Leo Trotzki

 

Der einzige Weg


VIII. Der Weg zum Sozialismus

Kautsky, Hilferding u.a. haben in den letzten Jahren mehr als einmal erklärt, sie seien niemals Anhänger der Zusammenbruchstheorie gewesen, die die Revisionisten einst den Marxisten zuschrieben, und die die Kautskyaner selber jetzt häufig den Kommunisten unterschieben.

Die Bernsteinianer zeichneten zwei Perspektiven: eine irreale, angeblich orthodox-“marxistische“, derzufolge letzten Endes unter dem Einfluss der inneren Gegensätze im Kapitalismus dessen mechanischer Zusammenbruch eintreten sollte und eine zweite, „reale“, nach der sich eine allmähliche Evolution vom Kapitalismus zum Sozialismus vollziehen sollte. So entgegengesetzt diese beiden Schemata auf den ersten Blick sind, es eint sie dennoch ein gemeinsamer Zug – das Fehlen des revolutionären Faktors. Während sie die ihnen untergeschobene Karikatur des automatischen Zusammenbruchs des Kapitalismus ablehnten, wiesen die Marxisten nach, dass unter dem Einfluss des sich verschärfenden Klassenkampfes das Proletariat die Revolution viel früher vollziehen werde als die objektiven Widersprüche des Kapitalismus zu dessen automatischem Zusammenbruch führen könnten.

Dieser Meinungsstreit spielte sich noch gegen Ende des vorigen Jahrhunderts ab. Man muss aber anerkennen, dass sich die kapitalistische Wirklichkeit seit dem Kriege in gewisser Beziehung der bernsteinianischen Karikatur auf den Marxismus mehr genähert hat, als irgendwer vermuten konnte, vor allem die Revisionisten selbst; hatten sie doch das Gespenst des Zusammenbruchs nur gemalt, um dessen Irrealität vorzuführen. Inzwischen erweist sich der Kapitalismus tatsächlich dem automatischen Zerfall um so näher, je mehr sich der revolutionäre Eingriff des Proletariats in die Geschicke der Gesellschaft verzögert.

Den wichtigsten Bestandteil der Theorie vom Zusammenbruch bildete die Verelendungstheorie. Die Marxisten sagten – vorsichtig –, die Verschärfung der sozialen Gegensätze müsse nicht unbedingt einer absoluten Senkung der Lebenshaltung der Massen gleichkommen. In Wirklichkeit geschieht gerade das letztere. Worin könnte sich der Zusammenbruch des Kapitalismus brutaler äußern als in chronischer Arbeitslosigkeit und Zerstörung der Sozialversicherung, d.h. in der Weigerung der Gesellschaft, die eigenen Sklaven zu ernähren?

Die opportunistischen Bremsen in der Arbeiterklasse haben sich als mächtig genug erwiesen, um den elementaren Kräften des überlebten Kapitalismus weitere Jahrzehnte Frist einzuräumen. Das Resultat war nicht die Idylle der friedlichen Umwandlung des Kapitalismus in Sozialismus, sondern ein Zustand, der dem sozialen Zerfall durchaus nahe kommt.

Die Reformisten versuchten lange Zeit, die Verantwortung für den jetzigen Zustand der Gesellschaft dem Kriege zuzuschieben. Aber erstens hat der Krieg die Zerstörungstendenzen des Kapitalismus nicht geschaffen, sondern sie nur nach außen getragen und beschleunigt; zweitens hätte der Krieg ohne die politische Unterstützung des Reformismus sein Zerstörungswerk nicht verrichten können; drittens bereiten die ausweglosen Widersprüche des Kapitalismus von verschiedenen Seiten her neue Kriege vor. Die historische Verantwortung wird der Reformismus nicht von sich abwälzen können. Indem sie die revolutionäre Energie des Proletariats paralysiert und bremst, verleiht die internationale Sozialdemokratie dem Prozess des kapitalistischen Zusammenbruchs die blindesten, zügellosesten, katastrophalsten und blutigsten Formen.

Selbstverständlich lässt sich von einer Verwirklichung der revisionistischen Karikatur auf den Marxismus nur bedingt, nur im Hinblick auf eine bestimmte geschichtliche Periode sprechen. Der Ausweg aus dem Verfallskapitalismus wird dennoch, wenn auch mit großer Verspätung, nicht der Weg des automatischen Zusammenbruchs, sondern der revolutionäre Weg sein.

Die jetzige Krise hat mit einem letzten Besenstrich die Überreste der reformistischen Utopien fortgefegt. Die opportunistische Praxis hat gegenwärtig keinerlei theoretische Deckung. Den Wels, Hilferding, Grzesinski, Noske ist es schließlich recht gleichgültig, welche Katastrophen noch über die Volksmassen hereinbrechen werden, wenn nur ihre eigenen Interessen nicht verletzt werden. Aber es ist eben so, dass die Krise des bürgerlichen Regimes auch die reformistischen Führer trifft.

„Staat, greif ein!“, rief kürzlich noch die Sozialdemokratie, während sie vor dem Faschismus zurückwich. Und der Staat griff ein: Otto Braun und Severing flogen aufs Pflaster. – Jetzt, schrieb der Vorwärts, müssen alle die Vorzüge der Demokratie gegenüber dem Diktaturregime anerkennen. – Ja, die Demokratie hatte bedeutende Vorzüge, dachte Grzesinski, während er mit dem Gefängnis von innen Bekanntschaft machte.

Aus dieser Erfahrung ergab sich die Schlussfolgerung: „Es ist Zeit, an die Sozialisierung zu gehen!“ Tarnow, gestern noch Arzt des Kapitalismus, beschloss plötzlich, zu dessen Totengräber zu werden. Jetzt, wo der Kapitalismus die reformistischen Minister, Polizei- und Oberpräsidenten in Arbeitslose verwandelte, hatte er sich offensichtlich erschöpft. Wels schrieb einen Programmartikel: Die Stunde des Sozialismus hat geschlagen! Es fehlt noch, dass Schleicher die Abgeordneten um ihr Gehalt bringt und die ehemaligen Minister um ihre Pensionen, – und Hilferding wird eine Studie über die geschichtliche Funktion des Generalstreiks schreiben.

Die „linke“ Wendung der sozialdemokratischen Führer verblüfft durch ihre Plumpheit und Falschheit. Das bedeutet aber keineswegs, das Manöver sei im voraus zum Scheitern verurteilt. Diese mit Verbrechen beladene Partei steht noch immer an der Spitze von Millionen. Von selbst wird sie nicht zu Fall kommen. Man muss sie zu stürzen verstehen.

Die Kommunistische Partei wird erklären, der Wels-Tarnow-Kurs auf den Sozialismus sei eine neue Form des Massenbetrugs, und das ist richtig. Sie wird die Geschichte der sozialdemokratischen „Sozialisierungen“ der letzten 54 Jahre erzählen. Das ist nützlich. Aber das genügt nicht: die Geschichte, auch die jüngste, kann nicht die aktive Politik ersetzen.

Die Frage des revolutionären oder reformistischen Weges zum Sozialismus versucht Tarnow auf die simple Frage des „Tempos“ der Umwandlungen zu reduzieren. Tiefer kann man als Theoretiker nicht sinken. Das Tempo der sozialistischen Umwandlungen hängt in Wirklichkeit ab vom Stand der Produktivkräfte des Landes, seiner Kultur, vom Ausmaß der ihm aufgezwungenen Unkosten für die Verteidigung usw. Aber sozialistische Umwandlungen, rasche wie langsame, sind nur dann möglich, wenn an der Spitze der Gesellschaft eine am Sozialismus interessierte Klasse und an der Spitze dieser Klasse eine Partei steht, die nicht imstande ist, die Ausgebeuteten zu betrügen, und die stets bereit ist, den Widerstand der Ausbeuter zu unterdrücken. Man muss den Arbeitern erklären, dass darin eben das Regime der Diktatur des Proletariats besteht.

Aber auch das genügt nicht. Man darf, geht es einmal um die brennenden Probleme des Weltproletariats, nicht – wie die Komintern es tut – die Tatsache der Existenz der Sowjetunion vergessen. Was Deutschland angeht, so liegt die Aufgabe heute nicht darin, zum ersten Mal einen sozialistischen Aufbau zu beginnen, sondern darin, Deutschlands Produktivkräfte, seine Kultur, sein technisches und organisatorisches Genie mit dem schon vor sich gehenden sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion zu verknüpfen.

Die deutsche Kommunistische Partei beschränkt sich auf die bloße Lobpreisung der Sowjetunion, wobei sie in dieser Beziehung grobe und gefährliche Übertreibungen begeht. Sie ist aber vollständig unfähig, den sozialistischen Aufbau in der UdSSR, seine gewaltigen Erfahrungen und wertvollen Errungenschaften mit den Aufgaben der proletarischen Revolution in Deutschland zu verbinden. Die stalinistische Bürokratie ist ihrerseits am allerwenigsten imstande, der deutschen Kommunistischen Partei in dieser höchst wichtigen Frage beizustehen – ihre Perspektiven sind auf ein einzelnes Land beschränkt.

Den zusammenhanglosen und feigen staatskapitalistischen Projekten der Sozialdemokratie muss man einen allgemeinen Plan zum gemeinsamen sozialistischen Aufbau der UdSSR und Deutschlands entgegenstellen. Niemand verlangt, sogleich einen detaillierten Plan auszuarbeiten. Es genügt ein erster Rohentwurf, Grundpfeiler sind notwendig. Dieser Plan muss so rasch wie möglich in allen Organisationen der deutschen Arbeiterklasse diskutiert werden, vor allem in den Gewerkschaftsverbänden.

Man muss zu diesen Diskussionen die fortschrittlichen Kräfte unter den deutschen Technikern, Statistikern und Volkswirtschaftlern heranziehen. Die in Deutschland so verbreiteten Auseinandersetzungen über Planwirtschaft, die die Ausweglosigkeit des deutschen Kapitalismus widerspiegeln, bleiben rein akademisch, bürokratisch, leblos und pedantisch. Die Kommunistische Partei allein kann die Diskussion dieser Frage aus dem Circulus vitiosus herausführen.

Der sozialistische Aufbau ist bereits im Gange – man muss eine Brücke über die Staatsgrenzen hinweg schlagen. Hier der erste Plan: studiert ihn, verbessert ihn, präzisiert ihn! Arbeiter, wählt besondere Plankommissionen, beauftragt sie, mit den Gewerkschaftsverbänden und Wirtschaftsorganen der Sowjets in Verbindung zu treten! Schafft auf der Basis der deutschen Gewerkschaften, der Betriebsräte und anderer Arbeiterorganisationen eine zentrale Plankommission, die mit dem Gosplan der UdSSR in Verbindung treten muss. Zieht zu dieser Arbeit deutsche Ingenieure, Organisatoren, Volkswirtschaftler heran!

Das ist die einzig richtige Art, an die Frage der Planwirtschaft heranzugehen – heute, im Jahre 1932, nach fünfzehn Jahren Sowjetmacht und vierzehnjährigen Konvulsionen der deutschen kapitalistischen Republik.

Nichts ist leichter als die sozialdemokratische Bürokratie zu verspotten, angefangen mit Wels, der ein Hohelied auf den Sozialismus angestimmt hat. Doch darf man nicht vergessen, dass die reformistischen Arbeiter die Frage des Sozialismus ganz ernst nehmen. Man muss sich den reformistischen Arbeitern gegenüber ernsthaft verhalten. Hier erhebt sich wiederum in vollem Umfang das Problem der Einheitsfront.

Stellt sich die Sozialdemokratie die Aufgabe (wir wissen, was davon zu halten ist!), nicht den Kapitalismus zu retten, sondern den Sozialismus zu bauen, so muss sie eine Verständigung, nicht mit dem Zentrum, sondern mit den Kommunisten suchen. Wird die Kommunistische Partei eine solche Verständigung ablehnen? Keineswegs. Sie wird vielmehr selbst eine Verständigung vorschlagen, sie vor den Massen als Einlösung des eben erst ausgestellten sozialistischen Wechsels fordern.

Der Angriff der Kommunistischen Partei auf die Sozialdemokratie muss gegenwärtig auf drei Linien vor sich gehen. Die Aufgabe, den Faschismus zu zertrümmern, behält ihre ganze Dringlichkeit. Die Entscheidungsschlacht des Proletariats mit dem Faschismus wird gleichzeitig den Zusammenstoß mit dem bonapartistischen Staatsapparat bedeuten. Das macht den Generalstreik zur unentbehrlichen Kampfwaffe. Man muss ihn vorbereiten. Man muss einen besonderen Generalstreikplan ausarbeiten, d.h. einen Plan der Kräftemobilisierung zu seiner Durchführung; von diesem Plan ausgehend eine Massenkampagne entwickeln; aufgrund dieser Kampagne der Sozialdemokratie ein Abkommen zur Durchführung des Generalstreiks unter bestimmten politischen Bedingungen vorschlagen. Auf jeder neuen Etappe wiederholt und konkretisiert, wird dieser Vorschlag in seiner Entwicklung zur Schaffung der Sowjets als höchsten Organen der Einheitsfront führen.

Dass Papens nunmehr Gesetz gewordener Wirtschaftsplan dem deutschen Proletariat nie dagewesenes Elend bringt, erkennen in Worten auch die Führer der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften an. In der Presse drücken sie sich so energisch aus, wie man es von ihnen schon lange nicht mehr zu hören bekommen hat. Zwischen ihren Worten und ihren Taten liegt ein Abgrund, wir wissen das, – man muss es aber verstehen, sie beim Wort zu nehmen. Man muss ein System von gemeinsamen Kampf Maßnahmen gegen das Regime der Notverordnungen und des Bonapartismus ausarbeiten. Dieser dem Proletariat durch die ganze Situation aufgezwungene Kampf lässt sich seinem Wesen nach nicht im Rahmen der Demokratie führen. Hitler hat eine Armee von 400.000 Mann, Papen-Schleicher neben der Reichswehr die halbprivate „Stahlhelm“-Armee von 200.000 Mann, die bürgerliche Demokratie die halbtolerierte Reichsbanner-Armee, die Kommunistische Partei die verbotene Rotfront-Armee – diese Situation zeigt, dass das Problem des Staates eine Machtfrage ist. Eine bessere revolutionäre Schule kann man sich nicht vorstellen!

Die Kommunistische Partei muss der Arbeiterklasse sagen: Durch Parlamentsspiel ist Schleicher nicht zu stürzen. Will die Sozialdemokratie darangehen, die bonapartistische Regierung mit anderen Mitteln zu stürzen, so ist die KPD bereit, der Sozialdemokratie aus ganzer Kraft zu helfen. Die Kommunisten verpflichten sich hierbei im voraus, gegen eine sozialdemokratische Regierung keinerlei Gewaltmittel anzuwenden, sofern sie sich auf die Mehrheit der Arbeiterklasse stützt und sofern sie der Kommunistischen Partei Agitations- und Organisationsfreiheit garantiert. Diese Art der Fragestellung wird jedem sozialdemokratischen und parteilosen Arbeiter verständlich sein.

Die dritte Linie schließlich ist der Kampf um den Sozialismus. Auch hier muss man das Eisen schmieden, solange es heiß ist, und die Sozialdemokratie durch einen konkreten Plan zur Zusammenarbeit mit der UdSSR an die Wand drücken. Das Notwendige darüber ist bereits oben gesagt.

Selbstverständlich sind diese Kampfbereiche, die in der strategischen Gesamtperspektive von verschiedener Bedeutung sind, voneinander nicht zu trennen, sondern gehen ineinander über. Die politische Krise der Gesellschaft erheischt die Verbindung der Teilfragen mit den Gesamtfragen, darin eben liegt das Wesen der revolutionären Situation.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008