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Jede wirkliche Analyse der politischen Lage muss von den Beziehungen zwischen drei Klassen ausgehen: Bourgeoisie, Kleinbürgertum (samt Bauernschaft) und Proletariat.
Die wirtschaftlich mächtige Großbourgeoisie stellt an sich eine verschwindende Minderheit der Nation dar. Um ihre Herrschaft zu befestigen, muss sie bestimmte Beziehungen zum Kleinbürgertum sichern und – durch dessen Vermittlung – mit dem Proletariat.
Zum Verständnis der Dialektik dieser Verhältnisse muss man drei historische Etappen unterscheiden: den Anfang der kapitalistischen Entwicklung, als die Bourgeoisie zur Lösung ihrer Aufgaben revolutionäre Methoden benötigte; die Blüte- und Reifeperiode des kapitalistischen Regimes, wo die Bourgeoisie ihrer Herrschaft geordnete, friedliche, konservative, demokratische Formen verlieh; endlich den Niedergang des Kapitalismus, wo die Bourgeoisie gezwungen ist, zu Bürgerkriegsmethoden gegen das Proletariat zu greifen, um ihr Recht auf Ausbeutung zu wahren.
Die diese drei Etappen charakterisierenden politischen Programme: Jakobinertum, reformistische Demokratie (darunter auch: Sozialdemokratie) und Faschismus sind ihrem Wesen nach Programme kleinbürgerlicher Strömungen. Schon das beweist, welch große, richtiger, welch entscheidende Bedeutung die politische Selbstbestimmung der kleinbürgerlichen Volksmassen für das Schicksal der gesamten bürgerlichen Gesellschaft besitzt!
Aber die Wechselbeziehungen zwischen der Bourgeoisie und ihrer grundlegenden sozialen Stütze, dem Kleinbürgertum, beruhen keineswegs auf gegenseitigem Vertrauen und friedlicher Zusammenarbeit. In seiner Masse ist das Kleinbürgertum eine ausgebeutete und benachteiligte Klasse. Es steht der Großbourgeoisie mit Neid und oft mit Hass gegenüber. Die Bourgeoisie ihrerseits misstraut dem Kleinbürgertum, während sie sich seiner Unterstützung bedient, denn sie fürchtet ganz zu Recht, es sei stets geneigt, die ihm von oben gesetzten Schranken zu überschreiten.
Während die Jakobiner der bürgerlichen Entwicklung den Weg bahnten, gerieten sie bei jedem Schritt in heftige Zusammenstöße mit der Bourgeoisie. Sie dienten ihr in unversöhnlichem Kampfe gegen sie. Nachdem sie ihre begrenzte historische Rolle erfüllt hatten, wurden die Jakobiner gestürzt, denn die Herrschaft des Kapitals war vorherbestimmt.
Über mehrere Etappen hin festigte die Bourgeoisie ihre Macht unter der Form der parlamentarischen Demokratie. Wiederum weder friedlich noch freiwillig. Die Bourgeoisie hatte tödliche Furcht vor dem allgemeinen Wahlrecht. Letzten Endes aber gelang es ihr, sich durch eine Kombination von Gewaltmaßnahmen und Zugeständnissen, von Hungerpeitsche und Reformen, im Rahmen der formalen Demokratie nicht nur das alte Kleinbürgertum unterzuordnen, sondern in bedeutendem Maße auch das Proletariat, mit Hilfe des neuen Kleinbürgertums – der Arbeiterbürokratie. Im August 1914 war die imperialistische Bourgeoisie imstande, mittels der parlamentarischen Demokratie Dutzende von Millionen Arbeiter und Bauern in den Krieg zu führen.
Aber gerade mit dem Krieg beginnt der deutliche Niedergang des Kapitalismus, vor allem seiner demokratischen Herrschaftsform. Jetzt geht es schon nicht mehr um neue Reformen und Almosen, sondern um Schmälerung und Wegnahme der alten. Die politische Herrschaft der Bourgeoisie gerät damit in Widerspruch nicht nur zu den Einrichtungen der proletarischen Demokratie (Gewerkschaften und politische Parteien), sondern auch zur parlamentarischen Demokratie, in deren Rahmen die Arbeiterorganisationen entstanden sind. Daher der Feldzug gegen den „Marxismus“ einerseits, gegen den demokratischen Parlamentarismus andererseits.
Wie aber die Spitzen der liberalen Bourgeoisie seinerzeit außerstande waren, aus eigener Kraft mit Monarchie, Feudalität und Kirche fertig zu werden, so sind die Magnaten des Finanzkapitals außerstande, aus eigener Kraft mit dem Proletariat fertig zu werden. Sie brauchen die Hilfe des Kleinbürgertums. Zu diesem Zweck muss es aufgepeitscht, auf die Beine gebracht, mobilisiert und bewaffnet werden. Doch diese Methode ist gefährlich. Während die Bourgeoisie sich des Faschismus bedient, fürchtet sie ihn. Pilsudski war im Mai 1926 gezwungen, die bürgerliche Gesellschaft durch einen gegen die herkömmlichen Parteien der polnischen Bourgeoisie gerichteten Staatsstreich zu retten. Es kam so weit, dass der offizielle Führer der polnischen Kommunistischen Partei, Warski, der von Rosa Luxemburg nicht zu Lenin, sondern zu Stalin übergegangen war, Pilsudskis Umsturz für den Weg zur „revolutionär-demokratischen Diktatur“ hielt und die Arbeiter zur Unterstützung Pilsudskis aufrief.
In der Sitzung der polnischen Kommission des Exekutivkomitees der Komintern am 2. Juli 1926 sagte der Verfasser dieser Zeilen anlässlich der Ereignisse in Polen:
„In seiner Gesamtheit gesehen ist Pilsudskis Umsturz die kleinbürgerliche, ‚plebejische‘ Art der Lösung der unaufschiebbaren Aufgaben der in Zersetzung und Niedergang befindlichen bürgerlichen Gesellschaft. Hier besteht bereits eine direkte Annäherung an den italienischen Faschismus.
Beide Strömungen haben unzweifelhaft gemeinsame Züge: ihre Stoßtruppen rekrutieren sich vor allem aus dem Kleinbürgertum; Pilsudski wie Mussolini arbeiteten mit außerparlamentarischen, offen gewalttätigen Mitteln, mit den Methoden des Bürgerkrieges; beide waren nicht um den Sturz, sondern um die Rettung der bürgerlichen Gesellschaft bemüht. Während sie das Kleinbürgertum auf die Beine gebracht hatten, vereinigten sie sich nach der Machteroberung offen mit der Großbourgeoisie. Hier drängt sich unwillkürlich eine historische Generalisierung auf, wenn man sich der von Marx gegebenen Einschätzung des Jakobinertums als der plebejischen Abrechnung mit den feudalen Feinden der Bourgeoisie erinnert ... Das war in der Aufstiegsepoche der Bourgeoisie. Jetzt muss man sagen, dass in der Niedergangsepoche der bürgerlichen Gesellschaft die Bourgeoisie abermals einer ‚plebejischen‘ Lösung ihrer nun nicht mehr progressiven, sondern durch und durch reaktionären Aufgaben bedarf. In diesem Sinne ist der Faschismus eine reaktionäre Karikatur auf das Jakobinertum ...
Die untergehende Bourgeoisie ist unfähig, sich mit den Methoden und Mitteln des von ihr selbst geschaffenen parlamentarischen Staates an der Macht zu halten. Sie braucht den Faschismus als Waffe der Selbstverteidigung, zumindest in den kritischsten Augenblicken. Doch die Bourgeoisie liebt die ‚plebejische‘ Lösung ihrer Aufgaben nicht. Sie blieb dem Jakobinertum gegenüber, das den Entwicklungsweg der bürgerlichen Gesellschaft mit Blut gesäubert hatte, durchweg feindlich. Die Faschisten sind der Verfallsbourgeoisie unermesslich näher als die Jakobiner der aufsteigenden. Doch die solide Bourgeoisie sieht auch die faschistische Lösung ihrer Aufgaben ungern, denn die Erschütterungen, die das mit sich bringt, sind für sie, obwohl sie im Interesse der bürgerlichen Gesellschaft liegen, mit Gefahren verbunden. Daher der Gegensatz zwischen dem Faschismus und den herkömmlichen bürgerlichen Parteien ...
Die Großbourgeoisie liebt den Faschismus ebenso wenig wie ein Mensch mit kranken Kiefern das Zahnziehen. Die besseren Kreise der bürgerlichen Gesellschaft verfolgten mit Widerwillen das Werk des Zahnarztes Pilsudski, letzten Endes aber fügten sie sich in das Unvermeidliche, wenn auch mit Drohungen, mit Handeln und Feilschen. So verwandelt sich der gestrige Abgott des Kleinbürgertums in den Gendarmen des Kapitals.“
Diesem Versuch, die historische Funktion des Faschismus als die politische Ablösung der Sozialdemokratie zu kennzeichnen, wurde die Theorie vom „Sozialfaschismus“ gegenübergestellt. Anfangs konnte sie als anmaßende, marktschreierische, aber harmlose Dummheit erscheinen. Die weiteren Ereignisse haben gezeigt, welchen verderblichen Einfluss die Stalinsche Theorie auf die gesamte Entwicklung der Komintern ausübte. 1*
Ergibt sich aus der historischen Rolle von Jakobinertum, Demokratie und Faschismus, dass das Kleinbürgertum verdammt ist, bis ans Ende seiner Tage ein Werkzeug in den Händen des Kapitals zu bleiben? Stünden die Dinge so, so wäre die Diktatur des Proletariats in einer Reihe von Ländern, wo das Kleinbürgertum die Mehrheit der Nation bildet, ausgeschlossen und in anderen Ländern, wo das Kleinbürgertum eine bedeutende Minderheit darstellt, äußerst erschwert. Zum Glück stehen die Dinge nicht so. Schon die Erfahrung der Pariser Kommune hat zumindest in den Grenzen einer Stadt, wie nach ihr die Erfahrung der Oktoberrevolution in unvergleichlich größerem räumlichen und zeitlichen Maßstab gezeigt, dass das Bündnis von Groß- und Kleinbourgeoisie nicht unauflöslich ist. Ist das Kleinbürgertum unfähig zu selbständiger Politik (weshalb sich insbesondere auch die kleinbürgerliche „demokratische Diktatur“ nicht verwirklichen lässt), so bleibt ihm nur die Wahl zwischen Bourgeoisie und Proletariat.
In der Epoche von Aufstieg, Wachstum und Blüte des Kapitalismus ging das Kleinbürgertum trotz heftiger Ausbrüche von Unzufriedenheit im großen und ganzen gehorsam im kapitalistischen Gespann. Es blieb ihm auch nichts anderes übrig. Unter den Bedingungen der kapitalistischen Fäulnis und wirtschaftlichen Ausweglosigkeit aber versucht die Kleinbourgeoisie, sich den Fesseln der alten Herren und Meister der Gesellschaft zu entwinden. Sie ist durchaus fähig, ihr Schicksal mit dem des Proletariats zu verknüpfen. Hierzu ist nur eines erforderlich: Das Kleinbürgertum muss die Überzeugung gewinnen, dass das Proletariat fähig ist, die Gesellschaft auf einen neuen Weg zu führen. Ihm diesen Glauben einzuflößen, vermag das Proletariat nur durch seine Kraft, durch die Sicherheit seiner Handlungen, durch geschickten Angriff auf die Feinde, durch die Erfolge seiner revolutionären Politik.
Doch wehe, wenn die revolutionäre Partei sich als unfähig erweist! Der tägliche Kampf des Proletariats verschärft die Unbeständigkeit der bürgerlichen Gesellschaft. Streiks und politische Unruhen verschlechtern die Wirtschaftslage des Landes. Das Kleinbürgertum wäre bereit, sich vorübergehend mit den wachsenden Entbehrungen abzufinden, wenn es durch die Erfahrung zur Überzeugung käme, dass das Proletariat imstande ist, es auf einen neuen Weg zu führen. Erweist sich aber die revolutionäre Partei trotz des ununterbrochen zunehmenden Klassenkampfs immer wieder von neuem als unfähig, die Arbeiterklasse um sich zu scharen, schwankt sie, ist sie verwirrt, widerspricht sie sich selbst, dann verliert das Kleinbürgertum die Geduld und beginnt in den revolutionären Arbeitern die Urheber seines eigenen Elends zu sehen. In diese Richtung drängen es alle bürgerlichen Parteien, darunter auch die Sozialdemokratie. Wird nun die soziale Krise unerträglich, so tritt eine besondere Partei auf, deren direktes Ziel es ist, das Kleinbürgertum bis zur Weißglut zu bringen und seinen Hass und seine Verzweiflung gegen das Proletariat zu richten. Diese historische Funktion erfüllt in Deutschland der Nationalsozialismus, eine breite Strömung, deren Ideologie sich aus allen Verwesungsgerüchen der verfallenden bürgerlichen Gesellschaft zusammensetzt.
Die politische Hauptverantwortung für das Wachstum des Faschismus liegt selbstverständlich bei der Sozialdemokratie. Seit dem imperialistischen Krieg läuft die Arbeit dieser Partei darauf hinaus, die Idee einer selbständigen Politik im Bewusstsein des Proletariats auszulöschen, ihm den Glauben an die Ewigkeit des Kapitalismus einzuflößen und es Mal um Mal vor der verfallenden Bourgeoisie auf die Knie zu zwingen. Das Kleinbürgertum kann dem Arbeiter folgen, wenn es in ihm den neuen Herrn erblickt. Die Sozialdemokratie lehrt den Arbeiter, Lakai zu sein. Einem Lakaien wird das Kleinbürgertum nicht folgen. Die Politik des Reformismus nimmt dem Proletariat die Möglichkeit, die plebejischen Massen des Kleinbürgertums zu führen, und verwandelt sie dadurch schon in Kanonenfutter für den Faschismus.
Politisch ist aber für uns die Frage nicht damit erledigt, dass die Sozialdemokratie die Verantwortung hat. Seit Kriegsbeginn haben wir diese Partei für eine Agentur der imperialistischen Bourgeoisie im Proletariat erklärt. Aus dieser Neuorientierung der revolutionären Marxisten erwuchs die Dritte Internationale, deren Aufgabe darin bestand, das Proletariat unter dem Banner der Revolution zu vereinigen und ihm dadurch die Möglichkeit des führenden Einflusses auf die unterdrückten Massen des Kleinbürgertums in Stadt und Land zu sichern.
Die Nachkriegsperiode war in Deutschland mehr als in anderen Ländern eine Zeit der wirtschaftlichen Ausweglosigkeit und des Bürgerkriegs. Internationale wie innere Bedingungen stießen das Land gebieterisch auf den Weg des Sozialismus. Jeder Schritt der Sozialdemokratie machte ihre Verkommenheit und Ohnmacht, das reaktionäre Wesen ihrer Politik, die Käuflichkeit ihrer Führer offenbar. Welche Bedingungen waren denn sonst noch nötig für die Entfaltung der Kommunistischen Partei? Doch der deutsche Kommunismus trat nach den ersten Jahren bedeutender Erfolge in eine Ära der Schwankungen, der Zickzacks, des Wechsels von Opportunismus und Abenteurertum ein. Die zentristische Bürokratie hat die proletarische Vorhut systematisch geschwächt und sie gehindert, die Klasse zu führen. Damit hat sie dem Proletariat als Ganzem die Möglichkeit geraubt, die unterdrückten Massen des Kleinbürgertums hinter sich herzuführen. In den Augen der proletarischen Avantgarde trägt die stalinistische Bürokratie die direkte und unmittelbare Verantwortung für das Wachstum des Faschismus.
1*. Während sie die oben zitierte Rede vor der Partei und der Komintern versteckte, unternahm die stalinistische Presse einen ihrer üblichen Feldzüge dagegen. Manuilski schrieb, ich hätte gewagt, die Faschisten den Jakobinern „gleichzusetzen“, die doch unsere revolutionären Vorfahren seien. Das letztere ist mehr oder weniger richtig. Leider haben diese Vorfahren nicht wenige Nachkommen, die unfähig sind, von ihrem Kopf Gebrauch zu machen. Einen Nachhall dieses alten Streits kann man auch in den neuesten Erzeugnissen Münzenbergs gegen den Trotzkismus finden. Aber lassen wir das beiseite.
Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008