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Unmittelbare Ursachen der Revolutionsereignisse sind Veränderungen im Bewußtsein der kämpfenden Klassen. Die materiellen Beziehungen der Gesellschaft bestimmen nur das Flußbett dieser Prozesse. Ihrer Natur nach besitzen die Veränderungen des Kollektivbewußtseins einen halb unterirdischen Charakter; erst wenn sie eine bestimmte Spannungskraft erreicht haben, drängen die neuen Stimmungen und Gedanken an die Oberfläche als Massenaktionen, die ein neues, wenn auch sehr unbeständiges gesellschaftliches Gleichgewicht herstellen. Der Gang der Revolution entblößt an jeder neuen Etappe das Machtproblem, um es sogleich wieder zu verschleiern – bis zu einer neuen Entblößung. Genauso ist auch der Mechanismus der Konterrevolution, mit dem Unterschiede, daß hier der Film in umgekehrter Richtung abrollt.
Was in den Regierungs- und Sowjetspitzen geschieht, bleibt keinesfalls ohne Bedeutung für den Gang der Ereignisse. Doch den wirklichen Sinn einer politischen Partei begreifen und die Manöver der Führer dechiffrieren kann man nur in Verbindung mit der Aufdeckung der tiefen Molekularprozesse im Bewußtsein der Massen. Im Juli hatten die Arbeiter und Soldaten eine Niederlage erlitten, aber schon im Oktober eroberten sie in unüberwindlichem Ansturm die Macht. Was hat sich in diesen vier Monaten in ihren Köpfen abgespielt? Wie haben sie die Schläge, die auf sie von oben niederprasselten, empfunden? Mit welchen Gedanken und Gefühlen begegneten sie dem offenen Machteroberungsversuch der Bourgeoisie? Der Leser wird zu der Juliniederlage zurückkehren müssen. Man muß häufig zurückweichen, um besseren Anlauf zu haben. Und der Oktobersprung steht bevor.
In der offiziellen Sowjethistoriographie hat sich die zur gewissen Schablone erstarrte Meinung herausgebildet, als sei der Julivorstoß gegen die Partei – Repressalien in Verbindung mit der Verleumdung – fast spurlos an den Arbeiterorganisationen vorbeigegangen. Das ist ganz falsch. Allerdings währte die Niedergeschlagenheit in den Reihen der Partei und das Abfluten der Arbeiter und Soldaten aus ihr nicht lange, nur einige Wochen. Die Wiederauferstehung erfolgte so schnell und vor allem so stürmisch, daß sie allein schon die Erinnerung an die Tage des Druckes und der Niedergeschlagenheit halb verwischte: ein Sieg zeigt überhaupt die Niederlagen, die ihn vorbereiteten, in anderem Lichte. Doch je mehr Protokolle lokaler Parteiorganisationen veröffentlicht werden, desto krasser tritt das Juliabflauen der Revolution hervor, das in jenen Tagen um so schmerzlicher empfunden wurde, je dauerhafter der Charakter des vorangegangenen Aufstieges gewesen war.
Jede Niederlage – Ergebnis eines bestimmten Kräfteverhältnisses – verändert ihrerseits dieses Verhältnis zuungunsten der besiegten Partei, denn beim Sieger steigt das Selbstvertrauen, bei dem Besiegten aber sinkt der Glaube an sich. Indes bildet diese oder jene Einschätzung der eigenen Kraft ein äußerst wichtiges Element des objektiven Kräfteverhältnisses. Unmittelbar hatten eine Niederlage die Arbeiter und Soldaten Petrograds erlitten, die bei ihrem Vordringen einerseits auf das Unklare und Widerspruchsvolle ihres eigenen Zieles, andererseits auf die Rückständigkeit der Provinz und der Front gestoßen waren. In der Hauptstadt zeigten sich deshalb die Folgen der Niederlage zuallererst und am schärfsten. Ganz falsch jedoch sind die in der gleichen offiziellen Literatur so häufigen Behauptungen, als sei für die Provinz die Juliniederlage fast unbemerkt geblieben. Das ist theoretisch unwahrscheinlich und wird durch das Zeugnis der Tatsachen und Dokumente widerlegt. War die Rede von großen Frage, wandte jedesmal das ganze Land unwillkürlich den Kopf in die Richtung Petrograds. Die Niederlage der Arbeiter und Soldaten in der Hauptstadt mußte gerade auf die fortgeschrittensten Schichten der Provinz ungeheuren Eindruck machen. Schrecken, Enttäuschung, Apathie durchströmten verschiedene Teile des Landes auf verschiedene Art, waren aber allerorts zu beobachten.
Der Abstieg der Revolution kündigte sich zuallererst im starken Nachlassen des Widerstandes der Massen gegen die Feinde an. Während die nach Petrograd gebrachten Truppen offizielle Entwaffnungsexekutionen gegen Soldaten und Arbeiter vornahmen, verübten unter ihrer Deckung halbfreiwillige Banden straflos Überfälle auf Arbeiterorganisationen. Nach der Zertrümmerung der Redaktion der Prawda und der Druckerei der Bolschewiki wurde das Gewerkschaftshaus der Metallarbeiter verwüstet. Die nächsten Schläge richten sich gegen die Bezirkssowjets. Auch die Versöhnler bleiben nicht verschont: am 10. ist eine Institution jener Partei einem Überfall ausgesetzt, an deren Spitze Innenminister Zeretelli steht. Dan hatte keine geringe Selbstentäußerung nötig, um anläßlich der eingetroffenen Truppen zu schreiben: „Statt des Unterganges der Revolution sind wir jetzt Zeugen ihres neuen Triumphes.“ Der Triumph ging so weit, daß nach den Worten des Menschewiken Pruschitzki, Straßenpassanten, sahen sie Arbeitern ähnlich und wurden sie des Bolschewismus verdächtigt, Gefahr drohte, grausam mißhandelt zu werden. Welch unfehlbares Symptom einer schroffen Wandlung der Gesamtsituation!
Das Mitglied des Petrograder bolschewistischen Komitees, Lazis, in der Folge bekannter Mitarbeiter der „Tscheka“, vermerkte in seinem Tagebuch: „9. Juli. In der Stadt sind alle unsere Druckereien zerstört. Niemand wagt, unsere Zeitungen und Flugblätter zu drucken. Wir nehmen Zuflucht zur Installierung einer illegalen Druckerei. Der Wyborger Bezirk ist ein Asyl für alle geworden. Hierher sind das Petrograder Komitee und die verfolgten Mitglieder des Zentralkomitees übergesiedelt. Im Wächterhäuschen der Renoschen Fabrik finden Beratungen des Komitees mit Lenin statt. Es geht um die Frage des Generalstreiks. Bei uns im Komitee sind die Stimmen geteilt. Ich war für den Aufruf zum Streik. Lenin, nachdem er die Lage beleuchtet hatte, schlug vor, darauf zu verzichten ... 12. Juli. Die Konterrevolution siegt. Die Sowjets sind machtlos. Die losgelassenen Junker gehen bereits auch gegen die Menschewiki vor. In einem Teil der Partei herrscht Unsicherheit. Der Zustrom von Mitgliedern hat aufgehört Doch eine Flucht aus unseren Reihen gibt es noch nicht.“ Nach den Julitagen „herrschte in den Petrograder Betrieben starker sozialrevolutionärer Einfluß“, schreibt der Arbeiter Sissko. Die Isolierung der Bolschewiki steigerte automatisch Gewicht und Selbstbewußtsein der Versöhnler. Am 16. Juli berichtet in der bolschewistischen Stadtkonferenz der Delegierte des Wassilijostrower Bezirkes, die Stimmung dort sei mit Ausnahme einiger Betriebe „im allgemeinen“ gut. „Im Baltischen Werk schlagen uns die Sozialrevolutionäre und Menschewiki.“ Hier war es sehr weit gekommen: das Betriebskomitee verfügte, daß die Bolschewiki an der Beerdigung der getöteten Kosaken teilzunehmen hätten, was sie auch taten ... Der offizielle Mitgliederabgang der Partei ist allerdings nicht groß: im ganzen Bezirk traten von den viertausend Mitgliedern etwa hundert offen aus. Bedeutend größer war die Zahl derer, die in den ersten Tagen schweigend beiseitetraten. „Die Julitage“, erinnerte sich später der Arbeiter Minitschew, „bewiesen, daß in unseren Reihen Menschen waren, die aus Angst um ihre Haut die Parteimitgliedskarte „verschluckten“ und der Partei abschworen. Doch solcher gab es nicht viele ...“ fügt er beruhigend hinzu. „Die Juliereignisse“, schreibt Schljapnikow, „und die gesamte mit ihnen verbundene Kampagne der Gewaltakte und Verleumdung gegen unsere Organisationen haben das Wachsen unseres Einflusses, der Anfang Juli riesige Kraft erreicht hatte, unterbrochen ... Unsere Partei war halblegal und führte einen Verteidigungskampf, gestützt hauptsächlich auf Gewerkschaften und Fabrikkomitees.“
Die Beschuldigung gegen die Bolschewiki, in Deutschlands Dienst zu sein, konnte sogar auf die Petrograder Arbeiter, mindestens auf einen großen Teil, nicht ohne Eindruck bleiben. Wer schwankend war, prallte zurück. Wer daran war, sich anzuschließen, wurde schwankend. Sogar von jenen, die sich bereits angeschlossen hatten, gingen nicht wenige weg. An der Julidemonstration hatten neben den Bolschewiki breiten Anteil auch Arbeiter genommen, die den Sozialrevolutionären und Menschewiki angehörten. Nach dem Schlage sprangen sie als erste unter ihr Parteibanner zurück: jetzt schien es ihnen, sie hätten tatsächlich mit der Disziplinverletzung einen Fehler begangen. Eine breite Schicht parteiloser Arbeiter und Parteimitläufer rückte ebenfalls ab unter dem Eindruck der offiziell verkündeten und juristisch aufgemachten Verleumdung.
In dieser veränderten politischen Atmosphäre übten die Schläge der Repressalien doppelte Wirkung aus. Olga Rawitsch, eine der alten und aktiven Parteiarbeiterinnen, Mitglied des Petrograder Komitees, sagte später in ihrem Bericht: „Die Julitage hatten die Organisation derart zerschlagen, daß von irgendeiner Arbeit in den folgenden drei Weichen nicht die Rede sein konnte.“ Rawitsch meint damit hauptsächlich die offene Parteiarbeit. Längere Zeit konnte man die Herausgabe der Parteizeitung nicht bewerkstelligen: es fand sich keine Druckerei, die für die Bolschewiki arbeiten wollte. Nicht immer ging dabei der Widerstand von den Besitzern aus: in einer Druckerei drohten die Arbeiter mit Streik, falls die bolschewistische Zeitung gedruckt würde, und so mußte der Besitzer von dein bereits abgeschlossenen Vertrag zurücktreten. Eine Zeitlang wurde Petrograd mit der Kronstädter Zeitung versorgt.
Als äußerster linker Flügel in der offenen Arena erwies sich in diesen Tagen die Gruppe der Menschewiki-Internationalisten. Die Arbeiter besuchten gern die Vorträge Martows, in dem während der Rückzugsperiode der Instinkt des Kämpfers erwachte, als es hieß, nicht für die Revolution neue Wege zu bahnen, sondern für die Reste ihrer Eroberungen zu kämpfen. Martows Mut war der Mut des Pessimismus. „Hinter der Revolution“, sagte er in einer Sitzung des Exekutivkomitees, „ist wohl ein Punkt gestellt ... Wenn es schon so weit gekommen ist ... daß ... für die Stimme der Bauernschaft und der Arbeiter in der russischen Revolution kein Raum bleibt, dann wollen wir ehrlich von der Bühne abtreten und diese Herausforderung nicht unter schweigendem Verzicht hinnehmen, sondern in ehrlichem Kampfe.“ Mit ehrlichem Kampfe von der Bühne abzutreten, schlug Martow jenen seiner Parteigenossen vor, die, wie Dan und Zeretelli, den Sieg der Generale und Kosaken über die Arbeiter und Soldaten als einen Sieg der Revolution über die Anarchie einschätzten. Auf dem Hintergrunde der entfesselten Hetze gegen die Bolschewiki und der niedrigen Kriecherei der Versöhnler vor den Kosakenstreifen ließ Martows Haltung während jener schweren Wochen ihn hoch in den Augen der Arbeiter steigen.
Besonders vernichtend traf die Julikrise die Petrograder Garnison. Die Soldaten blieben politisch weit hinter den Arbeitern zurück. Die Soldatensektion des Sowjets war noch immer die Stütze der Versöhnler, während die Arbeitersektion bereits mit den Bolschewiki ging. Dem widersprach die Tatsache nicht, daß die Soldaten besondere Bereitschaft zeigten, mit den Waffen zu klirren. Bei Demonstrationen spielten sie eine aggressivere Rolle als die Arbeiter, aber unter den Schlägen prallten sie weit zurück. Die Welle der Feindseligkeit gegen die Bolschewiki schlug in der Petrograder Garnison sehr hoch empor. „Nach der Niederlage“, erzählt der ehemalige Soldat Mitrewitsch, „gehe ich nicht zu meiner Kompanie, denn man könnte dort erschlagen werden, solange der Sturm nicht vorüber ist.“ Gerade in den revolutionärsten Regimentern, die während der Julitage in den vordersten Reihen gegangen und deshalb unter die wütendsten Schläge geraten waren, sank der Einfluß der Partei derart, daß dort die Wiederherstellung der Organisation auch nach drei Monaten nicht möglich war: unter dem allzu starken Stoß zerbröckelten diese Truppenteile gleichsam moralisch. „Nach der Juliniederlage“, schreibt der ebengenannte Minitschew, „blickten nicht nur Genossen, die zur Spitze unserer Partei zählten, sondern auch einige Bezirkskomitees nicht mit großer Freundlichkeit auf die militärische Organisation.“
In Kronstadt verlor die Partei zweihundertfünfzig Mitglieder. Die Stimmung in der Garnison der bolschewistischen Festung war sehr gesunken. Die Reaktion ergriff auch Helsingfors. Awksentjew, Bunakow, der Advokat Sokolow trafen ein, um die bolschewistischen Schiffe zur Reue zu bewegen. Einiges konnten sie erreichen. Durch Verhaftung führender Bolschewiki, Ausnutzung der offiziellen Verleumdung und Drohungen gelang es, eine Loyalitätserklärung zu erhalten, sogar seitens des bolschewistischen Panzerkreuzers Petropawlowsk. Die Forderung, die Anstifter auszuliefern, wurde jedoch von sämtlichen Schiffen abgelehnt.
Nicht viel anders verlief die Sache in Moskau. „Die Hetze der bürgerlichen Presse“, schreibt Pjatnitzki, „wirkte sogar auf einige Mitglieder des Moskauer Komitees panisch.“ Die Organisation wurde nach den Julitagen zahlenmäßig schwächer. „Niemals werde ich“, schreibt der Moskauer Arbeiter Ratechin, „einen mörderisch schweren Augenblick vergessen. Es versammelt sich das Plenum (des Samoskworezker Bezirkssowjets) ... Ich sehe mich um, unserer bolschewistischen Genossen sind nur wenige ... Steklow, einer der energischen Genossen, kommt dicht an mich heran und fragt, die Worte kaum hervorbringend: ist es wahr, daß man Lenin und Sinowjew im plombierten Wagen gebracht hat, ist es wahr, daß sie für deutsches Geld ... ? Das Herz erstarrt vor Schmerz, während ich diese Fragen höre. Ein anderer Genosse kommt hinzu, Konstantinow: Wo ist Lenin? Man sagt, er sei weggeflogen ... Was wird jetzt werden? und so weiter.“ Diese lebendige Szene führt uns lückenlos in die damaligen Erlebnisse der fortgeschrittenen Arbeiter ein. „Das Erscheinen der von Alexinski veröffentlichten Dokumente“, schreibt der Moskauer Artillerist Dawydowski, „rief furchtbare Verwirrung in der Brigade hervor. Sogar unsere Batterie, die bolschewistischste, geriet unter dem Vorstoß der niederträchtigen Lüge ebenfalls ins Schwanken ... Es schien, als hätten wir jedes Vertrauen verloren.“
„Nach den Julitagen“, schreibt W. Jakowlewa, die damals Mitglied des Zentralkomitees war und die Arbeit des umfangreichen Moskauer Distriktes leitete, „betonten alle Berichte aus der Provinz einstimmig nicht nur das schroffe Sinken der Stimmung in den Massen, sondern sogar eine gewisse Feindseligkeit bei ihnen für unsere Partei. Häufig kam es vor, daß unsere Redner verprügelt wurden. Die Mitgliederzahl nahm stark ab, einige Organisationen, hauptsächlich in den südlichen Gouvernements, hörten überhaupt zu existieren auf.“ Gegen Mitte August fanden noch keine merklichen Veränderungen statt. Es geht eine Arbeit unter den Massen um die Erhaltung des Einflusses, ein Wachsen der Organisation ist nicht wahrzunehmen. In den Gouvernements Rjasan und Tambow gelingt es nicht, neue Verbindungen anzuknüpfen, es entstehen keine bolschewistischen Zellen, im allgemeinen bleiben sie das Reich der Sozialrevolutionäre und Menschewiki.
Jewreinow, der im proletarischen Kineschma arbeitete, erinnert sich, welch schwere Situation nach den Julitagen entstand, als in einer starkbeschickten Beratung sämtlicher öffentlicher Organisationen die Frage nach dem Ausschluß der Bolschewiki aus dem Sowjet gestellt wurde. Der Abgang aus der Partei nahm mitunter solche Dimensionen an, daß die Organisation erst nach einer neuen Mitgliederregistrierung ein reguläres Leben beginnen konnte. In Tula erlitt die Organisation dank der vorangegangenen ernsten Auslese der Arbeiter keinen Verlust an Mitgliedern, doch nahm ihre Verbundenheit mit den Massen ab. In Nischnij Nowgorod trat nach der unter Leitung des Obersten Werschowski und des Menschewiken Chintschuk vorgenommenen Exekutionskampagne ein schroffer Niedergang ein: bei den Wahlen zur Stadtduma vermochte die Partei nur vier Deputierte durchzubringen. In Kaluga rechnete die bolschewistische Fraktion mit der Möglichkeit ihres Ausschlusses aus dem Sowjet. An einigen Punkten des Moskauer Distrikts waren die Bolschewiki gezwungen, nicht nur aus den Sowjets auszuscheiden, sondern auch aus den Gewerkschaften.
In Saratow, wo die Bolschewiki mit den Versöhnlern sehr friedliche Beziehungen unterhielten und noch Ende Juni sich angeschickt hatten, bei den Wahlen zur Stadtduma gemeinsame Listen aufzustellen, waren die Soldaten nach dem Julisturm derart gegen die Bolschewiki aufgehetzt, daß sie in Wahlversammlungen eindrangen, die bolschewistischen Flugblätter den Händen entrissen und die Agitatoren verprügelten. „Es wurde uns schwer“, schreibt Lebedjew, „in Wahlversammlungen aufzutreten. Häufig schrie man uns entgegen: deutsche Spione, Provokateure!“ In den Reihen der Saratower Bolschewiki fanden sich nicht wenig Kleinmütige: „Viele erklärten ihren Austritt, andere versteckten sich.“
In Kiew, das von jeher den Ruhm eines Schwarzhundertzentrums genoß, nahm die Hetze gegen die Bolschewiki einen besonders zügellosen Charakter an und griff bald auch auf die Menschewiki und Sozialrevolutionäre über. Der Niedergang der revolutionären Bewegung war hier besonders stark zu verspüren: bei den Wahlen zur Stadtduma erhielten die Bolschewiki insgesamt nur sechs Prozent der Stimmen. In der Stadtkonferenz klagten die Berichterstatter, daß „überall sich Apathie und Untätigkeit bemerkbar machen“. Das Parteiblatt war gezwungen, vom täglichen zum wöchentlichen Erscheinen überzugehen.
Auflösungen und Versetzungen revolutionärer Regimenter mußten an sich nicht nur das politische Niveau der Garnisonen hinabdrücken, sondern auch entmutigend auf die Arbeiter im Orte wirken, die sich sicherer fühlten, wenn hinter ihnen befreundete Truppenteile standen. So veränderte die Entfernung des 57. Regimentes aus Twer schroff die politische Situation, sowohl bei den Soldaten wie bei den Arbeitern: sogar in den Gewerkschaften wurde der Einfluß der Bolschewiki gering. In noch stärkerem Maße zeigte sich dies in Tiflis, wo die Menschewiki Hand in Hand mit dem Stab die bolschewistischen Truppenteile durch vollkommen farblose Regimenter ersetzten.
An einigen Punkten nahm die politische Reaktion, je nach Zusammensetzung der Garnison, Niveau der Arbeiter und anderen zufälligen Gründen, einen paradoxen Ausdruck an. In Jaroslawl zum Beispiel wurden im Juli die Bolschewiki aus dem Arbeitersowjet fast restlos verdrängt, während sie in den Sowjets der Soldatendeputierten dominierenden Einfluß behielten. An einzelnen Stellen hinterließen die Juliereignisse tatsächlich fast keine Spuren und hielten das Anwachsen der Partei nicht auf. Soweit man beurteilen kann, war dies in den Fällen zu verzeichnen, wo der allgemeine Rückzug zusammentraf mit dem Eintreten neuer rückständiger Schichten in die revolutionäre Arena. So konnte man in einigen Textilbezirken im Juli einen bedeutenden Zustrom von Arbeiterinnen zu den Organisationen beobachten. Doch das Gesamtbild des Rückflutens wird davon nicht berührt.
Die nicht wegzuleugnende sogar übertriebene Schärfe des Reagierens auf die Teilniederlage war eine Art Tribut der Arbeiter und besonders der Soldaten für ihren allzu leichten, allzu schnellen, allzu unaufhaltsamen Zustrom zu den Bolschewiki in den vorangegangenen Monaten. Die schroffe Wendung der Massenstimmungen vollzog eine automatische und dabei unfehlbare Auslese in den Parteikadern. Auf jene, die in diesen Tagen nicht schwankend geworden waren, konnte man sich auch fernerhin verlassen. Sie bildeten den Kern in Werkstätten, Betrieben, Bezirken. Am Vorabend des Oktobers blickten die Organisatoren bei Ernennungen und Aufträgen mehr als einmal um sich, daran zurückdenkend, wie sich ein jeder in den Julitagen gehalten hatte.
An der Front, wo alle Beziehungen unverhüllter sind, nahm die Julireaktion besonders erbitterten Charakter an. Das Hauptquartier benutzte die Ereignisse vor allein zur Schaffung besonderer Truppenteile der „Pflicht vor der freien Heimat“. Bei den Regimentern wurden eigene Stoßkommandos organisiert. „Ich habe die Stoßtruppler wiederholt gesehen“, erzählt Denikin „sie waren stets nachdenklich düster. In den Regimentern stand man zu ihnen zurückhaltend oder sogar feindselig.“ Nicht ohne Grund sahen die Soldaten in den „Truppenteilen der Pflicht“ Zellen einer Prätorianergarde. „Die Reaktion zögerte nicht“, berichtet über die rückständige rumänische Front der Sozialrevolutionär Degtjarjew, der sich später den Bolschewiki anschloß. „Viele Soldaten wurden als Deserteure verhaftet. Die Offiziere erhoben den Kopf und begannen die Armeekomitees zu mißachten, hie und da versuchten die Offiziere sogar zur Ehrenbezeigung zurückzukehren.“ Die Kommissare betrieben die Säuberung der Armee. „Fast jede Division“, schreibt Stankewitsch, „hatte ihren Bolschewik, mit einem Namen, der bei der Armee bekannter war als der Name des Divisionschefs ... Allmählich entfernten wir eine Berühmtheit nach der anderen.“ Gleichzeitig wurden an der ganzen Front Entwaffnungen ungehorsamer Truppenteile vorgenommen. Kommandeure und Kommissare stützten sich dabei auf Kosaken und die den Soldaten verhaßten Sonderkommandos.
An dem Tage, als Riga fiel, beschloß eine Konferenz von Kommissaren der Nordfront und Vertretern von Armeeorganisationen die Notwendigkeit einer systematischeren Anwendung strenger Repressalien. Es kamen Fälle von Erschießungen vor wegen Verbrüderung mit den Deutschen. Viele Kommissare, erhitzt durch wirre Bilder aus der Französischen Revolution, versuchten die eiserne Hand zu zeigen. Sie begriffen nicht, daß die jakobinischen Kommissare sich auf die unteren Schichten stützten, Aristokraten und Bourgeois nicht schonten und daß nur die Autorität der plebejischen Unnachsichtigkeit ihnen das Anpflanzen strenger Disziplin in der Armee erlaubte. Kerenskis Kommissare hatten keine Volksstütze unter sich, keine sittliche Aureole über ihrem Haupt. Sie waren in den Augen der Soldaten Agenten der Bourgeoisie, Antreiber der Entente und nichts mehr. Sie vermochten für eine Weile die Armee einzuschüchtern dies gelang ihnen bis zu einem gewissen Grade tatsächlich –, doch sie zu neuem Leben zu erwecken, waren sie zu ohnmächtig.
Im Büro des Exekutivkomitees in Petrograd berichtete man Anfang August, daß in der Stimmung der Armee eine günstige Wendung eingetreten sei. Exerzierübungen fänden statt; andererseits aber sei das Steigen der Rechtlosigkeit, der Willkür, des Druckes zu beobachten. Besondere Schärfe gewann die Offiziersfrage: „Sie sind völlig isoliert und bilden eigene, abgeschlossene Organisationen.“ Auch andere Angaben bestätigen, daß äußerlich an der Front größere Ordnung eingetreten war, die Soldaten hatten aufgehört, kleinlicher und zufälliger Anlässe wegen zu meutern. Aber um so konzentrierter wurde ihre Unzufriedenheit mit der Gesamtlage. Aus der vorsichtigen und diplomatischen Rede des Menschewiken Kutschin in der Staatsberatung klang hinter beruhigenden Noten besorgte Warnung. „Zweifellos ist eine Wendung, zweifellos eine Beruhigung vorhanden, aber, Bürger, vorhanden ist auch etwas anderes, vorhanden ist das Gefühl irgendeiner Enttäuschung, und dieses Gefühl macht uns ebenfalls außerordentliche Sorge ...“ Der vorübergehende Sieg über die Bolschewiki war vor allem ein Sieg über die neuen Hoffnungen der Soldaten, über ihren Glauben an eine bessere Zukunft. Die Massen wurden vorsichtiger, die Disziplin nahm gleichsam zu. Aber zwischen den Regierenden und den Soldaten vertiefte sich der Abgrund. Wen und was wird er morgen verschlingen?
Die Julireaktion zieht gewissermaßen den endgültigen Trennungsstrich zwischen Februar- und Oktoberrevolution. Arbeiter, Hinterlandgarnisonen, Front und teilweise sogar, wie sich später zeigen wird, Bauern wichen aus, prallten zurück, wie von einem Schlag auf die Brust getroffen. Der Schlag hatte in Wirklichkeit mehr einen psychischen als einen physischen Charakter, doch machte das ihn nicht weniger wirksam. In den ersten vier Monaten hatten alle Massenprozesse nur die eine Richtung gehabt: nach links. Der Bolschewismus wuchs, erstarkte, wurde kühner. Nun aber stieß die Bewegung auf eine Schwelle. Tatsächlich zeigte sich, daß die Wege der Februarrevolution nicht weiterführten. Vielen schien es, die Revolution habe sich überhaupt erschöpft. In Wirklichkeit hatte sich nur die Februarrevolution bis zur Neige erschöpft. Diese innere Krise des Massenbewußtseins in Verbindung mit Repression und Verleumdung führte zu Verwirrung und Rückzügen, manchmal panischer Art. Die Gegner wurden kühner. In den Massen selbst kam alles Rückständige, Träge, mit den Erschütterungen und Entbehrungen Unzufriedene nach oben. Diese rückflutenden Wellen im Strome der Revolution zeigen unüberwindliche Kraft: es scheint, als unterstehen sie Gesetzen sozialer Hydrodynamik. Eine solche Gegenwelle mit der Brust zu überwinden ist unmöglich, – es bleibt nur übrig, ihr standzuhalten, sich nicht wegspülen zu lassen, standzuhalten, bis die Reaktionswelle sich erschöpft hat, und gleichzeitig Stützpunkte für eine neue Offensive vorzubereiten.
Betrachtete man die einzelnen Regimenter, die am 3. Juli unter bolschewistischen Plakaten gegangen waren und eine Woche später strenge Strafen gegen die Agenten des Kaisers forderten, dann schien es, die gebildeten Skeptiker könnten einen Sieg feiern: Das sind eure Massen, das ist ihre Beständigkeit und ihr Begriffsvermögen! Doch dies ist ein billiger Skeptizismus. Würden die Massen tatsächlich ihre Gefühle und Gedanken unter dein Einfluß zufälliger Umstände wechseln, unerklärlich wäre die gewaltige Gesetzmäßigkeit, die die Entwicklung großer Revolutionen charakterisiert. Je tiefer die Volksmillionen erfaßt werden, um so planmäßiger die Entwicklung der Revolution, mit um so größerer Sicherheit kann man die Kontinuität der weiteren Etappen voraussagen. Man darf dabei nur nicht vergessen, daß die politische Entwicklung der Massen nicht in einer Geraden, sondern in einer komplizierten Kurve verläuft: ist doch dies im wesentlichen die Bahn aller materiellen Prozesse. Die objektiven Bedingungen stießen Arbeiter, Soldaten und Bauern gebieterisch unter das Banner der Bolschewiki. Doch beschritten die Massen diesen Weg im Kampfe mit ihrer eigenen Vergangenheit, mit ihrem gestrigen und teilweise auch noch heutigen Glauben. An schweren Wendepunkten, in Augenblicken von Mißerfolg und Enttäuschung, schwimmen die alten, noch nicht verkohlten Vorurteile an die Oberfläche, und die Gegner greifen naturgemäß danach wie nach einem Rettungsanker. Alles, was an den Bolschewiki unklar, ungewohnt, rätselhaft war – Neuheit der Gedanken, Vermessenheit, Verleugnung aller alten und neuen Autoritäten –, all das fand nun plötzlich eine einfache, sogar in ihrem Unsinn noch überzeugende Deutung: deutsche Spione! Die gegen die Bolschewiki erhobene Beschuldigung war im Grunde der Einsatz auf die sklavische Vergangenheit des Volkes, auf das Erbe der Finsternis, Barbarei, des Aberglaubens, – und dieser Einsatz war kein leerer. Die große patriotische Lüge blieb während der Monate Juli und August ein politischer Faktor ersten Grades und bildete die Begleitung zu allen Tagesfragen. Die Kreise der Verleumdung verbreiteten sich im Lande zusammen mit der Kadettenpresse, erfaßten Provinz und Randgebiete, drangen in die entlegensten Winkel. Ende Juli forderte die Iwanowo-Wosnessensker Organisation der Bolschewiki immer noch die Eröffnung einer energischeren Kampagne gegen die Hetze! Die Frage nach dem spezifischen Gewicht der Verleumdung im politischen Kampfe der zivilisierten Gesellschaft harrt noch ihres Soziologen.
Und doch war die Reaktion bei den Arbeitern und Soldaten, eine nervöse und stürmische, weder tief noch von Dauer. Die fortgeschrittenen Betriebe Petrograds begannen schon in den ersten Tagen nach der Niederschlagung sich zu erholen, sie protestierten gegen Verhaftungen und Verleumdung, rüttelten an den Türen des Exekutivkomitees, stellten Verbindungen wieder her. In dem Sestrorezker Waffenwerk, das eine Erstürmung und Entwaffnung erlitten hatte, nahmen die Arbeiter bald wieder das Steuer in ihre Hände: eine allgemeine Versammlung am 20. Juli beschloß, den Arbeitern die Demonstrationstage zu bezahlen, um den Betrag restlos auf Literatur für die Front zu verwenden. Die offene Agitationsarbeit der Bolschewiki in Petrograd wird, nach dem Zeugnis von Olga Rawitsch, um den 20. Juli herum wieder aufgenommen. In den Versammlungen, die von nicht mehr als zwei- bis dreihundert Menschen besucht werden, sprechen in verschiedenen Stadtteilen drei Personen: Slutzki, später in der Krim von Weißen ermordet, Wolodarski, ermordet von Sozialrevolutionären in Petrograd, und Jewdokimow, ein Petrograder Metallarbeiter, einer der hervorragendsten Redner der Revolution. Im August nimmt die Agitationstätigkeit der Partei breitere Ausmaße an. Nach einer Aufzeichnung Raskolnikows gab der am 23. Juli verhaftete Trotzki im Gefängnis folgendes Bild von der Lage in der Stadt: „Menschewiki und Sozialrevolutionäre ... setzen die wütende Hetze gegen die Bolschewiki fort. Verhaftungen unserer Genossen dauern an. Jedoch in den Kreisen der Partei herrscht keine Niedergeschlagenheit. Im Gegenteil, alle blicken hoffnungsvoll in die Zukunft und sind der Ansicht, die Repressalien könnten die Popularität der Partei nur stärken. Auch in den Arbeitervierteln ist keine Entmutigung wahrzunehmen.“ In der Tat, sehr bald nahm eine Arbeiterversammlung von siebenundzwanzig Betrieben des Peterhofer Bezirks eine Protestresolution an gegen die unverantwortliche Regierung und deren konterrevolutionäre Politik Die proletarischen Bezirke lebten auf.
Während man oben, im Winterpalais und im Taurischen Palais, eine neue Koalition zimmerte, sich einigte, trennte und wieder zusammenkleisterte, vollzog sich in den gleichen Tagen und sogar Stunden, vom 21.-22. Juli, in Petrograd ein höchst bedeutsames, in der offiziellen Welt kaum beachtetes Ereignis, das aber die Festigung einer anderen, solideren Koalition anzeigte: die der Petrograder Arbeiter mit den Soldaten der aktiven Armee. In die Hauptstadt kamen Frontdelegierte mit Protesten ihrer Truppenteile gegen die Erdrosselung der Revolution an der Front. Etliche Tage klopften sie vergebens an die Türe des Exekutivkomitees. Man ließ sie nicht vor, wies sie ab, versuchte sie loszuwerden. Unterdessen trafen neue Delegierte ein und machten den gleichen Weg durch. Die Abgewiesenen stießen in Korridoren und Wartezimmern aufeinander, beklagten sich, schimpften und suchten gemeinsam einen Ausweg. Dabei halfen ihnen die Bolschewiki. Die Delegierten beschlossen, ihre Gedanken auszutauschen mit den hauptstädtischen Arbeitern, Soldaten, Matrosen, die sie mit offenen Armen empfingen, ihnen Unterkunft und Verpflegung besorgten. An der Beratung, die niemand von oben einberufen hatte, die von unten erwachsen war, beteiligten sich Vertreter von neunundzwanzig Frontregimentern, neunzig Petrograder Betrieben, von Kronstädter Seeleuten und den umliegenden Garnisonen. Im Zentrum der Beratung standen die Delegierten der Schützengräben, unter ihnen waren auch einige jüngere Offiziere. Die Petrograder Arbeiter hörten mit Gier den Frontlern zu, bemüht, kein Wort davon zu verlieren. Diese erzählten, wie die Offensive und deren Folgen die Revolution auffraßen. Graue Soldaten, nicht im mindesten Agitatoren, schilderten in ungekünstelten Reden den Alltag des Frontdaseins. Diese Details wirkten erschütternd, denn sie zeigten anschaulich, wie sich das Alte, Vorrevolutionäre, Verhaßte wieder einschlich. Der Kontrast zwischen gestrigen Hoffnungen und heutiger Wirklichkeit traf die Herzen und stimmte sie auf einen Ton. Wenn auch bei den Frontsoldaten allem Anschein nach Sozialrevolutionäre überwogen, wurde eine scharfe bolschewistische Resolution fast einstimmig angenommen: nur vier Mann enthielten sich der Abstimmung. Die angenommene Resolution wird kein toter Buchstabe bleiben: zurückgekehrt, werden die Delegierten die Wahrheit erzählen, wie sie von den Versöhnlerführern zurückgestoßen und wie sie von den Arbeitern aufgenommen wurden, – den eigenen Berichterstattern werden die Schützengräben Glauben schenken, sie betrügen nicht.
In der Petrograder Garnison selbst zeigte sich der Beginn der Wendung am Ende des Monats, besonders nach dem Meeting mit den Frontvertretern. Zwar konnten sich die Regimenter, die am schwersten gelitten hatten, von der Apathie noch immer nicht erholen. Dafür aber stieg in jenen Regimentern, die die patriotischen Positionen am längsten gehalten und die Disziplin über die ersten Revolutionsmonate hinweg bewahrt hatten, der Einfluß der Partei zusehends. Es begann auch die Militärische Organisation sich zu erholen, die besonders grausam unter den Schlägen gelitten hatte. Wie stets nach Niederlagen, sah man in Parteikreisen wenig wohlwollend auf die Leiter der militärischen Arbeit und stellte ihnen die wirklichen wie die vermeintlichen Fehler und Übersteigerungen in Rechnung. Das Zentralkomitee zog die Militärische Organisation näher an sich heran, errichtete über sie durch Swerdlow und Dserschinski eine unmittelbarere Kontrolle, und die Arbeit kam wieder in Fluß, langsamer als früher, aber zuverlässiger.
Ende Juli war die frühere Lage der Bolschewiki in den Petrograder Betrieben bereits wieder hergestellt: die Arbeiter schlossen sich unter dem gleichen Banner zusammen, doch waren es nun andere Arbeiter, reifere, das heißt vorsichtigere, aber auch entschlossenere. „In den Betrieben genießen wir einen kolossalen, uneingeschränkten Einfluß“, berichtete Wolodarski am 27. Juli auf dem Parteitag der Bolschewiki. „Die Parteiarbeit wird hauptsächlich von den Arbeitern selbst geleistet ... Die Organisation ist von unten erwachsen, und wir haben deshalb allen Grund zu glauben, daß sie nicht auseinanderfallen wird.“ Der Jugendverband zählte zu jener Zeit annähernd fünfzigtausend Mitglieder und geriet immer mehr unter bolschewistischen Einfluß. Am 7. August nahm die Arbeitersektion des Sowjets eine Resolution über Abschaffung der Todesstrafe an. Zum Zeichen des Protestes gegen die Staatsberatung überwiesen die Putilowarbeiter einen Tageslohn der Arbeiterpresse. In der Konferenz der Fabrikkomitees wird einstimmig eine Resolution angenommen, die die Moskauer Beratung als „den Versuch einer Organisierung der konterrevolutionären Kräfte“ kennzeichnet
Auch Kronstadt heilte seine Wunden. Am 20. Juli fordert ein Meeting auf dem Ankerplatz Übergabe der Macht an die Sowjets, Abtransport der Kosaken wie der Gendarmen und Schutzleute an die Front, Abschaffung der Todesstrafe, Zulassung der Kronstädter Delegierten nach Zarskoje Selo, um sich davon zu überzeugen, ob Nikolaus II. hinreichend streng gehalten werde, Auflösung des Todesbataillons, Konfiszierung der bürgerlichen Zeitungen, und so weiter. Zur gleichen Zeit befahl der neue Admiral Tyrkow, nach Übernahme des Festungskommandos, die roten Fahnen von den Kriegsschiffen einzuziehen und die die Andreasfahne zu hissen. Offiziere und ein Teil der Soldaten legten die Achselstücke wieder an. Die Kronstädter protestierten. Eine Regierungskommission zur Untersuchung der Ereignisse des 3. bis 5. Juli mußte unverrichteter Sache aus Kronstadt nach Petrograd zurückkehren: sie war mit Pfiffen, Protestrufen und sogar Drohungen empfangen worden.
Ein Ruck vollzog sich in der gesamten Flotte. „Ende Juli und Anfang August“, schreibt einer der finnländischen Führer, Saleschski, „spürte man klar, daß es der Reaktion nicht nur nicht gelungen war, Helsingfors’ revolutionäre Kräfte zu brechen, sondern – im Gegenteil – es zeigte sich hier ein scharfer Ruck nach links und ein weitgehendes Anwachsen der Sympathien für die Bolschewiki.“ Die Matrosen waren in hohem Maße die Inspiratoren der Julidemonstration gewesen, ohne und zum Teil gegen die Partei, die sie der Lauheit und fast des Versöhnlertums verdächtigten. Die Erfahrung des bewaffneten Hervortretens hatte ihnen gezeigt, daß die Frage der Macht nicht so einfach zu lösen ist. Die halbanarchistischen Stimmungen machten Platz dem Vertrauen zur Partei. Höchst interessant in dieser Hinsicht ist der Bericht eines Helsingforser Delegierten von Ende Juli: „Auf den kleinen Schiffen überwiegt der Einfluß der Sozialrevolutionäre, auf den größeren Kampfschiffen, Kreuzern und Panzerkreuzern sind alle Matrosen Bolschewiki oder Sympathisierende. Ähnlich war (auch früher) die Stimmung der Matrosen auf dem Petropawlowsk und der Republik, und nach dem 3.-5. Juli sind auch Gangut, Sewastopol, Rjurik, Andrej Perwoswany, Diana, Gromoboj und Indien zu uns übergegangen. Somit befindet sich in unseren Händen eine gewaltige Kampfmacht ... Die Ereignisse des 3-5. Juli haben die Matrosen vieles gelehrt, indem sie ihnen zeigten, daß zur Erreichung des Zieles Stimmung allein nicht genügt.“
Hinter Petrograd zurückbleibend, geht Moskau den gleichen Weg. „Allmählich verflüchtigt sich die Betäubung“, erzählt der Artillerist Dawydowski, „die Soldatenmasse kommt zu sich, und wir gehen auf der ganzen Front wieder zum Angriff über. Die Lüge, die eine Weile die Linksentwicklung der Massen aufhielt, hat danach den Zustrom zu uns nur verstärkt.“ Unter den Schlägen festigte sich stärker die Freundschaft der Betriebe mit den Kasernen. Der Moskauer Arbeiter Strelkow erzählt von den engen Beziehungen, die sich allmählich zwischen der Fabrik Michelson und einem benachbarten Regiment entwickelten. Die Arbeiter- und Soldatenkomitees entschieden häufig gemeinsam über praktische Fragen im Leben der Fabrik und des Regiments. Die Arbeiter veranstalteten für die Soldaten kulturelle Bildungsabende, kauften für sie bolschewistische Zeitungen, kamen ihnen überhaupt auf jede Weise zu Hilfe. „Läßt man einen ins Gewehr treten“, erzählt Strelkow, „kommen sie sofort zu uns gelaufen, sich zu beklagen ... Wird bei einem Straßenmeeting ein Michelsonarbeiter irgendwie gekränkt, braucht es nur ein Soldat zu erfahren, und ganze Gruppen eilen zu Hilfe. Und Kränkungen gab es damals in Hülle und Fülle, man hetzte mit dem deutschen Gold, mit Verrat und der ganzen versöhnlerischen niederträchtigen Lüge.“
Die Moskauer Konferenz der Fabrikkomitees Ende Juli begann in gemäßigten Tönen, rückte aber während der acht Tage ihrer Arbeit stark nach links und nahm am Schluß eine offenkundig von Bolschewismus gefärbte Resolution an. In jenen Tagen berichtete der Moskauer Delegierte Podbielski auf dem Parteitag: „Sechs Bezirkssowjets von zehn befinden sich in unseren Händen ... Bei der gegenwärtigen organisierten Hetze rettet uns nur die Arbeitermasse, die standhaft den Bolschewismus stützt.“ Anfang August kommen bei den Wahlen in den Moskauer Betrieben an Stelle der Menschewiki und Sozialrevolutionäre bereits Bolschewiki durch. Das Wachsen des Parteieinflusses zeigte sich stürmisch im Generalstreik am Vorabend der Beratung. Die offiziellen Moskauer Iswestja schrieben: „Es ist endlich an der Zeit zu begreifen, daß die Bolschewiki keine unverantwortlichen Gruppen sind, sondern eine der Abteilungen der organisierten revolutionären Demokratie, hinter der breite Massen stehen, vielleicht nicht immer disziplinierte, dafür aber rückhaltlos der Revolution ergebene.“
Die Julischwächung der Positionen des Proletariats machte den Industriellen Mut. Der Kongreß der dreizehn wichtigsten Unternehmerorganisationen, darunter auch der Banken, schuf ein Komitee zum Schutze der Industrie, das die Leitung der Aussperrungen wie überhaupt der gesamten Offensivpolitik gegen die Revolution übernahm. Die Arbeiter antworteten mit Widerstand. Das ganze Land durchrollte eine Welle größerer Streiks und anderer Zusammenstöße. Übten die erfahrensten Abteilungen des Proletariats Vorsicht, so traten um so entschiedener in den Kampf die neuen, frischen Schichten. Warteten die Metallarbeiter ab, um zu rüsten, stürzten sich auf das Kampffeld die Arbeiter der Textil-, Gummi-, Papier-, Lederindustrie. Es erhoben sich die rückständigsten und gehorsamsten Schichten der Werktätigen. Kiew war aufgewühlt durch einen stürmischen Streik der Hausdiener und Portiers: sie gingen von Haus zu Haus, löschten das Licht aus, nahmen die Schlüssel von den Aufzügen weg, öffneten die Entreetüren, und so weiter. Jeder Konflikt, aus welchem Anlaß auch immer entstanden, hatte die Tendenz, sich über einen ganzen Industriezweig zu verbreitern und prinzipiellen Charakter zu gewinnen. Mit Unterstützung der Arbeiter des gesamten Landes begannen im August die Lederarbeiter Moskaus einen langen und hartnäckigen Kampf um das Recht der Fabrikkomitees auf Anstellung und Entlassung von Arbeitern. In vielen Fällen, besonders in der Provinz, nahmen die Streiks dramatischen Charakter an und führten zu Verhaftungen der Unternehmer und Administratoren durch die Streikenden. Die Regierung predigte den Arbeitern Selbstbescheidung, trat mit den Industriellen in Koalition, entsandte Kosaken in das Donezgebiet und erhöhte um das Doppelte die Preise für Brot und Kriegslieferungen. Während sie die Empörung der Arbeiter zur Weißglut steigerte, brachte diese Politik auch den Unternehmern nichts ein. „Skobeljews Erleuchtung“, klagt Auerbach, einer der Kapitäne der Schwerindustrie, „hat noch nicht den Arbeitskommissaren in der Provinz Erleuchtung gebracht ... Im Ministerium ... traute man den eigenen Agenten in der Provinz nicht ... Man ließ Arbeitervertreter nach Petrograd kommen, redete im Marmorpalais auf sie ein, beschimpfte sie und suchte sie mit den Industriellen und Ingenieuren zu versöhnen.“ Doch alles führte zu nichts: „die Arbeitermassen gerieten zu jener Zeit bereits immer mehr unter den Einfluß entschiedener und in ihrer Demagogie unbedenklicher Anführer“.
Ökonomischer Defätismus war die Hauptwaffe der Unternehmer gegen die Doppelherrschaft in den Betrieben. Auf einer Konferenz der Fabrikkomitees in der ersten Augusthälfte wurde die auf Desorganisierung und Einstellung der Produktion gerichtete Schädlingspolitik der Industriellen in allen Details enthüllt. Außer Finanzmachinationen wandte man weitgehend Verstecken von Material, Schließung von Werkzeug-, Reparaturabteilungen und so weiter an. Krasse Beweise für Sabotage der Unternehmer gibt John Reed, der als amerikanischer Korrespondent Zutritt zu den verschiedensten Kreisen hatte, vertrauliche Nachrichten der diplomatischen Ententeagenten bekam und offene Geständnisse russischer bürgerlicher Politiker anhörte. „Der Sekretär der Petrograder Organisation der Kadettenpartei“, schreibt Reed, „sagte mir, daß der ökonomische Zerfall ein Teil der zur Diskreditierung der Revolution durchgeführten Kampagne sei. Ein Ententediplomat, dessen Namen nicht zu nennen ich mich verpflichtet habe, bestätigte mir dies aus eigener Kenntnis. Es sind mir Kohlengruben bei Charkow bekannt, die von den Besitzern in Brand gesteckt oder unter Wasser gesetzt wurden. Ich kenne Moskauer Textilfabriken, deren Ingenieure die Arbeit einstellten und die Maschinen unbrauchbar machten. Ich kenne Eisenbahnbeamte, die von Arbeitern bei Beschädigung von Lokomotiven ertappt wurden.“ Dies war die grausame ökonomische Realität. Sie entsprach nicht den Versöhnlerillusionen, nicht der Koalitionspolitik, sondern der Vorbereitung des Kornilowschen Aufstandes.
An der Front konnte sich die heilige Allianz ebensowenig durchsetzen wie im Hinterlande. Verhaftungen einzelner Bolschewiki, klagt Stankewitsch, lösten die Frage nicht. „Das Verbrecherische lag in der Luft, aber seine Konturen zeigten sich nicht klar umrissen, weil die ganze Masse infiziert war.“ Wenn die Soldaten zurückhaltender geworden waren, so nur deshalb, weil sie gelernt hatten, bis zu einem gewissen Grade ihren Haß zu disziplinieren. Ging er aber mit ihnen durch, dann kamen ihre wirklichen Gefühle um so krasser zum Vorschein. Eine Kompanie des Dubensker Regimentes, die wegen der Weigerung, einen neu ernannten Kompanieführer anzuerkennen, aufgelöst werden sollte, brachte noch einige Kompanien und schließlich das ganze Regiment zur Meuterei, und als der Regimentkommandeur den Versuch unternahm, die Ordnung mit Waffengewalt wieder herzustellen, wurde er mit Kolben erschlagen. Das geschah am 31. Juli. Kam es in anderen Regimentern nicht so weit, so konnte es, nach dem inneren Gefühl des Kommandobestandes, stets dahin kommen.
Mitte August berichtete General Schtscherbatschew ins Hauptquartier: „Die Stimmung der Infanterietruppenteile, mit Ausnahme der Todesbataillone, ist völlig unbeständig – manchmal ändert sie sich in wenigen Tagen bei einigen Infanterietruppenteilen schroff in diametral entgegengesetzter Richtung.“ Viele Kommissare fingen an zu begreifen, daß die Julimethoden keinen Ausweg boten. „Die Praxis der Anwendung von revolutionären Feldgerichten an der Westfront“, meldete am 22. August der Kommissar Jamandt, „bringt schreckliche Uneinigkeit zwischen Kommandobestand und Bevölkerungsmasse und diskreditiert die Idee dieser Gerichte an sich ...“ Das Kornilowsche Rettungsprogramm war bereits vor dem Aufstand des Hauptquartiers hinreichend ausprobiert worden und hatte in die gleiche Sackgasse geführt.
Mehr als alles andere fürchteten die besitzenden Klassen Anzeichen der Zersetzung des Kosakentums: von dort drohte der Zusammenbruch der letzten Schutzwehr. Kosakenregimenter hatten im Februar in Petrograd die Monarchie widerstandslos ausgeliefert. Zwar hatten die Kosakenbehörden bei sich daheim, in Nowotscherkassk, versucht, die telegraphische Nachricht von der Umwälzung zu verheimlichen, und am 1. März mit üblicher Feierlichkeit die Messe für Alexander II. abgehalten. Letzten Endes aber war das Kosakentum bereit, ohne Zaren auszukommen, und entdeckte sogar in seiner Vergangenheit republikanische Traditionen. Doch darüber hinaus wollte es nicht gehen. Die Kosaken hatten sich von Anfang an geweigert, Deputierte in den Petrograder Sowjet zu entsenden, um sich nicht den Arbeitern und Soldaten anzugleichen, und einen Sowjet der Kosakenheere gebildet, der alle zwölf Kosakenheere in der Person ihrer Hinterlandspitzen umfaßte. Die Bourgeoisie war bestrebt, und nicht ohne Erfolg, sich auf die Kosaken gegen die Arbeiter und Bauern zu stützen.
Die politische Rolle des Kosakentums war durch seine besondere Lage im Staat bestimmt. Das Kosakentum bildete von jeher einen eigenartigen privilegierten unteren Stand. Der Kosak zahlte keinerlei Steuern und verfügte über einen bedeutend größeren Bodenanteil als der Bauer. In drei benachbarten Distrikten, Don, Kuban und Twer, hatte eine Bevölkerung von drei Millionen Kosaken dreiundzwanzig Millionen Deßjatinen Land in ihren Händen, während auf 4,3 Millionen Seelen der bäuerlichen Bevölkerung der gleichen Distrikte nur sechs Millionen Deßjatinen entfielen: pro Kopf eines Kosaken durchschnittlich fünfmal mehr als auf einen Bauern. Unter dem Kosakentum selbst war der Boden natürlich äußerst ungleichmäßig verteilt. Hier gab es Gutsbesitzer und Kulaken, mächtigere als im Norden; es gab auch arme Bauern. Jeder Kosak war verpflichtet, auf den ersten Ruf des Staates hin mit eigenem Pferd und eigener Ausrüstung zu erscheinen. Die reichen Kosaken deckten diese Ausgaben in Überfluß durch die Steuerfreiheit. Die unteren Schichten krümmten sich unter dem Joch der Kosakenpflichten. Diese grundlegenden Hinweise erklären zur Genüge die widerspruchsvolle Lage des Kosakentums. Seine unteren Schichten berührten sich nahe mit der Bauernschaft, die Spitzen mit den Gutsbesitzern. Gleichzeitig vereinigte die oberen und unteren Schichten das Bewußtsein ihrer Sonderstellung und Auserwähltheit, und sie waren gewohnt, nicht nur auf den Arbeiter, sondern auch auf den Bauern von oben hinabzublicken. Dies eben machte den Durchschnittskosaken so tauglich für die Rolle des Exekutors.
Während der Kriegsjahre, als die jungen Generationen an den Fronten waren, hatten in den Kosakensiedlungen die Alten, die Träger konservativer Traditionen, eng verbunden mit ihren Offizieren, das Heft in den Händen. Unter dem Schein der auferstandenen Kosakendemokratie versammelten die Kosakengutsbesitzer in den ersten Revolutionsmonaten die sogenannten Heeresverbände, welche die Atamane, eine Art von Präsidenten, und die „Heeresregierungen“ zu wählen hatten. Die offiziellen Kommissare und Sowjets der nichtkosakischen Bevölkerung besaßen in den Kosakendistrikten keine Macht, denn die Kosaken waren stärker, reicher und besser bewaffnet. Die Sozialrevolutionäre versuchten gemeinsame Sowjets aus Bauern- und Kosakendeputierten zu bilden, doch die Kosaken zeigten kein Entgegenkommen, da sie nicht ohne Grund befürchteten, daß die Agrarrevolution ihnen einen Teil ihres Bodens wegnehmen würde. Nicht zufällig entschlüpfte Tschernow in seiner Eigenschaft als Ackerbauminister der Satz: „Die Kosaken werden sich auf ihrem Boden ein wenig zusammendrängen müssen.“ Wichtiger noch war, daß die dortigen Bauern und die Soldaten der Infanterieregimenter immer häufiger den Kosaken sagten: „Wir werden schon an euer Land herankommen, Schluß mit eurer Herrschaft.“ So sah es im Hinterlande, im Kosakendorf aus, teilweise auch in der Petrograder Garnison, dem Mittelpunkt der Politik. Dies erklärt auch das Verhalten der Kosakenregimenter bei der Julidemonstration.
An der Front war die Lage wesentlich anders. Insgesamt befanden sich im Sommer 1917 bei den aktiven Kosakenheeren 162 Regimenter und 171 Einzelhundertschaften. Von ihren Dörfern getrennt, teilten die Frontkosaken die Prüfungen des Krieges mit der gesamten Armee, machten, wenn auch mit beträchtlicher Verspätung, die Evolution der Infanterie durch, verloren den Glauben an den Sieg, ergrimmten über die Unordnung, murrten wider die Vorgesetzten, sehnten sich nach Frieden und dem Heim. Zur Ausübung des Polizeidienstes an der Front und im Hinterlande wurden allmählich aus dem Heere fünfundvierzig Regimenter und etwa fünfundsechzig Hundertschaften herausgezogen! Die Kosaken verwandelten sich wieder in Gendarmen. Soldaten, Bauern und Arbeiter wetterten gegen sie und erinnerten sie an ihre Henkerarbeit vom Jahre 1905. Vielen Kosaken, die auf ihr Verhalten im Februar stolz zu werden begonnen hatten, ward es unbehaglich. Der Kosak fing an, seine Nagajka zu verfluchen, und weigerte sich häufig, sie zu tragen. Unter Don- und Kubankosaken gab es wenig Deserteure: sie fürchteten ihre Alten in der Siedlung. Im allgemeinen blieben die Kosakentruppen viel länger in den Händen der Vorgesetzten als die Infanterie.
Vom Don und vom Kuban kamen Nachrichten an die Front, daß die Kosakenspitzen gemeinsam mit den Alten ihre eigene Macht errichtet hätten, ohne erst die Frontkosaken zu fragen. Das weckte den schlummernden sozialen Antagonismus: „Wenn wir heimkommen, werden wir’s ihnen zeigen“, sagten mehr als einmal die Frontler. Der Kosakengeneral Krassnow, einer der Führer der Doner Konterrevolution, schildert malerisch, wie die festgefügten Kosakentruppenteile an der Front auseinanderkrochen: „Es begannen Meetings, wildeste Resolutionen wurden angenommen ... Die Kosaken hörten auf, die Pferde zu putzen und regelmäßig zu füttern. An irgendwelche Übungen war nicht zu denken. Die Kosaken schmückten sich mit Purpurschleifen, staffierten sich mit roten Bändern aus und wollten von einer Achtung vor Offizieren nichts hören.“ Ehe er jedoch endgültig in diesen Zustand geraten war, hatte der Kosak lange geschwankt, sich den Kopf gekratzt und gesucht, nach welcher Richtung er sich wenden solle. Es war deshalb nicht leicht, im kritischen Moment vorauszusehen, wie sich der eine oder andere Kosakentruppenteil verhalten würde.
Am 8. August schloß der Heeresverband am Don einen Block mit den Kadetten für die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung. Die Kunde davon drang sofort in die Armee. „Bei den Kosaken“, schreibt der Kosakenoffizier Janow, „wurde der Block durchwegs ablehnend aufgenommen. Die Kadettenpartei hatte in der Armee keine Wurzeln.“ Tatsächlich haßte die Armee die Kadetten und identifizierte sie mit allem, was die Volksmassen würgte. „Die Alten haben euch an die Kadetten verkauft“, höhnten die Soldaten. – „Wir werden’s ihnen zeigen!“ erwiderten die Kosaken. An der Südwestfront kennzeichneten Kosakentruppenteile in einer besonderen Verfügung die Kadetten als die „geschworenen Feinde und Bedrücker des werktätigen Volkes“ und verlangten den Ausschluß aller jener aus dem Heeresverband, die es gewagt hatten, das Bündnis mit den Kadetten einzugehen.
Kornilow, selbst Kosak, rechnete stark auf die Hilfe des Kosakentums, besonders des Doner, und durchsetzte mit Kosakentruppen die für die Umwälzung bestimmte Abteilung. Doch die Kosaken rührten sich nicht, „dem Bauernsohn“ zu Hilfe zu kommen. Die Kosakensiedler waren bereit, daheim wütend ihr Land zu verteidigen, hatten jedoch keine Lust, an fremden Prügeleien teilzunehmen. Auch das dritte Kavalleriekorps enttäuschte die Hoffnungen. Verhielten sich die Kosaken feindselig gegen die Verbrüderung mit den Deutschen, kamen sie an der Petrograder Front willig den Soldaten und Matrosen entgegen: diese Verbrüderung sprengte Kornilows Plan ohne Blutvergießen. So erlahmte und barst in der Gestalt des Kosakentums die letzte Stütze des alten Rußland.
Unterdessen wurde weit hinter den Landesgrenzen, auf Frankreichs Territorium, im Laboratoriumsmaßstabe ein „Erneuerungs“versuch der russischen Truppen unternommen, außer Reichweite der Bolschewiki und darum um so überzeugender. Während des Sommers und des Herbstes drangen in die russische Presse im Trubel der Ereignisse jedoch fast unbeachtet gebliebene Nachrichten von einer unter den russischen Truppen in Frankreich entbrannten bewaffneten Meuterei. Soldaten zweier russischer Brigaden in Frankreich hätten, nach den Worten des Offiziers Lissowski, schon gegen Januar 1917, folglich vor der Revolution, „die feste Überzeugung gewonnen, sie seien alle um den Preis von Geschossen an die Franzosen verkauft worden“. Die Soldaten hatten sich gar nicht so sehr geirrt. Für ihre Entente-Wirtsherren hegten sie „nicht die geringsten Sympathien“, für ihre Offiziere – nicht das geringste Vertrauen. Die Kunde von der Revolution erreichte die Exportbrigaden politisch nicht ganz unvorbereitet – aber doch überraschend. Von den Offizieren waren keine Erklärungen über die Umwälzung zu erwarten: die Verwirrung zeigte sich um so stärker, je höher der Offizier in der Rangliste stand. In den Lagern tauchten aus der Emigration demokratische Patrioten auf. „Mehr als einmal konnte man beobachten“, schreibt Lissowski, „wie einige Diplomaten und Offiziere der Garderegimenter ... diensteifrig früheren Emigranten Stühle heranrückten.“ Bei den Regimentern entstanden aus Wahlen hervorgegangene Institutionen, wobei an der Spitze des Komitees bald ein lettischer Soldat hervorragte. Es fand sich folglich auch hier der „Fremdstämmige“. Das erste Regiment, in Moskau formiert und fast völlig aus Arbeitern, Kommis und Büroangestellten, überhaupt aus proletarischen und halbproletarischen Elementen zusammengesetzt, hatte vor einem Jahr als erstes Frankreichs Erde betreten und sich während des Winters auf den Schlachtfeldern der Champagne gut geschlagen. Aber – die „Zersetzungskrankheit befiel zuallererst gerade dieses Regiment“. Das zweite Regiment mit einem viel höheren Prozentsatz an Bauern blieb länger ruhig. Die zweite Brigade, fast restlos aus sibirischen Bauern bestehend, schien absolut zuverlässig. Schon bald nach der Februarumwälzung verweigerte die erste Brigade den Gehorsam. Sie wollte weder um Elsaß noch um Lothringen kämpfen. Sie wollte nicht für das schöne Frankreich sterben. Sie wollte probieren, im neuen Rußland zu leben. Die Brigade wurde nach dem Hinterland zurückgeführt und im Zentrum Frankreichs untergebracht, im Lager von La Courtine. „Inmitten der stillen Bourgeoissiedlungen“, erzählt Lissowski, „begann in dem Riesenlager ein besonderes, ungewöhnliches Leben der annähernd zehntausend aufrührerischen, bewaffneten russischen Soldaten, die keine Offiziere über sich hatten und sich absolut keinem unterwerfen wollten.“ Kornilow erhielt die seltene Möglichkeit, seine Ertüchtigungsmethoden unter Beihilfe der mit ihm leidenschaftlich sympathisierenden Poincaré und Ribot anzuwenden. Der Höchstkommandierende befahl telegraphisch, die Courtiner „zum Gehorsam“ zu zwingen und sie nach Saloniki abzutransportieren. Doch die Meuterer wollten sich nicht ergeben. Am 1. September wurde schwere Artillerie herangefahren, und im Lager wurden Plakate mit dem strengen Telegramm Kornilows angeschlagen. Doch da schnitt eine neue Komplikation in die Ereignisse ein: in der französischen Presse erschien die Nachricht, Kornilow selbst sei als Verräter und Konterrevolutionär erklärt worden. Die meuternden Soldaten kamen endgültig zu dem Entschluß, daß sie keine Ursache hätten, in Saloniki zu sterben, noch dazu auf Befehl eines verräterischen Generals. Die für Geschosse verkauften Arbeiter und Bauern beschlossen, für sich einzustehen. Sie weigerten sich, mit einem Fremden, wer immer es sei, zu sprechen. Kein Soldat verließ das Lager.
Die zweite russische Brigade wurde gegen die erste geschickt. Artillerie bezog Stellung auf den nächsten Bergabhängen, Infanterie warf nach allen Regeln der Pionierkunst Schützengräben und Zugänge nach La Courtine aus. Die Umgebung wurde durch Alpenschützen fest abgeriegelt, damit kein Franzose auf den Kriegsschauplatz der zwei russischen Brigaden eindringen könne. So inszenierten die Militärbehörden Frankreichs auf dessen Territorium einen russischen Bürgerkrieg, ihn umsichtig mit einer Mauer von Bajonetten absperrend. Das war die Generalprobe. In der Folge organisierte das regierende Frankreich den Bürgerkrieg auf Rußlands Territorium selbst, es mit einem stacheligen Blockadering absperrend.
„Eine regelrechte, methodische Beschießung des Lagers begann.“ Aus dem Lager traten einige hundert Soldaten heraus, bereit, sich zu ergeben. Sie wurden abgeführt, und das Artilleriefeuer sofort wieder aufgenommen. So ging es vier Tage und vier Nächte. Die Courtiner ergaben sich gruppenweise. Am 6. September waren insgesamt nur etwa zweihundert Mann übriggeblieben, entschlossen, sich lebend nicht zu ergeben. An ihrer Spitze stand der Ukrainer Globa, Baptist und Fanatiker: in Rußland würde man ihn Bolschewik genannt haben. Unter der Deckung von Geschütz-, Maschinengewehr- und Gewehrfeuer, das zu einem einzigen Getöse verschmolz, begann eine regelrechte Erstürmung. Schließlich waren die Meuterer erdrückt. Die Zahl der Opfer ist unbekannt geblieben. Die Ordnung war jedenfalls wieder hergestellt. Aber bereits nach wenigen Wochen wurde die zweite Brigade, die auf die erste gefeuert hatte, von der gleichen Krankheit erfaßt
Die schreckliche Seuche hatten die russischen Soldaten über Meere mitgebracht in ihren Leinwandsäcken, in den Falten ihrer Mäntel, in den Tiefen ihrer Seelen. Darum ist diese dramatische Episode von La Courtine so bemerkenswert, weil sie einen, gleichsam unter der Glocke der Luftpumpe absichtlich konstruierten idealen Versuch darstellt zum Studium der von der gesamten Vergangenheit des Landes vorbereiteten inneren Prozesse in der russischen Armee.
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Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003