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In kritischen Augenblicken, wenn Entscheidungen von größter Tragweite getroffen werden müssen, hat sich die Taktik zu bewähren. Die Stärke des Bolschewismus beruhte darauf, dass seine Losungen und Methoden sich als völlig richtig erwiesen, wenn die Ereignisse kühne Entscheidungen forderten. Was sind Grundsätze wert, von denen man sich lossagen muss, sobald es ernst wird?
Die realistische Politik stützt sich auf die natürliche Entwicklung des Klassenkampfes. Die Sektiererpolitik versucht, ihm künstliche Regeln vorzuschreiben. Die revolutionäre Situation bedeutet höchste Zuspitzung des Klassenkampfes. Gerade deshalb übt die realistische Politik des Marxismus in der revolutionären Situation eine mächtige Anziehungskraft auf die Massen aus. Umgekehrt wird die Sektiererpolitik um so schwächer, je machtvoller die Dynamik der Ereignisse ist. Die von der Bewegung der Pariser Kommune überraschten Blanquisten und Proudhonisten taten das Gegenteil dessen, was sie immer gepredigt hatten. Die Anarchisten sahen sich während der russischen Revolution immer gezwungen, die Sowjets als Machtorgane anzuerkennen. Und so weiter, und so weiter.
Die Komintern stützt sich auf Massen, die in der Vergangenheit für den Marxismus gewonnen und durch die Autorität der Oktoberrevolution zusammengeschweißt wurden. Aber die Politik der gegenwärtig führenden Stalin-Fraktion versucht, den Klassenkampf zu kommandieren, statt ihm politischen Ausdruck zu verleihen. Das ist das Wesen des Bürokratismus, und darin trifft er sich mit dem Sektierertum, von dem er sich durch andere Züge klar unterscheidet. Dank dem starken Apparat, den materiellen Mitteln des Sowjetstaates und der Autorität der Oktoberrevolution vermag es die stalinistische Bürokratie, der proletarischen Avantgarde in verhältnismäßig ruhigen Zeiten künstliche Verhaltensmaximen aufzuzwingen. Aber in dem Maße, wie sich der Klassenkampf zum Bürgerkrieg verdichtet, geraten die bürokratischen Vorschriften immer häufiger mit der unerbittlichen Wirklichkeit in Konflikt. Vor scharfen Wendungen der Entwicklung gerät die hochmütige und aufgeblasene Bürokratie leicht aus dem Konzept. Kann sie nicht kommandieren, so kapituliert sie. Die Politik des Thälmannschen Zentralkomitees in den letzten Monaten wird einst als ein Beispiel erbärmlichster und schmählichster Konfusion studiert werden.
Seit der „dritten Periode“ galt es als unumstößlich, dass von Abkommen mit der Sozialdemokratie nicht die Rede sein könne. Es sei nicht nur unzulässig, selbst die Initiative zur Einheitsfront zu ergreifen, wie der III. und IV. Weltkongress gelehrt hatte, sondern man müsse auch jeden von der Sozialdemokratie ausgehenden Vorschlag für gemeinsame Aktionen zurückweisen. Die reformistischen Führer seien „genügend entlarvt“. Die vergangene Erfahrung sei ausreichend. Statt Politik zu machen, müsse man die Massen Geschichte lehren. Sich mit Vorschlägen an die Reformisten zu wenden, hieße zugeben, sie seien fähig zu kämpfen. Das allein schon wäre Sozialfaschismus usw. So tönte in den letzten drei bis vier Jahren die ohrenbetäubende Melodie des ultralinken Leierkastens. Und siehe da: Im preußischen Landtag schlug die kommunistische Fraktion am 22. Juni, unerwartet für alle und für sich selbst, ein Abkommen mit der Sozialdemokratie und sogar mit dem Zentrum vor. Das Gleiche wiederholte sich in Hessen. Angesichts der Gefahr, das Landtagspräsidium könnte in die Hände der Nazis geraten, gingen alle geheiligten Grundsätze zum Teufel. Ist das nicht erstaunlich? Und ist das nicht erniedrigend?
Diesen Salto mortale zu erklären ist aber nicht schwer. Bekanntlich witzeln viele oberflächliche Liberale und Radikale ihr Leben lang über Religion und himmlische Mächte, um angesichts des Todes oder schwerer Krankheit den Geistlichen herbeizurufen. So auch in der Politik. Das Mark des Zentrismus ist der Opportunismus. Unter dem Einfluss äußerer Umstände (Tradition, Druck der Massen, politische Konkurrenz) ist der Zentrismus in bestimmten Phasen gezwungen, mit Radikalismus Staat zu machen. Dazu muss er sich selbst überwinden, seine politische Natur vergewaltigen. Indem er sich mit aller Kraft anspornt, gerät er nicht selten an die äußerste Grenze des formalen Radikalismus. Kaum aber schlägt die Stunde ernster Gefahr, kommt die wahre Natur des Zentrismus zum Vorschein. In einer so entscheidenden Frage wie der Verteidigung der Sowjetunion verließ sich die stalinistische Bürokratie immer sehr viel mehr auf die bürgerlichen Pazifisten, englischen Gewerkschaftsbürokraten und französischen Radikalen als auf die revolutionäre Bewegung des Proletariats. Kaum rückte eine äußere Gefahr heran, so opferten die Stalinisten unverzüglich nicht nur ihre ultralinken Phrasen, sondern auch die Lebensinteressen der internationalen Revolution – im Namen der Freundschaft mit unsicheren und falschen „Freunden“ aus der Gattung der Advokaten, Schriftsteller und einfachen Salonhelden. Einheitsfront von oben? Auf keinen Fall! Gleichzeitig aber angelt der Oberkommissar für zweideutige Angelegenheiten, Münzenberg, nach den Rockschößen von allerhand liberalen Schwätzern und radikalen Schmierfinken „für die Verteidigung der UdSSR“.
Die stalinistische Bürokratie Deutschlands wie aller übrigen Länder – ausgenommen der UdSSR – ist äußerst unzufrieden mit der kompromittierenden Leitung der Angelegenheiten des Antikriegskongresses durch Barbusse. Auf diesem Gebiet würden Thälmann, Foster u.a. es vorziehen, radikal zu sein. Doch in den eigenen nationalen Angelegenheiten verfährt jeder von ihnen nach dem gleichen Muster wie die Moskauer Behörde: beim Nahen einer ernsten Gefahr werfen sie den aufgeblasenen, verfälschten Radikalismus ab und zeigen ihre wahre, opportunistische Natur.
War die Initiative der kommunistischen Landtagsfraktion an sich falsch und unzulässig? Wir glauben das nicht. Die Bolschewiki haben im Jahre i917 den Menschewiki und Sozialrevolutionären wiederholt vorgeschlagen: „Übernehmt die Macht, wir werden euch gegen die Bourgeoisie unterstützen, wenn sie Widerstand leisten sollte.“ Kompromisse sind zulässig, unter gewissen Bedingungen – Pflicht. Es kommt darauf an, welchem Ziel der Kompromiss dienen soll, wie er sich den Massen darstellt, welches seine Grenzen sind. Den Kompromiss auf den Landtag oder den Reichstag zu beschränken, ein selbständiges Ziel darin zu sehen, dass ein Sozialdemokrat oder ein katholischer Demokrat anstelle eines Faschisten Präsident wird, heißt, gänzlich in parlamentarischen Kretinismus zu verfallen. Völlig anders ist die Lage, wenn die Partei sich den systematischen und planmäßigen Kampf um die sozialdemokratischen Arbeiter auf Grundlage der Einheitsfrontpolitik zur Aufgabe macht. Ein parlamentarisches Abkommen gegen die Eroberung der Präsidentschaft durch die Faschisten wäre in diesem Falle nur ein Bestandteil des außerparlamentarischen Kampfabkommens gegen den Faschismus. Selbstverständlich würde die Kommunistische Partei es vorziehen, die ganze Frage auf einen Schlag außerparlamentarisch zu lösen. Vorziehen allein genügt aber nicht, wo es an Kräften fehlt. Die sozialdemokratischen Arbeiter haben ihren Glauben an die magische Kraft der 31. Juli-Abstimmung bewiesen. Von dieser Tatsache muss man ausgehen. Die früheren Fehler der Kommunistischen Partei (Preußischer Volksentscheid usw.) haben den reformistischen Führern die Sabotage der Einheitsfront außerordentlich erleichtert. Ein technisches Parlamentsabkommen – oder sogar nur der Vorschlag zu einem solchen Abkommen – muss helfen, die Kommunistische Partei von der Anklage zu befreien, dass sie mit den Faschisten gegen die Sozialdemokratie zusammenarbeite. Das ist keine selbständige Aktion, sondern soll lediglich den Weg bahnen zu einem Kampfabkommen oder wenigstens für den Kampf um ein Kampfabkommen der Massenorganisationen.
Der Unterschied der beiden Linien ist völlig klar. Der gemeinsame Kampf mit den sozialdemokratischen Organisationen kann und muss bei seiner Entfaltung revolutionären Charakter annehmen. Die Möglichkeit der Annäherung an die sozialdemokratischen Massen kann und muss man unter bestimmten Umständen sogar mit parlamentarischen Spitzen-Abkommen bezahlen. Aber für einen Bolschewik ist das eben nur Eintrittsgeld. Die stalinistische Bürokratie handelt umgekehrt: sie lehnt nicht nur Kampfabkommen ab, sondern zerschlägt, was schlimmer ist, böswillig jene Vereinbarungen, die von unten entstehen. Gleichzeitig schlägt sie den sozialdemokratischen Abgeordneten ein parlamentarisches Bündnis vor! Das bedeutet, dass sie in der Minute der Gefahr ihre eigene ultralinke Theorie und Praxis für untauglich erklärt, sie aber nicht durch die Politik des revolutionären Marxismus ersetzt, sondern durch ein prinzipienloses parlamentarisches Bündnis im Geiste des „kleineren Übels“.
Man wird uns wohl sagen, bei der preußischen und hessischen Episode habe es sich um Fehler der Abgeordneten gehandelt, die das Zentralkomitee wieder gutgemacht habe. Erstens aber durfte eine so wichtige prinzipielle Entscheidung nicht ohne das Zentralkomitee getroffen werden – also fällt auch der Fehler vollständig auf das ZK zurück; zweitens: wie ist es zu erklären, dass die „stahlharte“, „folgerichtige“, „bolschewistische“ Politik nach Monaten des Lärmens und Kreischens, der Polemik, der Beschimpfungen und der Ausschlüsse im kritischen Augenblick flugs einem opportunistischen „Fehler“ Platz macht?
Aber die Sache beschränkt sich nicht auf den Landtag. Thälmann-Remmele haben sich in einer viel bedeutenderen und kritischeren Frage schlechterdings von sich selbst und der eigenen Schule losgesagt. Am Abend des 20. Juli fasste das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei folgenden Beschluss:
„Die Kommunistische Partei richtet vor der proletarischen Öffentlichkeit an die SPD, an den ADGB und an den Afa-Bund die Frage, ob sie bereit sind, gemeinsam mit der Kommunistischen Partei den Generalstreik für die proletarischen Forderungen durchzuführen.“
Diesen so wichtigen und unerwarteten Beschluss veröffentlichte das Zentralkomitee in seinem Rundschreiben vom 26. Juli ohne jeglichen Kommentar. Kann man ein vernichtenderes Urteil über seine gesamte bisherige Politik fällen? Noch tags zuvor war es für sozialfaschistisch und konterrevolutionär erklärt worden, sich mit dem Vorschlag gemeinsamer Aktionen an die reformistische Führung zu wenden. Wegen dieser Frage hatte man Kommunisten ausgeschlossen, auf dieser Grundlage den Kampf gegen den „Trotzkismus“ geführt. Wie konnte dieses Zentralkomitee am Abend des 20. Juli mit einem Male das anbeten, was es tags zuvor verbrannt hatte? Und in welch traurige Lage hat die Bürokratie die Partei gebracht, wenn es das Zentralkomitee wagen durfte, mit seinem überraschenden Beschluss vor sie hinzutreten, ohne sich zu erklären oder zu rechtfertigen!
Solche Wendepunkte sind der Prüfstein einer Politik. Faktisch hat das Zentralkomitee der deutschen Kommunistischen Partei am Abend des 20. Juli der ganzen Welt dargetan: „Unsere bisherige Politik war untauglich.“ Ein zwar unfreiwilliges, aber völlig richtiges Geständnis. Zum Unglück konnte auch der Antrag vom 20. Juli, der die vorangegangene Politik umstieß, auf gar keinen Fall ein positives Ergebnis haben. Ein Appell an die Führungsspitzen kann – ganz unabhängig von ihrer heutigen Antwort – nur dann revolutionäre Bedeutung haben, wenn er zuvor unten vorbereitet wurde, d.h. wenn er sich auf die allgemeine Politik stützt. Doch die stalinistische Bürokratie sagt den sozialdemokratischen Arbeitern tagaus tagein: „Wir Kommunisten lehnen mit den SPD-Führern jede Gemeinschaft ab“ (siehe Thälmanns „Antwort ...“). Der unvorbereitete, unerwartete, unmotivierte Antrag vom 20. Juli war nur dazu geeignet, die kommunistische Leitung bloßzustellen, indem er ihre Inkonsequenz, ihren Leichtsinn, ihre Neigung zur Panik und zu abenteuerlichen Sprüngen deutlich machte.
Die Politik der zentristischen Bürokratie hilft auf Schritt und Tritt den Gegnern und Feinden. Selbst wenn der machtvolle Druck der Ereignisse einige neue Hunderttausende von Arbeitern unter das kommunistische Banner treibt, geschieht das trotz der Stalin-Thälmann-Politik. Gerade deshalb ist die Partei ihres morgigen Tages nicht sicher.
Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008