Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 2: Oktoberrevolution

 

Kapitel 6:
Kerenski und Kornilow

(Elemente des Bonapartismus in der russischen Revolution)

Es ist nicht wenig darüber geschrieben worden, daß alles weitere Unheil, einschließlich der Ankunft der Bolschewiki, zu vermeiden gewesen wäre, wenn an Stelle Kerenskis an der Spitze der Regierung ein Mann von klarem Sinn und festem Charakter gestanden haben würde. Unbestreitbar fehlte Kerenski das eine wie das andere. Weshalb aber sahen sich bestimmte Gesellschaftsklassen gezwungen, gerade Kerenski auf ihren Schultern emporzuheben?

Gleichsam um unser historisches Gedächtnis aufzufrischen, zeigen uns die spanischen Ereignisse aufs neue, wie eine Revolution, die gewohnten politischen Scheidungsgrenzen verwischend, bei ihrem Beginn alles in rosige Nebel taucht. Sogar die Feinde sind in diesem Stadium bestrebt, ihre Farbe anzunehmen: in dieser Mimikry liegt ein halb instinktives Bestreben der konservativen Klassen, sich dem drohenden Umschwung anzupassen, um aus ihm mit geringstem Verlust herauszukommen. Die Solidarität der Nation, auf hohlen Phrasen begründet, verwandelt das Versöhnlertum in eine notwendige politische Funktion. Kleinbürgerliche Idealisten, die über die Klassen hinwegblicken, in fertigen Schablonen denken, nicht wissen, was sie wollen, und allen das Allerbeste wünschen, sind in diesem Stadium die einzig denkbaren Führer der Mehrheit. Hätte Kerenski klaren Sinn und festen Willen gehabt, er hätte sich für seine historische Rolle ganz untauglich erwiesen. Das ist keine retrospektive Einschätzung. So dachten die Bolschewiki auch in der Hitze der Ereignisse. „Anwalt in politischen Prozessen, Sozialrevolutionär, der an der Spitze der Trudowiki stand, Radikaler ohne jegliche sozialistische Schule – war Kerenski die vollkommenste Widerspiegelung der ersten Epoche der Revolution, ihrer „nationalen“ Formlosigkeit, des zündenden Idealismus ihrer Hoffnungen und Erwartungen“, so schrieb nach den Julitagen, im Gefängnis Kerenskis, der Autor dieser Zeilen, „Kerenski sprach von Land und Freiheit, von Ordnung, Völkerfrieden, Vaterlandsverteidigung, von Liebknechts Heroismus, davon, daß die russische Revolution durch ihre Großmut die Welt in Erstaunen setzen müsse, und fächelte dabei mit einem roten Seidentüchelchen. Der aus dem Schlaf erwachte Spießbürger lauschte verzückt diesen Reden: es war ihm, als spräche er selbst von der Tribüne herab. Die Armee empfing Kerenski als den Befreier von Gutschkow. Die Bauern hatten von ihm als von einem Trudowiken, einem Muschik-Deputierten gehört. Die Liberalen bestach die äußerste Mäßigung der Ideen unter formlosem Phrasenradikalismus ...“

Doch die Periode allgemeiner Umarmungen währt nicht lange. Der Kampf der Klassen erstirbt zu Beginn der Revolution nur um später als Bürgerkrieg aufzuleben. Im märchenhaften Aufstieg des Versöhnlertums ist von vornherein sein unvermeidlicher Zusammenbruch enthalten. Das rasche Hinschwinden von Kerenskis Popularität erklärt der offiziöse französische Journalist Claude Anet damit, daß Taktmangel den sozialistischen Politiker zu Handlungen trieb, die mit seiner Rolle „wenig harmonierten“. „Er sitzt in kaiserlichen Logen. Lebt in Winterpalais oder im Zarskoselsker-Palais. Schläft im Bett der russischen Imperatoren. Ein wenig zu viel und dazu noch zu sichtbare Prunksucht; das schockiert das Land, das einfachste Land der Welt.“ Takt setzt im Kleinen wie im Großen Verständnis voraus für die Situation den Platz, den sie anweist. Davon war bei Kerenski nicht die Spur. Von den Massen vertrauensselig emporgehoben, blieb er ihnen völlig fremd, verstand sie nicht und war durchaus uninteressiert daran, wie sie die Revolution aufnehmen und welche Schlußfolgerungen sie aus ihr ziehen. Die Massen erwarteten von Kerenski kühne Taten, er aber forderte von ihnen, seine Großmut und Schönrederei nicht zu stören. Während er der verhafteten Zarenfamilie einen theatralischen Besuch abstattete, sagten die am Palais wachhabenden Soldaten dem Kommandanten: „Wir müssen auf Pritschen schlafen, unser Auskommen ist schlecht; aber bei Nikolaschka, wenngleich er verhaftet ist, wird Fleisch in den Müllkübel geschüttet.“ Das waren nicht „großmütige“ Worte, aber sie drückten aus, was die Soldaten fühlten.

Das Volk, das sich aus jahrhundertealten Fesseln befreit hatte, übertrat auf Schritt und Tritt die Grenze, die ihm die gebildeten Führer steckten. Kerenski wehklagte deshalb Ende April: „Ist denn der freie russische Staat ein Staat meuternder Sklaven? ... Ich bedaure, nicht vor zwei Monaten gestorben zu sein: ich wäre mit einem großen Traum gestorben“, und so weiter. Durch solche üble Rhetorik hoffte er Arbeiter, Soldaten, Matrosen und Bauern zu beeinflussen. Admiral Koltschak erzählte später vor dem Sowjettribunal, wie der radikale Kriegsminister im Mai die Schwarzmeerflotte bereiste, um die Matrosen mit den Offizieren zu versöhnen. Nach jedem Auftreten wähnte der Redner, das Ziel sei erreicht: „Nun sehen Sie, Admiral, es ist alles in Ordnung gebracht ...“ Doch nichts war in Ordnung gebracht: der Zerfall der Flotte begann erst.

Je länger, um so schärfer erregte Kerenski durch seine Ziersucht, Hoffart, Eigendünkel den Unmut der Massen. Während seiner Frontreisen schrie er im Waggon gereizt seinen Adjutanten zu, wohl in Berechnung, daß die Generale es hören würden: „Jagt doch die verfluchten Komitees davon!“ Als er die Baltische Flotte besuchte, befahl Kerenski dem Zentralkomitee der Seeleute, zu ihm auf das Admiralschiff zu kommen. Der „Zentrobalt“, der als Sowjetorgan dem Minister nicht unterstand, empfand den Befehl als eine Beleidigung. Der Komiteevorsitzende, Matrose Dybenko, gab die Antwort: „Wenn Kerenski mit dem Zentrobalt zu sprechen wünscht, dann mag er zu uns kommen.“ War dies nicht eine unerträgliche Frechheit! Auf den Schiffen, wo Kerenski mit den Matrosen in politische Gespräche kam, verhielt es sich nicht besser, besonders auf dem bolschewistisch gestimmten Schiff Republik, wo man den Minister Punkt für Punkt verhörte: weshalb habe er in der Reichsduma für den Krieg gestimmt?, weshalb die imperialistische Note Miljukows vom 21. April unterzeichnet?, weshalb den zaristischen Senatoren 6.000 Rubel Jahrespension bewilligt? Kerenski lehnte es ab, auf diese heimtückischen, von „Übelwollenden“ gestellten Fragen zu antworten. Die Schiffsbesatzung betrachtete die Erklärungen des Ministers als „unbefriedigend“ ... Unter Grabesstille der Matrosen verließ Kerenski das Schiff. „Meuternde Sklaven!“ sagte zähneknirschend der radikale Advokat. Die Matrosen aber fühlten voller Stolz: „Ja, wir waren Sklaven, und wir haben uns erhoben!“

Durch die Ungeniertheit, mit der er die demokratische öffentliche Meinung behandelte, rief Kerenski dauernd halbe Konflikte mit den Sowjetführern hervor, die zwar den gleichen Weg gingen wie er, aber doch mehr auf die Massen abgestimmt. Bereits am 8. März erklärte das über die Proteste von unten erschrockene Exekutivkomitee Kerenski, die Freilassung verhafteter Polizisten sei unzulässig. Einige Tage später sahen sich die Versöhnler gezwungen, zu protestieren gegen die Absicht des Justizministers, die Zarenfamilie nach England hinauszulassen. Nach weiteren zwei, drei Wochen erhob das Exekutivkomitee allgemein die Frage nach „Regulierung der Beziehungen“ zu Kerenski. Aber diese Beziehungen wurden nicht reguliert und konnten nicht reguliert werden. Ebenso unglückselig gestaltete sich die Sache mit der Parteilinie. Auf dem Kongreß der Sozialrevolutionäre Anfang Juli fiel Kerenski bei der Wahl zum Zentralkomitee durch; er erhielt 135 von 270 Stimmen. Wie wanden sich die Führer nach links und nach rechts, um klarzumachen, daß „für den Genossen Kerenski viele nicht gestimmt haben, weil er schon zu sehr überlastet ist“. In Wirklichkeit vergötterten zwar die Stabs- und Departements-Sozialrevolutionäre Kerenski als die Quelle allen Segens, aber bei den alten, mit den Massen verbundenen Sozialrevolutionären genoß er weder Achtung noch Vertrauen. Ohne Kerenski konnte indes weder das Exekutivkomitee noch die Partei der Sozialrevolutionäre auskommen: er war unentbehrlich als Bindeglied der Koalition.

Im Sowjetblock gehörte die führende Rolle den Menschewiki: sie erfanden die Beschlüsse, das heißt die Mittel, Taten auszuweichen. Doch im Staatsapparat waren die Narodniki den Menschewiki offensichtlich überlegen, was in der dominierenden Stellung Kerenskis zum Ausdruck kam. Halb Kadett, halb Sozialrevolutionär, war Kerenski in der Regierung nicht Vertreter der Sowjets wie Zeretelli oder Tschernow, sondern das lebendige Bindeglied zwischen Bourgeoisie und Demokratie. Zeretelli-Tschernow verkörperten eine Seite der Koalition. Kerenski war die personelle Verkörperung der Koalition selbst. Zeretelli klagte wegen des Überwiegens „persönlicher Momente“ bei Kerenski, ohne zu begreifen, daß sie nicht zu trennen waren von seiner politischen Funktion. Zeretelli erließ als Innenminister ein Rundschreiben, wonach der Gouvernements-Kommissar sich auf alle lokalen „lebendigen Kräfte“, das heißt auf Bourgeoisie und die Sowjets zu stützen und die Politik der Provisorischen Regierung durchzuführen hätte, ohne „Parteieinflüssen“ nachzugehen. Dieser ideale, sich über feindliche Klassen und Parteien erhebende Kommissar, der nur aus sich selbst und aus dem Rundschreiben seine Berufung schöpfen sollte – das eben ist der Kerenski im Gouvernements- oder Kreismaßstabe. Zur Krönung des Systems war ein unabhängiger Allrussischer Kommissar im Winterpalais nötig. Ohne Kerenski wäre das Versöhnlertum dasselbe gewesen wie eine Kirchenkuppel ohne Kreuz.

Die Geschichte von Kerenskis Aufstieg ist sehr belehrend. Justizminister wurde er dank dem Februaraufstande, den er gefürchtet hatte. Die Aprildemonstration der „meuternden Sklaven“ machte ihn zum Kriegs- und Marineminister. Die Julikämpfe, hervorgerufen von „deutschen Agenten“, stellten ihn an die Spitze der Regierung. Anfang September wird die Massenbewegung das Regierungshaupt auch noch zum Höchstkommandierenden machen. Die Dialektik des Versöhnlerregimes, und zugleich dessen böse Ironie, bestand darin, daß die Massen durch ihren Druck Kerenski auf den höchsten Punkt emporheben mußten, bevor sie ihn stürzten.

Während er verächtlich das Volk abwehrte, das ihm die Macht gegeben hatte, haschte Kerenski um so gieriger nach Zeichen der Anerkennung der gebildeten Gesellschaft. Bereits in den ersten Revolutionstagen erzählte der Arzt Kischkin, Führer der Moskauer Kadetten, bei seiner Rückkehr aus Petrograd: „Ohne Kerenski würde das, was wir haben, nicht existieren. Mit goldenen Lettern wird sein Name auf den Tafeln der Geschichte eingetragen werden.“ Liberale Lobpreisungen zählten für Kerenski zu den wichtigsten politischen Kriterien. Aber er konnte und wollte nicht seine Popularität der Bourgeoisie einfach zu Füßen legen. Im Gegenteil, er gewann immer mehr Geschmack daran, alle Klassen zu seinen eigenen Füßen zu sehen. „Der Gedanke, die Vertretung der Bourgeoisie und der Demokratie gegenüberzustellen und ins Gleichgewicht zu bringen“, bekundet Miljukow, „war Kerenski vom Beginn der Revolution an nicht fremd.“ Dieser Kurs ergab sich naturgemäß aus Kerenskis gesamtem Lebensweg, der zwischen liberaler Advokatur und illegalen Zirkeln verlaufen war. Während er Buchanan ehrerbietigst versicherte, daß „der Sowjet eines natürlichen Todes sterben“ werde, schreckte Kerenski seine bürgerlichen Kollegen auf Schritt und Tritt mit dem Zorn des Sowjets. Und in den nicht seltenen Fällen, wo die Führer des Exekutivkomitees mit Kerenski uneinig waren, ängstigte er sie mit der furchtbarsten aller Katastrophen: dem Rücktritt der Liberalen.

Wenn Kerenski immer erneut wiederholte, er wolle nicht der Marat der russischen Revolution sein, so bedeutete dies, er lehne es ab, strenge Maßnahmen gegen die Reaktion, keinesfalls aber gegen die „Anarchie“ anzuwenden. Dies ist übrigens gewöhnlich die Moral der Gegner der Gewalt in der Politik: sie lehnen sie ab, insofern es sich um die Änderung des Bestehenden handelt; doch scheuen sie zur Verteidigung der Ordnung vor erbarmungslosem Strafgericht nicht zurück.

In der Vorbereitungsperiode der Offensive an der Front wurde Kerenski eine besonders beliebte Figur der besitzenden Klassen. Tereschtschenko erzählte nach rechts und nach links, wie hoch unsere Alliierten die „Mühen Kerenskis“ einschätzten; die gegen die Versöhnler sehr strenge Rjetsch unterstrich beständig ihr Wohlwollen für den Kriegsminister; Rodsjanko selbst gestand, daß „dieser junge Mann ... tagtäglich mit verdoppelter Kraft aufersteht zum Wohle der Heimat und zu schöpferischer Arbeit“. Mit solchen Äußerungen wollten die Liberalen Kerenski zu Tode liebkosen. Konnte es ihnen doch nicht verborgen bleiben, daß er für sie arbeitete. „Bedenkt doch“, sagte Lenin, „was wäre, wenn Gutschkow anfangen wollte, Befehle zur Offensive zu erteilen, Regimenter aufzulösen, Soldaten zu verhaften, Kongresse zu verbieten, Soldaten mit „du“ anzuschreien, sie „Feiglinge“ zu nennen, und so weiter. Kerenski aber darf sich diesen „Luxus“ noch erlauben, solange er das allerdings schwindelerregend schnell dahinsinkende Vertrauen, das ihm das Volk kreditierte, nicht vertan hat ...“

Die Offensive, die Kerenskis Reputation in den Reihen der Bourgeoisie hob, untergrub endgültig seine Popularität im Volke. Der Zusammenbruch der Offensive war im wesentlichen der Zusammenbruch Kerenskis in beiden Lagern. Aber eine erstaunliche Sache: „unentbehrlich“ machte ihn von nun an gerade dies Kompromittiertsein auf beiden Seiten. Über Kerenskis Rolle bei Schaffung der zweiten Koalition äußert sich Miljukow folgendermaßen: „Der einzige Mensch, der möglich war“, aber leider „nicht der, der notwendig war ...“ Die führenden liberalen Politiker haben übrigens Kerenski niemals allzu ernst genommen. Und die breiten Kreise der Bourgeoisie schoben ihm immer mehr die Verantwortung für alle Schicksalsschläge zu. „Die Ungeduld der patriotisch gestimmten Gruppen“ zwang, nach Miljukows Zeugnis, einen starken Mann zu suchen. Eine Zeitlang war Admiral Koltschak für diese Rolle ausersehen. Die Besetzung des Steuers mit einem starken Manne „dachte man sich anders als auf dem Wege der Verhandlungen und Vereinbarungen“. Das ist nicht schwer zu glauben. „Die Hoffnungen auf Demokratie, auf Volkswillen, auf die Konstituierende Versammlung“, schreibt Stankewitsch über die Kadettenpartei, „waren bereits aufgegeben: hatten doch die Munizipalwahlen in ganz Rußland eine erdrückende Mehrheit der Sozialisten ergeben ... So begann das krampfhafte Suchen nach einer Macht, die imstande gewesen wäre, nicht zu überzeugen, sondern zu befehlen.“ Genauer ausgedrückt: nach einer Macht, die die Revolution an der Gurgel packen konnte.

Es ist nicht leicht, in Kornilows Biographie und den Eigenschaften seiner Persönlichkeit Züge zu finden, die seine Kandidatur für den Posten des Retters rechtfertigten. General Martynow, der in Friedenszeit Kornilows Dienstvorgesetzter gewesen war und während des Krieges mit diesem in einem österreichischen Schloß die Gefangenschaft geteilt hatte, charakterisiert Kornilow mit folgenden Worten: „Sich durch beharrlichen Fleiß und großes Selbstvertrauen auszeichnend, war er seinen geistigen Fähigkeiten nach ein gewöhnlicher Durchschnittsmensch, bar jedes breiteren Horizontes.“ Martynow zeichnet in Kornilows Aktivum zwei Charakterzüge ein: persönlichen Mut und Uneigennützigkeit. In jenem Milieu, wo man vor allem um persönliche Sicherheit besorgt war und hemmungslos stahl, stachen solche Eigenschaften in die Augen. Von strategischen Fähigkeiten, vor allem der Fähigkeit, eine Situation in ihrer Gesamtheit, in ihren materiellen und moralischen Elementen einzuschätzen, besaß Kornilow nicht die Spur. „Es fehlte ihm außerdem organisatorische Begabung“, sagte Martynow, „und seines Jähzornes und der Unausgeglichenheit seines Charakters wegen war er für planmäßige Handlungen überhaupt wenig geeignet.“ Brussilow, der während des Weltkrieges die gesamte Kampftätigkeit seines Untergebenen beobachtet hatte, äußerte sich über ihn mit völliger Geringschätzung: „der Chef einer verwegenen Partisanenabteilung nichts weiter ...“ Die offizielle Legende, die um die Kornilowsche Division geschaffen wurde, war diktiert von dem Bedürfnis der patriotischen öffentlichen Meinung, heile Flecke auf dem düsteren Hintergrunde zu finden. „Die 48. Division“, schreibt Martynow, „ist nur infolge der skandalösen Führung ... Kornilows umgekommen, der es nicht vermocht hatte, den Rückzug zu organisieren, und der vor allem seine Beschlüsse unablässig wechselte und Zeit verlor ...“ Im letzten Augenblick überließ Kornilow die von ihm in eine Falle hineingeführte Division ihrem Schicksal, um zu versuchen, selbst der Gefangenschaft zu entrinnen. Nachdem er jedoch vier Tage und Nächte herumgeirrt war, ergab sich der wenig erfolgreiche General den Österreichern und floh erst später aus der Gefangenschaft. „Nach Rußland zurückgekehrt, schmückte Kornilow in Gesprächen mit verschiedenen Zeitungskorrespondenten die Geschichte seiner Flucht mit bunten Farben der Phantasie.“ Bei den prosaischen Korrekturen zu verweilen, die gut informierte Zeugen in die Legende hineinbringen, haben wir keine Veranlassung. Offensichtlich gewinnt Kornilow in dieser Zeit Geschmack an Zeitungsreklame.

Vor der Revolution war Kornilow Monarchist von Schwarzhundert-Schattierung. In der Gefangenschaft äußerte er beim Zeitungslesen wiederholt, „alle diese Gutschkows und Miljukows würde ich mit Vergnügen aufhängen“. Doch politische Ideen beschäftigten ihn, wie im allgemeinen Menschen dieses Schlages, nur, sofern sie ihn selbst unmittelbar berührten. Nach der Februarumwälzung proklamierte sich Kornilow sehr flink als Republikaner. „Er kannte sich“, nach Äußerung desselben Martynow, „herzlich schlecht aus in den sich kreuzenden Interessen der verschiedenen Schichten der russischen Gesellschaft, kannte weder Parteigruppierungen noch einzelne Politiker.“ Menschewiki, Sozialrevolutionäre und Bolschewiki verschwammen für ihn in eine einzige feindliche Masse, die die Kommandeure am Kommandieren, die Gutsbesitzer am Genuß der Güter, die Fabrikanten an der Produktion, die Kaufleute am Handeln hinderte.

Das Komitee der Reichsduma verfiel bereits am 2. März auf General Kornilow und drängte, in einem von Rodsjanko unterzeichneten Telegramm, heim Hauptquartier auf die Ernennung „des ruhmreichen und ganz Rußland bekannten Helden“ zum Hauptkommandierenden des Petrograder Militärbezirks. Auf dem Telegramm Rodsjankos vermerkte der Zar, der bereits aufgehört hatte Zar zu sein: „Ausführen“. So erhielt die revolutionäre Residenz ihren ersten roten General. Im Protokoll des Exekutivkomitees vom 10. März steht über Kornilow folgender Satz: „Ein General vom alten Schlag, der mit der Revolution Schluß machen will.“ In den ersten Tagen gab der General sich übrigens Mühe, im besten Lichte zu erscheinen, und führte nicht ohne Lärm das Ritual der Verhaftung der Zarin durch: das wurde ihm als Plus angerechnet. Aus den Erinnerungen des von ihm zum Kommandanten von Zarskoje Selo ernannten Oberst Kobylinski ergibt sich jedoch, daß Kornilow auf zwei Fronten gesetzt hatte. „Nachdem er der Zarin vorgestellt worden war“, erzählt zurückhaltend Kobylinski, „sagte mir Kornilow: „Oberst, lassen Sie uns allein. Gehen Sie, und stellen Sie sich hinter die Tür.“ Ich ging hinaus. Nach etwa fünf Minuten rief mich Kornilow. Ich trat wieder ein. Die Kaiserin reichte mir die Hand.“ Es ist klar: Kornilow hatte den Oberst als Freund empfohlen. Im weiteren Verlauf werden wir von den Umarmungsszenen zwischen dem Zaren und seinem „Gefängniswärter“ Kobylinski erfahren. Als Administrator bewies Kornilow auf seinem neuen Posten völlige Untauglichkeit. „Seine nächsten Mitarbeiter in Petrograd“, schreibt Stankewitsch, „klagten ständig über seine Unfähigkeit zur Arbeit wie zur Leitung der Geschäfte.“ Kornilow hielt sich jedoch in der Hauptstadt nicht auf. In den Apriltagen versuchte er, nicht ohne Miljukows Inspiration, an der Revolution den ersten Aderlaß vorzunehmen, stieß aber auf den Widerstand des Exekutivkomitees, demissionierte, bekam das Kommando über eine Armee, später über die Südwestfront. Ohne die legale Einführung der Todesstrafe abzuwarten, erteilte Kornilow den Befehl, Deserteure zu erschießen und die Leichen mit entsprechenden Aufschriften an den Wegen aufzustellen, drohte den Bauern mit strengen Strafen wegen Verletzung der gutsherrlichen Besitzrechte, stellte Stoßbataillone auf und drohte bei jeder passenden Gelegenheit Petrograd mit der Faust. Das umgab seinen Namen in den Augen der Offiziere und besitzenden Klassen sogleich mit einer Aureole. Aber auch viele Kommissare Kerenskis sagten sich: keine andere Hoffnung außer Kornilow ist mehr geblieben. Einige Wochen später wurde der kriegerische General mit der kläglichen Erfahrung seines Divisionskommandos Oberbefehlshaber der in Auflösung befindlichen Vielmillionenarmee, die von der Entente gezwungen werden sollte, sich bis zum vollen Siege zu schlagen.

Kornilow schwindelte der Kopf. Politisches Analphabetentum und Enge des Horizonts machten ihn zur leichten Beute von Abenteurern. Eigensinnig seine persönlichen Vorrechte verteidigend, verfiel der „Mann mit dem Herzen eines Löwen und dem Gehirn eines Hammels“, wie General Alexejew und nach ihm Werchowski Kornilow charakterisierten, sehr leicht fremden Einflüssen, wenn sie nur der Stimme seines Ehrgeizes entsprachen. Der Kornilow freundlich gesinnte Miljukow vermerkt an ihm „kindliche Vertrauensseligkeit gegen Menschen, die ihm zu schmeicheln verstanden.“ Vertrautester Inspirator des Höchstkommandierenden, im bescheidenen Range einer Ordonnanz, war irgendein Sawojko – eine dunkle Persönlichkeit aus einer ehemaligen Gutsbesitzerfamilie, Petroleumspekulant und Abenteurer –, der Kornilow besonders durch seine Feder imponierte: Sawojko besaß tatsächlich den flotten Stil eines vor nichts zurückschreckenden Hochstaplers. Die Ordonnanz war Reklameregisseur, Autor der Kornilowschen „Volks“biographie, Verfasser von Denkschriften, Ultimata und überhaupt all jenen Dokumenten, die, nach dem Ausdruck des Generals, „starken, künstlerischen Stil“ erforderten. Zu Sawojko gesellte sich ein zweiter Abenteurer, Aladjin, ehemaliger Deputierter der ersten Duma, der einige Jahre in der Emigration verbracht hatte, die englische Pfeife nicht aus dem Munde ließ und sich deshalb für einen Fachmann in internationalen Fragen hielt. Diese zwei standen zur Rechten Kornilows und verbanden ihn mit den Zentren der Konterrevolution. Seine linke Flanke deckten Sawinkow und Filonenko: während sie mit allen Mitteln die übertrieben hohe Selbsteinschätzung des Generals stützten, waren sie darum besorgt, daß er sich nicht vorzeitig bei der Demokratie unmöglich mache. „Zu ihm kamen Ehrliche und Ehrlose, Aufrichtige und Intriganten, politische Führer, Krieger und Abenteurer“, schreibt pathetisch General Denikin, „und alle riefen mit einer Stimme: Rette!.“ Wie das Verhältnis von Ehrlichen und Ehrlosen war, ist nicht leicht festzustellen. Jedenfalls wähnte sich Kornilow ernstlich berufen, zu „retten“, und wurde so direkter Konkurrent Kerenskis.

Die Rivalen haßten einander aufrichtig. „Kerenski hatte sich“, nach den Worten Martynows, „im Verkehr mit den älteren Generalen einen hochmütigen Ton angeeignet. Der bescheidene und arbeitsame Alexejew und der diplomatische Brussilow duldeten die Geringschätzung, doch war diese Taktik unangebracht in bezug auf den selbstgefälligen und leicht verletzbaren Kornilow, der ... seinerseits von oben herab auf den Advokaten Kerenski blickte.“ Der Schwächere von beiden war zu Konzessionen bereit und bot ernstliche Avancen. Mindestens sagte Ende Juli Kornilow zu Denikin, aus Regierungskreisen sei ihm vorgeschlagen worden, dem Kabinett beizutreten. „Aber nein! Diese Herren sind zu sehr mit den Sowjets verbunden ... Ich sagte ihnen: geben Sie mir die Macht, und ich werde einen entscheidenden Kampf führen.“

Unter Kerenskis Füßen schwankte der Boden wie Torfmoor. Einen Ausweg suchte er, wie immer, auf dem Gebiet der Wortimprovisationen: sammeln, verkünden, erklären. Der persönliche Erfolg am 21. Juli, der ihn in der Eigenschaft eines Unersetzlichen über die kämpfenden Lager der Demokratie und Bourgeoisie erhoben hatte, gab Kerenski die Idee der Staatsberatung in Moskau ein. Was im geschlossenen Saal des Winterpalais vor sich ging, sollte auf die offene Bühne übertragen werden. Möge das Land mit eigenen Augen sehen, daß alles auseinanderfällt, wenn Kerenski nicht Zügel und Peitsche in die Hand nimmt!

Zur Teilnahme an der Staatsberatung wurden – nach der offiziellen Liste – hinzugezogen „Vertreter politischer, öffentlicher, demokratischer, nationaler Organisationen, Handels-, Industrie- und Kooperativverbände, Leiter der Organe der Demokratie, höhere Vertreter der Armee, wissenschaftliche Institutionen und Universitäten sowie die Mitglieder aller vier Reichsdumas.“ Man hatte mit etwa 1.500 Teilnehmern gerechnet, etwa 2.500 versammelten sich, wobei die Erweiterung ausschließlich zugunsten des rechten Flügels erfolgt war. Die Moskauer Zeitung der Sozialrevolutionäre schrieb vorwurfsvoll an die Adresse ihrer Regierung: „150 Vertretern der Arbeit stehen 120 Vertreter der Handels- und Industrieklasse gegenüber. Auf 100 Bauerndeputierte werden 100 Vertreter der Bodenbesitzer eingeladen. Auf 100 Sowjetvertreter kommen 300 Reichsdumamitglieder ...“ Die Zeitung der Partei Kerenskis äußerte Zweifel, daß eine solche Beratung der Regierung „jene Stütze, die sie sucht“, bieten könne.

Die Versöhnler fuhren zur Beratung schweren Herzens: Man muß, trösteten sie einander, den ehrlichen Versuch einer Verständigung machen. Aber was mit den Bolschewiki tun? Man mußte um jeden Preis ihre Einmischung in den Dialog der Demokratie mit den besitzenden Klassen verhindern. Durch eine besondere Verfügung des Exekutivkomitees wurden die Parteifraktionen des Rechts beraubt, ohne Zustimmung des Präsidiums aufzutreten. Die Bolschewiki hatten beschlossen, namens ihrer Partei eine Deklaration abzugeben und die Beratung zu verlassen. Das Präsidium, das jede ihrer Bewegungen scharf überwachte, verlangte von ihnen Verzicht auf dieses verbrecherische Vorhaben. Daraufhin gaben die Bolschewiki ohne Zaudern die Eintrittskarten zurück. Sie bereiteten eine andere, eindrucksvollere Antwort vor: das Wort hatte das proletarische Moskau.

Fast von den ersten Revolutionstagen an stellten die Ordnungsanhänger bei jeder passenden Gelegenheit das ruhige „Land“ dem unruhigen Petrograd gegenüber. Die Einberufung der Konstituierenden Versammlung nach Moskau war eine der Parolen der Bourgeoisie. Der nationalliberale „Marxist“ Potressow sandte Flüche gegen Petrograd, das sich einbilde, „ein neues Paris“ zu sein. Als hätten nicht die Girondisten gegen das alte Paris gewettert und ihm nahegelegt, seine Rolle auf ein Dreiundachtzigstel zu beschränken. Ein Provinzmenschewik sagte im Juni auf dem Sowjetkongreß: „Irgendein Nowotscherkassk spiegelt viel wahrheitsgetreuer die Lebensbedingungen des gesamten Rußland wider als Petrograd.“ Im Grunde suchten Versöhnler wie Bourgeoisie eine Stütze nicht in den wirklichen Stimmungen des „Landes“ sondern in der von ihnen selbst geschaffenen tröstlichen Illusion. Jetzt, wo es bevorstand, den politischen Puls Moskaus zu prüfen, erwartete die Organisatoren der Beratung bitterste Enttäuschung.

Die seit den ersten Augusttagen einander ablösenden konterrevolutionären Beratungen, beginnend mit dem Kongreß der Bodenbesitzer bis zur Kirchenversammlung, hatten nicht nur die besitzenden Kreise Moskaus mobilisiert, sondern auch die Arbeiter und Soldaten auf die Beine gebracht. Rjabuschinskis Drohungen, Rodsjankos Aufrufe, die Verbrüderung der Kadetten mit den Kosakengeneralen – das alles spielte sich vor den Augen der unteren Schichten Moskaus ab, das alles wurde von den bolschewistischen Agitatoren nach den heißen Spuren der Zeitungsberichte ausgedeutet. Die Gefahr der Konterrevolution nahm diesmal greifbare, sogar personelle Formen an. Durch Fabriken und Werkstätten ging eine Empörungswelle. „Wenn die Sowjets ohnmächtig sind“, schrieb das Moskauer Blatt der Bolschewiki, „dann muß sich das Proletariat um seine lebensfähigen Organisationen zusammenschließen.“ Auf den ersten Platz rückten die Gewerkschaften, die bereits in ihrer Mehrheit unter bolschewistischer Leitung standen. Die Stimmung in den Betrieben war der Staatsberatung derart feindlich, daß der von unten aufgetauchte Gedanke des Generalstreiks in der Versammlung sämtlicher Zellenvertreter der Moskauer bolschewistischen Organisation fast widerspruchslos angenommen wurde. Die Gewerkschaften ergriffen die Initiative. Der Moskauer Sowjet sprach sich mit einer Mehrheit von 364 zu 304 Stimmen gegen den Streik aus. Da aber in den Fraktionssitzungen die menschewistischen und sozialrevolutionären Arbeiter für den Streik gestimmt und sich nur der Parteidisziplin unterworfen hatten, so konnte der Beschluß des seit langem nicht mehr neu gewählten Sowjets, überdies gegen den Willen der faktischen Mehrheit angenommen, die Moskauer Arbeiter am allerwenigsten zurückhalten. Eine Versammlung der Verwaltungsmitglieder von einundvierzig Gewerkschaften beschloß, die Arbeiter zu einem eintägigen Proteststreik aufzurufen. Die Bezirkssowjets waren in der Mehrzahl auf seiten der Partei und der Gewerkschaften. Die Betriebe stellten sogleich die Forderung nach einer Neuwahl des Moskauer Sowjets, der nicht nur hinter den Massen zurückgeblieben, sondern auch in scharfen Gegensatz zu ihnen geraten war. Im Samoskworetzker Bezirkssowjet und den dortigen Fabrikkomitees vereinigte die Forderung nach Ersetzung der Deputierten, „die gegen den Willen der Arbeiterklasse“ handelten, 175 gegen 4 Stimmen bei 19 Stimmenthaltungen!

Die Nacht vor dem Streik war für die Moskauer Bolschewiki nichtsdestoweniger eine unruhige Nacht. Das Land ging den Weg Petrograds, blieb aber hinter Petrograd zurück. Die Julidemonstration in Moskau hatte mit einem Mißerfolg geendet: die Mehrheit nicht nur der Garnison, sondern auch der Arbeiter hatte nicht gewagt, gegen die Stimme des Sowjets auf die Straße zu gehen. Wie wird es diesmal werden? Der Morgen brachte die Antwort. Der Widerstand der Versöhnler hatte nicht verhindern können, daß der Streik zu einer machtvollen Demonstration der Feindschaft gegen Koalition und Regierung wurde. Zwei Tage zuvor hatte die Zeitung der Moskauer Industriellen selbstsicher geschrieben: „Mag doch die Petrograder Regierung so schnell wie möglich nach Moskau kommen, mag sie die Stimme der Heiligtümer, der Glocken der heiligen Kremltürme vernehmen“ ... Heute war die Stimme der Heiligtümer übertönt von der Stille vor dem Sturm.

Das Mitglied des Moskauer Komitees der Bolschewiki Pjatnitzki, schrieb später: „Der Streik ... verlief großartig. Es gab kein Licht, keine Trambahn; Fabriken, Betriebe, Eisenbahnwerkstätten und -depots feierten, sogar die Kellner in den Restaurants streikten.“ Miljukow brachte in das Bild einen grellen Strich hinein: „Die zur Beratung eingetroffenen Delegierten ... konnten weder mit der Tram fahren, noch im Restaurant frühstücken“: das gestattete ihnen, nach dem Geständnis des liberalen Historikers, um so besser die Macht der zur Beratung nicht zugelassenen Bolschewiki einzuschätzen. Die Iswestja des Moskauer Sowjets kennzeichnete erschöpfend die Bedeutung der Manifestation vom 12. August: „Entgegen dem Beschluß des Sowjets ... folgten die Massen den Bolschewiki.“ Vierhunderttausend Arbeiter streikten in Moskau und Umgebung auf Aufforderung der Partei, die seit fünf Wochen dauernd Schlägen ausgesetzt gewesen und deren Führer sich noch immer verborgen hielten oder in Gefängnissen saßen. Das neue Petrograder Parteiorgan Proletarij konnte noch, bevor es verboten wurde, an die Versöhnler die Frage richten: „Aus Petrograd nach Moskau, und aus Moskau wohin?“

Die Herren der Lage mußten sich wohl selbst diese Frage stellen. In Kiew, Kostroma, Zarizyn wurden eintägige Proteststreiks, allgemeine oder Teilstreiks, durchgeführt. Die Agitation ergriff das ganze Land. Überall, auch in den entferntesten Winkeln, warnten die Bolschewiki, die Staatsberatung trage „den ausgesprochenen Charakter einer konterrevolutionären Verschwörung“: gegen Ende August offenbarte sich die Richtigkeit dieser Formel restlos vor den Augen des ganzen Volkes.

Die Delegierten der Beratung sowie das bürgerliche Moskau erwarteten bewaffnete Massenaufmärsche, Zusammenstöße, Kämpfe, „Augusttage“. Aber auf die Straße zu gehen, hätte für die Arbeiter geheißen, sich den Schlägen der Georgsritter, Offiziersabteilungen, Junker, einzelner Kavallerieteile auszusetzen, die vor Revancheverlangen wegen des Streiks brannten. Die Garnison auf die Straße zu rufen, hätte bedeutet, Spaltung in sie hineinzutragen und der Konterrevolution die Sache zu erleichtern, die mit gespanntem Hahn dastand. Die Partei rief nicht auf die Straße, und die Arbeiter, von einem richtigen Instinkt geleitet, mieden offene Zusammenstöße. Der eintägige Streik entsprach, wie es besser nicht möglich war, der Situation: man konnte ihn nicht unter das grüne Tuch verstecken, wie es die Beratung mit der Deklaration der Bolschewiki getan hatte. Als die Stadt sich in Dunkelheit hüllte, erkannte ganz Rußland die bolschewistische Hand am Stromschalter. Nein, Petrograd ist nicht isoliert „In Moskau, auf dessen patriarchalisches Wesen und dessen Demut so viele gehofft hatten, fletschten die Arbeiterbezirke ganz unerwartet die Zähne“, so kennzeichnete die Bedeutung des Tages Suchanow. In Abwesenheit der Bolschewiki, aber im Zeichen der gefletschten Zähne der proletarischen Revolution war die Koalitionsberatung zu tagen gezwungen.

Die Moskauer spotteten: Kerenski sei zu ihnen „zur Krönung“ gekommen. Doch am nächsten Tage traf aus dem Hauptquartier mit dem gleichen Ziele Kornilow ein, empfangen von zahlreichen Delegationen, darunter auch einer der Kirchenversammlung. Auf den Perron sprangen aus dem einlaufenden Zuge Tekiner in langen grellroten Mänteln mit gezückten Krummsäbeln und stellten sich in Doppelreihen auf. Begeisterte Damen bewarfen den Helden, der Wachen und Deputationen abschritt, mit Blumen. Der Kadett Roditschew schloß seine Begrüßungsrede mit dem Ruf: „Retten Sie Rußland, und das dankbare Volk wird Sie krönen.“ Patriotische Schluchzer ertönten. Die vielfache Millionärin und Kaufmannsfrau Morosow fiel in die Knie. Offiziere trugen Kornilow auf den Händen zum Volke. Während der Höchstkommandierende die Front der Georgskavaliere, Junker, Fähnrichsschüler, Kosakenhundertschaft auf dem Platz vor dem Bahnhof abschritt, nahm Kerenski als Kriegsminister und Rivale die Truppenparade der Moskauer Garnison ab. Vom Bahnhof begab sich Kornilow, den Spuren der Zaren folgend, zum Iwerschen Heiligenbild, vor dem ein Gottesdienst abgehalten wurde in Gegenwart einer Eskorte von muselmanischen Tekinern mit gigantischen kaukasischen Pelzmützen. „Dieser Umstand“, schreibt über den Gottesdienst der Kosakenoffizier Grekow, „hat das gesamte gläubige Moskau noch mehr für Kornilow eingenommen.“ Die Konterrevolution war unterdessen bemüht, die Straße für sich zu gewinnen. Aus Automobilen verteilte man großzügig Kornilows Biographie mit seinem Porträt. Die Mauern waren mit Plakaten beklebt, die das Volk zur Hilfeleistung für den Helden aufriefen. Wie ein Herrscher empfing Kornilow in seinem Waggon Politiker, Industrielle und Finanzleute. Vertreter der Banken erstatteten ihm Bericht über die Finanzlage des Landes. „Von allen Dumamitgliedern“, schreibt bedeutungsvoll der Oktobrist Schidlowski, „begab sich zu Kornilow in den Zug nur Miljukow, der mit ihm eine Unterredung hatte, deren Inhalt mir nicht bekannt ist.“ Über dieses Gespräch werden wir später durch Miljukow selbst erfahren, was zu berichten er für notwendig halten wird.

Die Vorbereitung der Militärumwälzung war zu dieser Zeit bereits in vollem Gange. Einige Tage vor der Beratung hatte Kornilow, unter dem Vorwand der Hilfeleistung für Riga, befohlen, für den Marsch auf Petrograd vier Kavalleriedivisionen in Bereitschaft zu halten. Das Orenburger Kosakenregiment war vom Hauptquartier nach Moskau entsandt worden „zur Sicherung der Ordnung“, wurde aber auf Kerenskis Befehl unterwegs aufgehalten. In seinen späteren Angaben vor der Untersuchungskommission in Sachen Kornilow sagte Kerenski aus: „Wir erhielten die Nachricht, daß während der Moskauer Beratung die Diktatur proklamiert werden würde.“ So beschäftigten sich in den feierlichen Tagen der nationalen Einheit Kriegsminister und Höchstkommandierender mit strategischen Truppenverschiebungen gegeneinander. Doch das Dekorum wurde nach Möglichkeit gewahrt. Die Beziehungen der beiden Lager schwankten zwischen offiziell freundschaftlichen Versicherungen und Bürgerkrieg.

In Petrograd wurden trotz der Zurückhaltung der Massen – die Julierfahrung war nicht spurlos geblieben – von oben, aus Stäben und Redaktionen, mit toller Beharrlichkeit Gerüchte verbreitet über einen bevorstehenden Aufstand der Bolschewiki. Die Petrograder Parteiorganisationen warnten in einem offenen Aufruf die Massen vor der Möglichkeit provokatorischer Appelle seitens der Feinde. Der Moskauer Sowjet traf inzwischen seine Maßnahmen. Es wurde ein nichtöffentliches revolutionäres Komitee aus sechs Personen geschaffen, je zwei Delegierte von jeder Sowjetpartei einschließlich der Bolschewiki. Durch einen Geheimbefehl wurde verboten, auf dem Weg, den Kornilow zu passieren hatte, Spaliere aus Georgsrittern, Offizieren und Junkern aufzustellen. Den Bolschewiki, denen seit den Julitagen der Zutritt zu den Kasernen offiziell verboten war, stellte man jetzt bereitwillig Passierscheine aus: ohne Bolschewiki konnte man die Soldaten nicht gewinnen. Während auf offener Bühne Menschewiki und Sozialrevolutionäre mit der Bourgeoisie über Schaffung einer festen Macht gegen die von den Bolschewiki geleiteten Massen verhandelten, bereiteten hinter den Kulissen die gleichen Menschewiki und Sozialrevolutionäre gemeinsam mit den von ihnen zur Beratung nicht zugelassenen Bolschewiki die Massen auf den Kampf gegen die Verschwörung der Bourgeoisie vor. Die Versöhnler, die sich noch gestern dem Demonstrationsstreik widersetzt hatten, riefen heute die Arbeiter und Soldaten auf, zum Kampfe zu rüsten. Die verachtungsvolle Empörung der Massen hinderte diese nicht, auf die Aufforderung mit einer Kampfbereitschaft zu reagieren, die die Versöhnler mehr erschreckte als erfreute. Die schreiend krasse Zwiespältigkeit, die den Charakter eines fast offenen Treubruches nach zwei Richtungen hin annahm, wäre unbegreiflich, würden die Versöhnler ihre Politik bewußt getrieben haben; in Wirklichkeit hatten sie nur deren Folgen zu erdulden.

Große Ereignisse hingen merklich in der Luft. Aber in den Tagen der Beratung war die Umwälzung offenbar von niemand geplant gewesen. Jedenfalls findet sich keine Bestätigung der Gerüchte, auf die sich Kerenski später berief, weder in Dokumenten, noch in der Versöhnlerliteratur, noch in den Memoiren des rechten Flügels. Es handelte sich einstweilen nur um die Vorbereitungen. Nach Miljukows Worten – und seine Angaben decken sich mit der weiteren Entwicklung der Ereignisse – hatte Kornilow selbst bereits vor der Beratung das Datum seines Vorgehens gewählt: den 27. August. Dieses Datum war selbstverständlich nur wenigen bekannt. Die Halbeingeweihten rückten, wie stets in solchen Fällen, den Tag der großen Ereignisse näher heran, und die vorauseilenden Gerüchte liefen von allen Seiten bei den Behörden ein: es schien, als müsse sich der Schlag die nächste Stunde entladen.

Aber gerade die erregte Stimmung der Bourgeoisie und Offizierskreise hätte in Moskau leicht, wenn nicht zum Versuch einer Umwälzung, so doch zu einer konterrevolutionären Demonstration zwecks Kraftprobe führen können. Noch wahrscheinlicher wäre der Versuch gewesen, aus der Mitte der Beratung heraus irgendein mit den Sowjets konkurrierendes Zentrum für die Rettung des Vaterlandes zu schaffen: davon sprach die rechte Presse ganz offen. Aber auch hierzu kam es nicht: die Massen verhinderten es. Mochte auch manchem der Gedanke vorgeschwebt haben, die Entscheidungsstunde zu beschleunigen, so mußte man sich unter dem Schlag des Streiks doch sagen: die Revolution zu überraschen, wird nicht gelingen, die Arbeiter und Soldaten sind auf der Hut, man muß es vertagen. Sogar die Volksprozession zum Iwerschen Heiligenbild, von Popen und Liberalen im Einverständnis mit Kornilow geplant wurde abgesagt.

Sobald sie erkannten, daß keine unmittelbare Gefahr bestand, beeilten sich Sozialrevolutionäre und Menschewiki so zu tun, als sei nichts Besonderes geschehen. Sie weigerten sich sogar, den Bolschewiki die Passierscheine für die Kasernen zu erneuern, obwohl man von dort dringend bolschewistische Redner verlangte. „Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan“, dürften sich mit pfiffiger Miene Zeretelli, Dan und Chintschuk, der damalige Vorsitzende des Moskauer Sowjets, gesagt haben. Die Bolschewiki gedachten aber gar nicht in die Lage des Mohren überzugehen. Sie waren erst daran, ihre Schuldigkeit zu tun.

 

 

Jede Klassengesellschaft benötigt einen einheitlichen Regierungswillen. Die Doppelherrschaft ist dem Wesen nach das Regime der sozialen Krise: die höchste Zerklüftung einer Nation darstellend, birgt sie in sich den offenen oder potentiellen Bürgerkrieg Keiner wollte länger die Doppelherrschaft. Im Gegenteil, alle sehnten sich nach einer starken, einigen „eisernen“ Macht. Die Juliregierung Kerenskis war ausgestattet mit unbeschränkten Vollmachten Die stille Absicht war, über Demokratie und Bourgeoisie, die einander paralysierten, mit beiderseitigem Einverständnis eine „richtige“ Macht zu stellen. Die Idee eines über den Klassen stehenden Schicksallenkers ist nichts anderes als die Idee des Bonapartismus.

Steckt man symmetrisch zwei Gabeln in einen Korken, dann kann er bei starken Schwankungen nach beiden Seiten sich sogar auf einem Stecknadelkopf halten: das eben ist das mechanische Modell des bonapartistischen Superarbiters. Der Grad der Solidarität einer solchen Macht, sieht man von internationalen Bedingungen ab, wird bestimmt durch die Stabilität des Gleichgewichts der antagonistischen Klassen im Innern des Landes. Mitte Mai bezeichnete Trotzki in einer Sitzung des Petrograder Sowjets Kerenski als den „mathematischen Punkt des russischen Bonapartismus“. Die Körperlosigkeit bei der Charakteristik beweist, daß dabei nicht die Person, sondern die Funktion gemeint war. Anfang Juli hatten, wie wir uns erinnern, sämtliche Minister auf Anweisung ihrer Parteien demissioniert und Kerenski die Schaffung einer neuen Regierung überlassen. Am 21. Juli wiederholte sich dieses Experiment in demonstrativer Form. Die feindlichen Parteien appellierten an Kerenski, jede sah in ihm einen Teil ihrer selbst, beide schworen ihm Treue. Trotzki schrieb aus dem Gefängnis: „Geleitet von Politikern, die vor jeder Sache Angst haben, wagte der Sowjet nicht, die Macht zu übernehmen. Die Vertreterin aller Cliquen des Besitzes, die Kadettenpartei, konnte die Macht noch nicht ergreifen. Es blieb nur übrig, einen großen Versöhnler, Vermittler, Schiedsrichter zu suchen.“

In dem von Kerenski im eigenen Namen veröffentlichten Manifest an das Volk wurde verkündet: „Ich, als Regierungshaupt ... glaube mich nicht berechtigt, davor zurückzuscheuen, daß Veränderungen [in der Machtkonstruktion] ... meine Verantwortung in Sachen der obersten Verwaltung steigern würden.“ Das ist die unverfälschliche Phraseologie des Bonapartismus. Und doch ging die Sache, trotz der Unterstützung von rechts und von links, über diese Phraseologie nicht hinaus. Was war der Grund?

Damit der kleine Korse sich über die junge bürgerliche Nation erheben konnte, war es notwendig, daß die Revolution zuvor ihre grundlegende Aufgabe, Zuteilung von Land an die Bauern, löste und daß auf der neuen sozialen Basis eine siegreiche Armee entstand. Weiter konnte eine Revolution im 18. Jahrhundert nicht gehen: sie konnte danach nur zurückrollen. Bei diesem Zurückrollen kamen allerdings ihre grundlegenden Eroberungen in Gefahr. Die mußten um jeden Preis geschützt werden. Der sich vertiefende, aber noch unreife Antagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat hielt die bis in ihre Festen erschütterte Nation in höchster Spannung. Ein nationaler „Richter“ war unter diesen Umständen unentbehrlich. Napoleon sicherte dem Großbourgeois die Möglichkeit der Bereicherung, den Bauern ihren Bodenbesitz, den Bauernsöhnen und Landstreichern die Gelegenheit, im Kriege zu plündern. Der Richter hielt in den Händen den Säbel und erfüllte selbst die Pflichten des Gerichtsvollziehers. Der Bonapartismus des ersten Bonaparte war solide fundiert.

Die Umwälzung von 1848 gab den Bauern kein Land und konnte es ihnen nicht geben: es war nicht eine große Revolution, die ein soziales Regime durch ein anderes ablöste, sondern eine politische Umschichtung auf der Basis des gleichen sozialen Regimes. Napoleon III. hatte hinter sich keine siegreiche Armee. Die beiden wichtigsten Elemente des klassischen Bonapartismus waren nicht vorhanden. Doch es gab andere günstige, nicht weniger wirksame Momente. Das während eines halben Jahrhunderts herangewachsene Proletariat zeigte im Juni seine dräuende Kraft; jedoch zur Machtergreifung erwies es sich noch nicht fähig. Die Bourgeoisie fürchtete das Proletariat und fürchtete ihren blutigen Sieg über das Proletariat. Der bäuerliche Besitzer erschrak vor dem Juniaufstand und wollte durch den Staat gegen den Teiler geschützt sein. Schließlich eröffnete der mächtige Industrieaufstieg, der mit kleinen Stockungen sich über zwei Jahrzehnte erstreckte, der Bourgeoisie ungeahnte Bereicherungsquellen. Diese Bedingungen waren nicht ausreichend für den epigonenhaften Bonapartismus.

Die Politik Bismarcks, der sich ebenfalls „über die Klassen“ erhob, enthielt, worauf wiederholt hingewiesen wurde, zweifellos bonapartistische Züge, wenn auch unter der Hülle des Legitimismus. Die Stabilität des Bismarckschen Regimes wurde dadurch gesichert, daß es, entstanden nach der impotenten Revolution zur Lösung oder Halblösung einer so großen nationalen Aufgabe wie der deutschen Einheit führte, in drei Kriegen Siege, Kontributionen und die mächtige kapitalistische Blüte brachte. Dies genügte für Jahrzehnte.

Das Unglück der russischen Bonapartekandidaten bestand nicht darin, daß sie weder dem ersten Napoleon noch auch nur Bismarck ähnelten: die Geschichte vermag sich auch mit Surrogaten zu begnügen. Aber sie hatten gegen sich eine große Revolution, die ihre Aufgaben noch nicht gelöst und ihre Kräfte noch nicht erschöpft hatte. Den Bauer, der noch keinen Boden erhalten hatte, zwang die Bourgeoisie, für den gutsherrlichen Boden Krieg zu führen. Der Krieg brachte nur Niederlagen. Von einem industriellen Aufstieg war nicht die Rede im Gegenteil, der Zerfall schuf immer neue Verwüstungen. Wenn das Proletariat zurückwich, dann nur, um seine Reihen fester zusammenzuschließen. Die Bauernschaft setzte sich erst in Schwung für den letzten Ansturm auf die Herren. Die unterdrückten Nationalitäten ergriffen die Offensive gegen den russifizierenden Despotismus. Auf der Suche nach Frieden schloß sich die Armee immer enger den Arbeitern und deren Partei an. Die unteren Schichten verschmolzen, die Spitzen wurden schwächer. Ein Gleichgewicht bestand nicht. Die Revolution blieb vollblütig. Da ist es nicht verwunderlich, daß sich der Bonapartismus als blutarm erwies.

Marx und Engels verglichen die Rolle des bonapartistischen Regimes im Kampfe zwischen Bourgeoisie und Proletariat mit der Rolle der alten absolutistischen Monarchie im Kampfe zwischen Feudalen und Bourgeoisie. Ähnlichkeitszüge sind unbestreitbar, doch hören sie gerade dort auf, wo der soziale Inhalt der Macht hervortritt. Die Rolle des Schiedsrichters zwischen den Elementen der alten und der neuen Gesellschaft konnte in einer gewissen Periode sich als nötig erweisen, insofern beide Ausbeutungsregime eines Schutzes gegen die Ausgebeuteten bedurften. Doch schon zwischen den Feudalen und den leibeigenen Bauern konnte es keine „unparteiische“ Vermittlung geben. Zwischen den Interessen des gutsherrlichen Bodenbesitzes und des jungen Kapitalismus ausgleichend, trat das zaristische Selbstherrschertum in bezug auf die Bauern nicht als Vermittler auf, sondern als Bevollmächtigter der ausbeutenden Klassen.

Auch der Bonapartismus war nicht Schiedsrichter zwischen Proletariat und Bourgeoisie: er war in Wirklichkeit die konzentrierteste Macht der Bourgeoisie über das Proletariat. Indem er mit den Stiefeln auf den Nacken der Nation steigt, kann der jeweilige Bonaparte keine andere Politik verfolgen als die des Schutzes von Eigentum, Rente und Profit. Die Besonderheiten des Regimes erstrecken sich nur auf die Mittel des Schutzes. Der Wächter steht nicht am Tore, sondern sitzt auf dem Dache des Hauses; aber seine Funktion ist die gleiche. Die Unabhängigkeit des Bonapartismus ist im großen Maße eine äußerliche, zur Schau gestellte, dekorative: ihr Symbol ist der Imperatorenmantel.

Wenngleich er geschickt die Angst des Bourgeois vor dem Arbeiter ausnutzte, blieb Bismarck in allen seinen politischen und sozialen Reformen unabänderlich Bevollmächtigter der besitzenden Klassen, denen er niemals untreu wurde. Dagegen erlaubte ihm der wachsende Druck des Proletariats zweifellos, sich über Junkertum und Kapitalismus als gewichtiger bürokratischer Schiedsrichter zu erheben: darin eben bestand seine Funktion.

Das Sowjetsystem duldet eine bedeutende Unabhängigkeit der Macht gegenüber Proletariat und Bauernschaft, folglich auch die „Vermittlung“ zwischen ihnen, insofern beider Interessen, wenn sie auch Reibungen und Konflikte erzeugen, in ihrer Grundlage jedoch nicht unversöhnlich sind. Aber es wäre nicht leicht, einen „unparteiischen“ Schiedsrichter zu finden zwischen Sowjetstaat und Bourgeoisie, zumindest in der Sphäre der grundlegenden Interessen beider Parteien. Sich dem Völkerbund anzuschließen, hindern die Sowjetunion in der internationalen Arena die gleichen sozialen Ursachen, die im nationalen Rahmen die Möglichkeit einer wirklichen, nicht bloß zur Schau gestellten „Unparteilichkeit“ der Macht im Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat ausschließen.

Ohne die Macht des Bonapartismus zu besitzen, besaß die Kerenskiade alle seine Laster. Sie erhob sich über die Nation nur, um sie durch die eigene Ohnmacht zu ersetzen. Wenn in Worten die Führer der Bourgeoisie und der Demokratie auch versprachen, Kerenski zu „gehorchen“, so gehorchte der allmächtige Schiedsrichter in Wirklichkeit Miljukow und besonders Buchanan. Kerenski führte den imperialistischen Krieg, schützte den gutsherrlichen Besitz gegen Attentate, vertagte die sozialen Reformen auf bessere Zeiten. War seine Regierung schwach, so aus dem gleichen Grunde, aus dem die Bourgeoisie ihre eigenen Männer nicht an die Macht zu stellen vermochte. Doch bei aller Bedeutungslosigkeit der „Rettungsregierung“ wuchs ihr konservativ-kapitalistischer Charakter sichtlich zugleich mit ihrer „Unabhängigkeit“.

Die Einsicht, daß das Kerenski-Regime die für die gegebene Periode unvermeidliche Form der bürgerlichen Herrschaft darstellte, schloß bei den bürgerlichen Politikern weder höchste Unzufriedenheit mit Kerenski aus, noch die Vorbereitung darauf, sich von ihm so schnell wie möglich zu befreien. Unter den besitzenden Klassen herrschten keine Meinungsverschiedenheiten darüber, daß dem von der kleinbürgerlichen Demokratie emporgehobenen nationalen Schiedsrichter eine Figur aus den eigenen Reihen gegenübergestellt werden müsse. Weshalb gerade Kornilow? Der Kandidat für den Bonaparte mußte dem Charakter der russischen Bourgeoisie, der verspäteten, vom Volke getrennten, verfallenden, talentlosen Bourgeoisie, entsprechen. In der Armee, die fast nur entwürdigende Niederlagen kannte, war es nicht leicht, einen populären General zu finden. Kornilow wurde in den Vordergrund geschoben nach Ausscheidung der übrigen Kandidaten, die noch unfähiger waren.

Somit konnten die Versöhnler sich mit den Liberalen weder ernsthaft in einer Koalition zusammenschließen noch auf einen Retterkandidaten einigen: es hinderten sie die ungelösten Aufgaben der Revolution. Die Liberalen trauten den Demokraten nicht. Die Demokraten trauten den Liberalen nicht. Kerenski öffnete zwar der Bourgeoisie weit seine Arme; aber Kornilow gab unzweideutig zu verstehen, daß er bei der ersten Gelegenheit der Demokratie das Genick umdrehen werde. Der Zusammenstoß zwischen Kornilow und Kerenski, der sich unabwendbar aus der vorangegangenen Entwicklung ergab, war die Übersetzung der Widersprüche der Doppelherrschaft in die explosive Sprache persönlichen Ehrgeizes.

Wie sich in Petrograd Anfang Juli in Proletariat und Garnison eine ungeduldige, mit der zu vorsichtigen Politik der Bolschewiki unzufriedene Phalanx bildete, so häufte sich in den besitzenden Klassen Anfang August eine ungeduldige Stimmung gegen die abwartende Politik der kadettischen Leitung an. Diese Stimmung kam beispielsweise auf dem Kadettenkongreß zum Ausdruck wo Forderungen laut wurden, Kerenski zu stürzen. Noch schroffer äußerte sich die politische Ungeduld außerhalb des Rahmens der Kadettenpartei, in den Militärstäben, wo man in ständiger Angst vor den Soldaten lebte, in den Banken, wo man in Inflationswellen ertrank, auf den Gütern, wo über den adligen Häuptern die Dächer aufloderten. „Es lebe Kornilow!“ wurde die Parole der Hoffnung, Verzweiflung und Rachgier.

In allem dem Programm Kornilows zustimmend, opponierte Kerenski bezüglich der Fristen: „Es geht nicht alles auf einmal.“ Die Notwendigkeit, sich Kerenskis zu entledigen, zugebend, erwiderte Miljukow den Ungeduldigen: „Jetzt ist es vielleicht noch zu früh.“ Wie aus dem Drängen der Petrograder Massen ein halber Aufstand im Juli erwuchs, so erwuchs aus der Ungeduld der Besitzenden der Kornilowsche Aufstand im August. Und wie sich die Bolschewiki gezwungen sahen, den Boden der bewaffneten Demonstration zu betreten, um, wenn möglich, deren Erfolg zu sichern und jedenfalls sie vor einer Zertrümmerung zu bewahren, sahen sich die Kadetten gezwungen, mit den gleichen Zielen Boden des Kornilowschen Aufstandes zu betreten. Innerhalb dieser Grenzen läßt sich eine erstaunliche Symmetrie beobachten. Aber im Rahmen dieser Symmetrie herrscht völliger Gegensatz der Ziele, Methoden und – Resultate. Er wird sich vor uns vollends im Laufe der Ereignisse entrollen.

 


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003