachter nach alter Gewohnheit auf die Passivität des russischen Charakters. Ein grober Anachronismus! Die revolutionären Massen ertragen die Entbehrungen geduldig, aber nicht passiv. Sie schaffen mit eigenen Händen eine bessere Zukunft und sie wollen sie schaffen um jeden Preis. Möge doch der Klassenfeind nur versuchen, diesen geduldigen Massen von außen her seinen Willen aufzuzwingen! Nein, mag ers lieber nicht versuchen.
Versuchen wir zum Schluß den Platz der Oktoberrevolution nicht nur in der Geschichte Rußlands, sondern in der Geschichte der Welt festzulegen. Während des Jahres 1917 treffen sich in der Zeitspanne von 8 Monaten zwei geschichtliche Kurven. Die Februarumwälzung, – dieser verspätete Widerhall der großen Kämpfe, die sich in vorangegangenen Jahrhunderten auf den Territorien der Niederlande, Englands, Frankreichs, fast des ganzen kontinentalen Europas abgespielt hatten – schließt sich der Serie der bürgerlichen Revolutionen an. Die Oktoberumwälzung verkündet und eröffnet die Herrschaft des Proletariats. Es war der Weltkapitalismus, der auf dem Territorium Rußlands seine erste große Niederlage erlitt. Die Kette zerriß am schwächsten Gliede. Es zerriß aber die Kette und nicht nur das Glied.
Der Kapitalismus hat sich als Weltsystem geschichtlich überlebt. Er hat aufgehört, seine wesentliche Mission zu erfüllen: die Hebung menschlicher Macht und menschlichen Reichtums. Auf der erreichten Stufe kann die Menschheit nicht verharren. Nur eine machtvolle Steigerung der Produktionskräfte und eine richtige, planmäßige, d.h. sozialistische Organisation von Erzeugung und Verteilung kann den Menschen – allen Menschen – ein würdiges Lebensniveau sichern und ihnen gleichzeitig das kostbare Gefühl der Freiheit ihrer eigenen Wirtschaft gegenüber verleihen. Der Freiheit in zweierlei Beziehung: erstens wird der Mensch nicht mehr gezwungen sein, der physischen Arbeit den Hauptteil seines Lebens zu widmen. Zweitens wird er nicht mehr von den Gesetzen des Marktes abhängen, das heißt von den blinden und finsteren Kräften, die sich hinter seinem Rücken herausbilden. Er wird seine Wirtschaft frei, d.h. nach einem Plan, mit dem Zirkel in der Hand aufbauen. Es handelt sich diesmal darum, die Anatomie der Gesellschaft durch und durch zu röntgen, alle ihre Geheimnisse aufzudecken und alle ihre Funktionen der Vernunft und dem Willen des kollektiven Menschen zu unterwerfen.
In diesem Sinne soll der Sozialismus eine neue Stufe im geschichtlichen Aufstieg der Menschheit werden. Unserem Urahn, der sich zum ersten Male mit einer Steinaxt bewaffnet hatte, stellte sich die ganze Natur als Verschwörung geheimnisvoller und feindlicher Mächte dar ... Die Naturwissenschaften haben seither Hand in Hand mit der praktischen Technologie die Natur bis zu ihren verborgensten Tiefen durchleuchtet. Vermittels der elektrischen Energie vollzieht jetzt der Physiker sein Gericht über den Atomkern. Die Stunde ist nicht mehr fern, wo die Wissenschaft spielend die Aufgabe der Alchimie lösen, Dünger in Gold und Gold in Dünger verwandeln wird. Dort wo die Dämonen und Furien der Natur wüteten, gebietet jetzt immer mutiger der industrielle Wille des Menschen.
Doch während er siegreich mit der Natur rang, baute der Mensch seine Beziehung zu anderen Menschen blind, fast so wie die Ameise oder die Biene. Mit Verspätung und höchst unentschlossen tritt er an die Probleme der menschlichen Gesellschaft heran. Er begann bei der Religion, um dann zur Politik überzugehen. Die Reformation war der erste Erfolg der kritischen Vernunft auf einem Gebiete, wo tote Tradition geherrscht hatte. Von der Kirche griff der kritische Gedanke zum Staat über. Im Kampfe mit dem Absolutismus und den mittelalterlichen Ständen geboren, erstarkte die Doktrin der Volkssouveränität und der Menschen- und Bürgerrechte. So kam das System des Parlamentarismus zustande. Der kritische Gedanke drang in das Gebiet der staatlichen Verwaltung ein. Der politische Nationalismus der Demokratie bedeutete die höchste Errungenschaft der revolutionären Bourgeoisie.
Zwischen Natur und Staat steht aber die Wirtschaft. Von der Tyrannei der alten Elemente: Erde, Wasser, Feuer und Luft hat den Menschen die Technik befreit, um ihn sodann Ihrer eigenen Tyrannei zu unterwerfen. Der Mensch hörte auf, Sklave der Natur zu sein, um zum Sklaven der Maschine zu werden und. noch schlimmer, zum Sklaven der Nachfrage und des Angebots. Die gegenwärtige Weltkrise bezeugt in besonders tragischer Weise, wie sehr der Mensch, der auf den Boden des Ozeans hinabtaucht, In die Stratosphäre emporsteigt, sich auf unsichtbaren Wellen mit den Antipoden unterhält, wie sehr dieser stolze und verwegene Gebieter der Natur Sklave der blinden Mächte der eigenen Wirtschaft bleibt. Die geschichtliche Aufgabe unserer Epoche besteht darin, das entfesselte Spiel des Marktes durch einen vernünftigen Plan zu ersetzen, die Produktionskräfte zu disziplinieren, sie zu zwingen, in Harmonie zusammenzuwirken, den Bedürfnissen des Menschen gehorsam dienend. Nur auf dieser neuen sozialen Grundlage wird der Mensch seinen müden Rücken strecken können und – jeder und jede, nicht nur Auserwählte – zum vollberechtigten Bürger im Reiche des Gedankens werden!:
Doch ist dies noch nicht das Ende des Weges. Nein, es ist nur sein Anfang. Der Mensch bezeichnet sich als die Krönung der Schöpfung. Er hat darauf gewisse Anrechte. Wer hat aber behauptet, der heutige Mensch sei der letzte und höchste Vertreter der Gattung homo sapiens? Nein, physisch wie geistig ist er sehr weit von Vollkommenheit entfernt, diese biologische Frühgeburt, deren Denken erkrankt ist und die sich kein neues organisches Gleichgewicht geschaffen hat.
Zwar hat die Menschheit mehr als einmal Giganten des Gedankens und der Tat hervorgebracht, die die Zeitgenossen wie Gipfel einer Bergkette überragten. Das Menschengeschlecht hat ein Recht auf Aristoteles, Shakespeare, Darwin, Beethoven, Goethe, Marx, Edison, Lenin stolz zu sein. Warum sind diese aber so selten? Vor allem darum, weil sie fast ausnahmslos aus höheren und mittleren Klassen hervorgegangen sind. Von seltenen Ausnahmen abgesehen, sind die Funken der Genialität in den niedergehaltenen Tiefen des Volkes, ehe sie noch auflodern konnten, erstickt. Aber auch deshalb, weil der Prozeß der Zeugung, der Entwicklung und Erziehung des Menschen im Wesen eine Sache des Zufalls blieb und bleibt: nicht durchleuchtet von Theorie und Praxis, nicht dem Bewußtsein und dem Willen untergeordnet.
Die Anthropologie, Biologie, Physiologie, Psychologie haben Berge von Material gesammelt, um vor dem Menschen in vollem Umfange die Aufgaben seiner eigenen körperlichen und geistigen Vervollkommnung und weiteren Entwicklung aufzurichten. Die Psychoanalyse hob mit Sigmund Freuds genialer Hand den Deckel vom Brunnen, der poetisch die „Seele“ des Menschen genannt wird. Und was hat sich erwiesen? Unser bewußtes Denken bildet nur ein Teilchen in der Arbeit der finsteren psychischen Kräfte. Gelehrte Taucher steigen auf den Boden des Ozeans und fotografieren dort geheimnisvolle Fische. Indem der menschliche Gedanke auf den Boden seines eigenen seelischen Brunnens hinabsteigt. muß er die geheimnisvollsten Triebkräfte der Psyche beleuchten und sie der Vernunft und dem Willen unterwerfen.
Ist er einmal mit den anarchischen Kräften der eigenen Gesellschaft fertig geworden, wird der Mensch sich selbst in Arbeit nehmen, in den Mörser, in die Retorte des Chemikers. Die Menschheit wird zum ersten Male sich selbst als Rohmaterial, bestenfalls als physisches und psychisches Halbfabrikat betrachten. Der Sozialismus wird ein Sprung aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit auch in dem Sinne bedeuten, daß der gegenwärtige, widerspruchsvolle und unharmonische Mensch einer neuen und glücklicheren Rasse den Weg ebnen wird.
(Ein Teil des Auditoriums stimmt die Internationale an.)
Zuletzt aktualisiert am 21.7.2008