Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 1: Februarrevolution

 

Kapitel 1:
Die Eigenarten der Entwicklung Rußlands

Der grundlegende, beständigste Charakterzug der Geschichte Rußlands ist dessen verspätete Entwicklung mit der sich daraus ergebenden ökonomischen Rückständigkeit, Primitivität der Gesellschaftsformen und dem tiefen Kulturniveau.

Die Bevölkerung der gigantischen, rauhen, den östlichen Winden und asiatischen Eindringlingen geöffneten Ebene war von Natur aus zu weitem Zurückbleiben verurteilt. Der Kampf mit den Nomaden wähnte fast bis zum Ende des siebzehnten Jahrhunderts. Der Kampf mit den Winden, die im Winter Frost, im Sommer Dürre bringen, ist auch heute noch nicht beendet. Die Landwirtschaft – die Grundlage der gesamten Entwicklung – schritt auf extensiven Wegen vorwärts: im Norden wurden die Wälder abgeholzt und niedergebrannt, im Süden die Ursteppen aufgerissen; das Besitzergreifen von Natur ging in die Breite, nicht in die Tiefe.

Während die westlichen Barbaren sich auf den Ruinen der römischen Kultur ansiedelten, wo viele alte Steine ihnen als Baumaterial dienten, fanden die Slawen des Ostens in der trostlosen Ebene keinerlei Erbe vor: ihre Vorgänger hatten auf einer noch tieferen Stufe als sie selbst gestanden. Die westeuropäischen Völker, die bald an ihre natürlichen Grenzen stoßen mußten, schufen die ökonomische und kulturelle Zusammenballungen: die gewerbetreibenden Städte. Die Bevölkerung der Ostebene zog sich beim ersten Anzeichen von Enge in die Wälder zurück oder wanderte an die Peripherie ab, in die Steppe. Die initiativ- und unternehmungslustigen Elemente der Bauernschaft wurden im Westen Städter, Handwerker, Kaufleute. Die aktiven und kühnen Elemente des Ostens wurden einesteils Händler, größtenteils jedoch Kosaken, Grenzsiedler, Kolonisatoren. Der im Westen intensive Prozeß der sozialen Differenzierung wurde im Osten aufgehalten und durch den Expansionsprozeß verwischt. „Der Zar der Moskowiter, obwohl christlich, herrscht über Menschen von faulem Geist“, schrieb Vico, der Zeitgenosse Peters 1. Der „faule Geist“ der Moskowiter war ein Abbild des langsamen Tempos der wirtschaftlichen Entwicklung, der Ungeformtheit der Klassenbeziehungen, der Armut der inneren Geschichte.

Die alten Zivilisationen Ägyptens, Indiens und Chinas besaßen einen ausreichend selbstgenügsamen Charakter und verfügten über ausreichende Zeit, um trotz tiefstehender Produktionskräfte ihre sozialen Beziehungen fast zur gleichen, bis ins einzelne gehenden Vollendung zu bringen, zu der die Handwerker dieser Länder ihre Erzeugnisse brachten. Rußland lag nicht nur geographisch zwischen Europa und Asien, sondern auch sozial und historisch. Es unterschied sich vom europäischen Westen, aber auch vom asiatischen Osten und näherte sich während verschiedener Perioden in verschiedener Hinsicht bald dem einen, bald dem anderen. Der Osten brachte das tatarische Joch das als wichtiges Element in den Aufbau des russischen Staates einging. Der Westen war ein noch gefährlicherer Feind, aber gleichzeitig Lehrer. Rußland hatte keine Möglichkeit, sich in den Formen des Ostens herauszubilden, weil es gezwungen war, sich stets dem militärischen und ökonomischen Druck des Westens anzupassen.

Das Bestehen feudaler Beziehungen in Rußland, von den alten Historikern verneint, kann man auf Grund neuer Forschungen als unbedingt nachgewiesen betrachten. Mehr noch: die Grundelemente des russischen Feudalismus waren die gleichen wie im Westen. Aber schon allein die Tatsache, daß die feudale Epoche erst durch lange wissenschaftliche Streitigkeiten festgestellt werden mußte, ist ein genügendes Zeugnis für die Unreife des russischen Feudalismus, seine Ungeformtheit und die Dürftigkeit seiner Kulturdenkmäler.

Ein rückständiges Land eignet sich die materiellen und geistigen Eroberungen fortgeschrittener Länder an. Das heißt aber nicht, daß es ihnen sklavisch folgt und alle Etappen ihrer Vergangenheit reproduziert. Die Theorie von der Wiederholung historischer Zyklen – Vico und dessen spätere Anhänger – stützt sich auf Beobachtungen des Kreislaufs alter, vorkapitalistischer Kulturen, zum Teil auch auf die ersten Erfahrungen der kapitalistischen Entwicklung. Eine gewisse Wiederholung der Kulturstadien an immer neuen Herden war tatsächlich mit dem provinziellen und episodischen Charakter des gesamten Prozesses verbunden. Der Kapitalismus bedeutet jedoch die Überwindung dieser Bedingungen. Er bereitete vor und verwirklichte in gewissem Sinne die Universalität und Permanenz der Menschheitsentwicklung. Das allein schließt die Wiederholungsmöglichkeit der Entwicklungsformen einzelner Nationen aus. Gezwungen, den fortgeschrittenen Ländern nachzueifern, hält das rückständige Land die Reihenfolge nicht ein: das Privileg der historischen Verspätung – und ein solches Privileg besteht – erlaubt, oder richtiger gesagt, zwingt, sich das Fertige vor der bestimmten Zeit anzueignen, eine Reihe Zwischenetappen zu überspringen. Die Wilden vertauschen den Bogen gleich mit dem Gewehr, ohne erst den Weg durchzumachen, der in der Vergangenheit zwischen diesen Waffengattungen lag. Die europäischen Kolonisten in Amerika begannen die Geschichte nicht von neuem. Der Umstand, daß Deutschland oder die Vereinigten Staaten England ökonomisch überholt haben, war gerade durch die Verspätung ihrer kapitalistischen Entwicklung bedingt. Umgekehrt ist die konservative Anarchie in der britischen Kohlenindustrie, wie auch in den Köpfen Macdonalds und seiner Freunde, eine Quittung für die Vergangenheit, in der England zu lange die Rolle des kapitalistischen Hegemonen gespielt hat. Die Entwicklung einer historisch verspäteten Nation führe notgedrungen zu eigenartiger Verquickung verschiedener Stadien des historischen Prozesses. In seiner Gesamtheit bekommt der Kreislauf einen nicht planmäßigen, verwickelten, kombinierten Charakter.

Die Möglichkeit, Zwischenstufen zu überspringen, ist selbstverständlich keine absolute; ihr Ausmaß wird letzten Endes von der wirtschaftlichen und kulturellen Aufnahmefähigkeit des Landes bestimmt. Eine rückständige Nation drückt außerdem die Errungenschaften, die sie fertig von außen übernimmt, durch Anpassung an ihre primitivere Kultur hinab. Der Assimilationsprozeß selbst bekommt dabei einen widerspruchsvollen Charakter. So brachte die Einführung der Elemente westlicher Technik und Ausbildung, vor allein auf dem Gebiete des Militär- und Manufakturwesens unter Peter 1., die Verschärfung des Leibeigenschaftsrechtes als Grundform der Arbeitsorganisation mit sich. Europäische Rüstung und europäische Anleihen – das eine wie das andere zweifellos Produkte einer höheren Kultur – führten zur Befestigung des Zarismus, der seinerseits die Entwicklung des Landes hemmte.

Die geschichtliche Gesetzmäßigkeit hat nichts gemein mit pedantischem Schematismus. Die Ungleichmäßigkeit, das allgemeinste Gesetz des historischen Prozesses, enthüllt sich am krassesten und am verwickeltsten am Schicksal verspäteter Länder. Unter der Knute äußerer Notwendigkeit ist die Rückständigkeit gezwungen, Sprünge zu machen. Aus dem universellen Gesetz der Ungleichmäßigkeit ergibt sich ein anderes Gesetz, das man mangels passenderer Bezeichnung das Gesetz der kombinierten Entwicklung nennen kann im Sinne der Annäherung verschiedener Wegetappen, Verquickung einzelner Stadien, des Amalgams archaischer und neuzeitiger Formen. Ohne dieses Gesetz, selbstverständlich in seinem gesamten materiellen Inhalt genommen, vermag man die Geschichte Rußlands wie überhaupt aller Länder zweiten, dritten und zehnten Kulturaufgebots nicht zu erfassen.

Unter dem Druck des reicheren Europa verschlang der Staat in Rußland einen verhältnismäßig viel größeren Teil des Volksvermögens als die Staaten im Westen und verurteilte damit nicht nur die Volksmassen zu doppelter Armut, sondern schwächte auch die Grundlagen der besitzenden Klassen. Da er gleichzeitig die Hilfe der letzteren benötigte, forcierte und reglementierte der Staat deren Bildung. Infolgedessen konnten sich die bürokratisierten privilegierten Klassen niemals in ganzer Höhe aufrichten, und um so mehr näherte sich der Staat in Rußland der asiatischen Despotie.

Das byzantinische Selbstherrschertum, das die Moskauer Zaren sich offiziell zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts angeeignet hatten, zähmte mit Hilfe des Adels das feudale Bojarentum und unterwarf sich den Adel, ihm gleichzeitig die Bauern versklavend, um sich auf dieser Grundlage in den Petersburger Imperatorenabsolutismus zu verwandeln. Die Verspätung dieses Prozesses wird dadurch zur Genüge charakterisiert, daß das Leibeigenschaftsrecht, das im sechzehnten Jahrhundert entstanden war, sich im siebzehnten ausgebildet und seine Blüte im achtzehnten erreicht hatte, rechtlich erst 1861 abgeschafft wurde.

Die Geistlichkeit hat nach dem Adel bei der Herausbildung des zaristischen Selbstherrschertums keine geringe, aber eine völlig dienende Rolle gespielt. Die Kirche erhob sich in Rußland niemals zu jener Kommandohöhe wie im katholischen Westen: sie begnügte sich mit der Stellung eines geistlichen Knechtes beim Selbstherrschertum und rechnete sich dies als Verdienst ihrer Demut an. Bischöfe und Metropoliten besaßen Macht nur als Bevollmächtigte der weltlichen Gewalt. Die Patriarchen wechselten zusammen mit den Zaren. In der Petersburger Periode wurde die Abhängigkeit der Kirche vom Staate noch sklavischer. Zweihunderttausend Priester und Mönche bildeten im wesentlichen einen Teil der Bürokratie, eine Art Glaubenspolizei. Als Gegenleistung wurden das Monopol der orthodoxen Geistlichkeit in Glaubensangelegenheiten, ihre Länder und Einkünfte von der allgemeinen Ordnungspolizei beschirmt.

Das Slawophilentum, dieser Messianismus der Rückständigkeit, begründete seine Philosophie damit, daß das russische Volk und dessen Kirche durch und durch demokratisch, das offizielle Rußland aber eine von Peter angepflanzte deutsche Bürokratie sei. Marx sagte dazu: „Ganz wie die teutonischen Esel den Despotismus Friedrichs II. usw. auf die Franzosen wälzen, als wenn zurückgebliebene Knechte nicht immer zivilisierte Knechte brauchten, um dressiert zu werden.“ Diese kurze Bemerkung erschöpft restlos nicht nur die alte Philosophie der Slawophilen, sondern auch die neuesten Offenbarungen der „Rassentümler“.

Die Kargheit nicht nur des russischen Feudalismus, sondern auch der ganzen altrussischen Geschichte fand ihren traurigsten Ausdruck im Mangel echt mittelalterlicher Städte als Handwerks- und Handelszentren. Das Handwerk hatte in Rußland keine Zeit gehabt, sich vom Ackerbau zu trennen, bewahrte vielmehr den Charakter der Heimarbeit, Die altrussischen Städte waren Handels-, Verwaltungs-, Heeres- und Adels-Zentren, folglich konsumierend, nicht produzierend. Sogar die der Mama verwandte Stadt Nowgorod, die das tatarische Joch nicht gekannt hatte, war nur eine Handels-, keine Gewerbestadt. Allerdings schuf die Verstreutheit der bäuerlichen Gewerbe in verschiedenen Bezirken das Bedürfnis nach einer Handelsvermittlung breiten Maßstabes. Doch vermochten die nomadischen Händler im öffentlichen Leben in keinem Falle jenen Platz einzunehmen, der im Westen der handwerklich-zünftigen und handelsgewerblichen Klein- und Mittelbourgeoisie zukam, die mit ihrer bäuerlichen Peripherie unzertrennlich verbunden waren. Die Hauptwege des russischen Handels führten überdies ins Ausland, sicherten die leitende Stellung seit alters her dem ausländischen Handelskapital und verliehen dem ganzen Umsatz, bei dem der russische Händler Mittler zwischen der westlichen Stadt und dem russischen Dorfe war, einen halb kolonialen Charakter. Diese Art ökonomischer Beziehung erfuhr eine weitere Entwicklung in der Epoche des russischen Kapitalismus und erreichte ihren höchsten Ausdruck im imperialistischen Kriege.

Die Bedeutungslosigkeit der russischen Städte, die zur Entstehung des asiatischen Staatstypus am meisten beigetragen hat, schloß insbesondere die Möglichkeit der Reformation aus, das heißt der Ablösung der feudal-bürokratischen Orthodoxie durch irgendeine modernisierte Abart eines den Bedürfnissen der bürgerlichen Gesellschaft angepaßten Christentums. Der Kampf gegen die Staatskirche ging nicht über die bäuerlichen Sekten, einschließlich der mächtigsten von ihnen, das altgläubige Schisma, hinaus.

Anderthalb Jahrzehnte vor der großen Französischen Revolution entbrannte in Rußland die Bewegung der Kosaken, Bauern und leibeigenen Uraler Arbeiter, die nach dem Namen ihres Führers Pugatschow benannt wurde. Was hatte diesem grimmigen Volksaufstande gefehlt, um sich in eine Revolution zu verwandeln? Der dritte Stand. Ohne die Handwerkerdemokratie der Städte vermochte sich der Bauernkrieg ebensowenig zu einer Revolution entwickeln, wie sich die Bauernsekten zu einer Reformation erheben konnten. Im Gegenteil, die Folge der Pugatschowschtschina war die Befestigung des bürokratischen Absolutismus, als des in schwierigen Stunden wieder bewährten Hüters der Adelsinteressen.

Die unter Peter formell begonnene Europäisierung des Landes wurde im Verlaufe des nächsten Jahrhunderts immer mehr zum Bedürfnis der herrschenden Klasse selbst, das heißt des Adels. Im Jahre 1825 griff die Adelsintelligenz, dieses Bedürfnis politisch verallgemeinernd, zur Militärverschwörung, mit dem Ziel der Einschränkung des Selbstherrschertums. Unter dem Druck der europäisch-bürgerlichen Entwicklung versuchte somit der fortschrittliche Adel, den fehlenden dritten Stand zu ersetzen. Doch wollte er das liberale Regime auf jeden Fall mit den Grundlagen seiner Standesherrschaft verquicken und fürchtete deshalb über alles, die Bauern aufzuwiegeln. Es ist nicht verwunderlich, daß die Verschwörung ein Unternehmen des glanzvollen, aber isolierten Offiziersstandes blieb, der sich dabei fast kampflos den Schädel einrannte. Dies war der Sinn des Dekabristenaufstandes.

Gutsherren, die Fabriken besaßen, waren die ersten ihres Standes, die sich der Ablösung der leibeigenen durch freie Arbeit geneigt zeigten. In die gleiche Richtung drückte der anwachsende Auslandsexport russischen Getreides. Im Jahre 1861 führte die adlige Bürokratie, gestützt auf die liberalen Gutsbesitzer, ihre Bauernreform durch. Der ohnmächtige bürgerliche Liberalismus bildete bei dieser Operation den gehorsamen Chor. Es ist überflüssig, zu sagen, daß der Zarismus Rußlands grundlegendes Problem, das heißt die Agrarfrage, noch engherziger und diebischer löste, als die preußische Monarchie im Laufe des nächsten Jahrzehnts Deutschlands grundlegendes Problem, das heißt dessen nationale Einigung. Die Lösung der Aufgabe einer Klasse durch die Hände einer anderen ist eben eine der kombinierten Methoden, die den rückständigen Ländern eigentümlich sind.

Am unbestrittensten jedoch enthüllt sich das Gesetz der kombinierten Entwicklung an Geschichte und Charakter der russischen Industrie. Spät entstanden, wiederholte sie die Entwicklung der fortgeschrittenen Länder nicht, sondern reihte sich in diese ein, indem sie deren neueste Errungenschaften der eigenen Rückständigkeit anpaßte. War Rußlands wirtschaftliche Evolution in ihrer Gesamtheit über die Epochen des Zunfthandwerks und der Manufaktur hinweggeschritten, so übersprangen einzelne Industriezweige eine Reihe von technisch-industriellen Etappen, die im Westen nach Jahrzehnten maßen. Infolgedessen entwickelte sich die russische Industrie zu gewissen Perioden in äußerst schnellem Tempo. Zwischen der ersten Revolution und dem Kriege stieg die russische Industrieproduktion annähernd um das Doppelte. Das erschien einigen russischen Historikern ein hinlänglicher Grund zu der Schlußfolgerung, daß man „von der Legende über Rückständigkeit und langsames Wachstum abkommen müsse“. [1] In Wirklichkeit wurde die Möglichkeit eines so schnellen Wachstums gerade durch die Rückständigkeit bestimmt, die sich – leider – nicht nur bis zum Augenblick der Liquidierung des alten Rußlands, sondern, als dessen Erbe, bis auf den heutigen Tag erhalten hat.

Der grundlegende Gradmesser des ökonomischen Niveaus einer Nation ist die Produktivität der Arbeit, die ihrerseits vom spezifischen Gewicht der Industrie in der Gesamtwirtschaft des Landes abhängt. Am Vorabend des Krieges, als das zaristische Rußland den Höhepunkt seines Wohlstandes erreicht hatte, war das Volkseinkommen pro Kopf acht- bis zehnmal geringer als in den Vereinigten Staaten, was nicht weiter verwunderlich ist, berücksichtigt man, daß vier Fünftel der selbständig werktätigen Bevölkerung Rußlands in der Landwirtschaft beschäftigt waren, während in den Vereinigten Staaten auf einen in der Landwirtschaft Beschäftigten 2,5 in der Industrie Beschäftigte gezählt wurden. Hinzugefügt sei noch, daß am Vorabend des Krieges in Rußland auf hundert Quadratkilometer 0,4 Kilometer Eisenbahn, in Deutschland 11,7, in Österreich-Ungarn 7 kamen. Die anderen vergleichenden Koeffizienten sind nämlicher Art.

Aber gerade auf dem Gebiete der Wirtschaft tritt, wie bereits gesagt, das Gesetz der kombinierten Entwicklung am stärksten hervor. Während die bäuerliche Landwirtschaft in ihrer Hauptmasse bis zur Revolution fast auf dem Niveau des siebzehnten Jahrhunderts verblieben war, stand Rußlands Industrie in bezug auf Technik und kapitalistische Struktur auf der Stufe der fortgeschrittenen Länder und eilte diesen in mancher Beziehung sogar voraus. Kleine Betriebe mit einer Arbeiterzahl bis 100 Mann umfaßten im Jahre 1914 in den Vereinigten Staaten 35% der gesamten Industriearbeiter, in Rußland nur 17,8%. Bei einem ungefähr gleichen spezifischen Gewicht der mittleren und größeren Unternehmen mit 100 bis 1.000 Arbeitern betrugen in den Vereinigten Staaten Riesenunternehmen mit über 1.000 Arbeitern 17,8% der gesamten Arbeiterzahl, in Rußland 41,4%. Für die wichtigsten Industriebezirke war dieser Prozentsatz noch höher: für den Petrograder 44,4%, für den Moskauer sogar 57,3%. Ähnliche Resultate ergeben sich, vergleicht man die russische Industrie mit der britischen oder deutschen. Diese Tatsache, die wir zum ersten Male im Jahre 1908 festgestellt haben, verträgt sich schlecht mit der Vorstellung von der ökonomischen Rückständigkeit Rußlands. Indes widerlegt sie die Rückständigkeit nicht, sondern ist deren dialektische Ergänzung.

Die Verschmelzung des Industriekapitals mit dem Bankkapital wurde in Rußland wiederum so vollständig durchgeführt wie wohl kaum in einem anderen Lande. Doch bedeutete die Abhängigkeit der Industrie von den Banken gleichzeitig ihre Abhängigkeit vom westeuropäischen Geldmarkt. Die Schwerindustrie (Metall, Kohle, Naphtha) befand sich fast restlos unter der Kontrolle des ausländischen Finanzkapitals, das sich ein Hilfs- und Vermittlungssystem von Banken in Rußland geschaffen hatte. Die Leichtindustrie ging denselben Weg. Gehörten im ganzen rund 40% des gesamten Aktienkapitals in Rußland Ausländern, so war für die führenden Industriezweige dieser Prozentsatz noch bedeutend höher. Man kann ohne jede Übertreibung behaupten, daß sich die Kontrollpakete der Aktien der russischen Banken, Werke und Fabriken im Auslande befanden, wobei der Kapitalanteil Englands, Frankreichs und Belgiens fast doppelt so groß als der Deutschlands war.

Die Entstehungsbedingungen der russischen Industrie und deren Struktur bestimmten den sozialen Charakter der russischen Bourgeoisie und deren politisches Gesicht. Die außerordentliche Konzentration der Industrie bedeutete schon an sich, daß zwischen den kapitalistischen Spitzen und den Volksmassen keine Hierarchie von Übergangsschichten bestand. Dazu kommt, daß die Besitzer der wichtigsten Industrie-, Bank- und Transportunternehmen Ausländer waren, die nicht nur die aus Rußland herausgeholten Gewinne, sondern auch ihren politischen Einfluß in ausländischen Parlamenten realisierten und den Kampf um den russischen Parlamentarismus nicht nur nicht förderten, sondern ihm häufig sogar entgegenwirkten: es genügt, an die schändliche Rolle des offiziellen Frankreich zu denken. Dies waren die elementaren und unabwendbaren Ursachen der politischen Isoliertheit und des volksfeindlichen Charakters der russischen Bourgeoisie. War sie in der Morgenröte ihrer Geschichte zu unreif, die Reformation durchzusetzen, so erwies sie sich als überreif, als die Zeit für die Führung der Revolution gekommen war.

Entsprechend dem gesamten Entwicklungsgang des Landes wurde nicht das Zunfthandwerk, sondern die Landwirtschaft, nicht die Stadt, sondern das Dorf zum Reservoir, aus dem die russische Arbeiterklasse hervorging. Dabei entstand das russische Proletariat nicht allmählich, in Jahrhunderten, beschwert mit der Last der Vergangenheit wie in England, sondern sprunghaft, durch schroffe Wendung der Lage, der Verbindungen, der Beziehungen und durch jähen Bruch mit dem Gestern. Gerade dies in Verbindung mit dem konzentrierten Joch des Zarismus machte die russischen Arbeiter für die kühnsten Schlußfolgerungen des revolutionären Gedankens empfänglich, ähnlich wie die verspätete russische Industrie sich für das letzte Wort kapitalistischer Organisation empfänglich zeigte.

Die kurze Geschichte seiner Abstammung machte das russische Proletariat jedesmal aufs neue durch. Während sich in der metallverarbeitenden Industrie, besonders in Petersburg, eine Schicht erblicher Proletarier, die mit dem Dorfe endgültig gebrochen hatten, herauskristallisierte, überwog am Ural noch der Typus des Halbproletariers-Halbbauern. Der alljährliche Zustrom frischer Arbeitskraft aus den Dörfern in alle Industriebezirke erneuerte die Bindung des Proletariats mit seinem sozialen Reservoir.

Die politische Tatunfähigkeit der Bourgeoisie war unmittelbar bestimmt durch den Charakter ihrer Beziehungen zu Proletariat und Bauernschaft. Sie vermochte nicht das Proletariat zu führen, das ihr im Alltag feindlich gegenüberstand und sehr bald seine Aufgaben zu verallgemeinern lernte. Im gleichen Maße erwies sie sich aber zur Führung der Bauernschaft unfähig, da sie durch ein Netz gemeinsamer Interessen mit den Gutsbesitzern verbunden war und die Erschütterung des Eigentums in welcher Form auch immer fürchtete. Das Verspäten der russischen Revolution war folglich nicht nur eine Frage der Chronologie, sondern auch der sozialen Struktur der Nation.

England vollzog seine puritanische Revolution, als seine Gesamtbevölkerung 5½ Millionen nicht überstieg, wovon ½ Million auf London kam. In seiner Revolutionsepoche hatte Frankreich in Paris auch bloß ½ Million Einwohner bei 25 Millionen Gesamtbevölkerung. Rußlands Bevölkerung betrug zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts etwa 150 Millionen, von denen mehr als 3 Millionen auf Moskau und Petrograd einfielen. Hinter diesen vergleichenden Zahlen verbergen sich große soziale Unterschiede. Weder das England des siebzehnten noch das Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts haben das neuzeitige Proletariat gekannt. Indes zählte im Jahre 1905 die Arbeiterklasse Rußlands auf allen Arbeitsgebieten, in Stadt und Land, nicht weniger als 10 Millionen Seelen, was zusammen mit den Familien über 25 Millionen ausmachte, das heißt mehr als die Gesamtbevölkerung Frankreichs in der Epoche der Großen Revolution. Von den gesicherten Handwerkern und unabhängigen Bauern der Cromwellschen Armee – über die Sansculotten von Paris – bis zu den Industrieproletariern Petersburgs hatte die Revolution ihre soziale Mechanik, ihre Methoden und damit auch ihre Ziele tiefgehend verändert.

Die Ereignisse des Jahres 1905 waren ein Prolog der beiden Revolutionen von 1917: der Februar- und der Oktoberrevolution. Der Prolog enthielt alle Elemente des Dramas, nur nicht bis ans Ende geführt. Der Russisch-Japanische Krieg hatte den Zarismus gelockert. Auf dem Hintergrunde der Massenbewegung jagte die liberale Bourgeoisie durch ihre Opposition der Monarchie Angst ein. Die Arbeiter organisierten sich unabhängig von der Bourgeoisie und im Gegensatz zu ihr in den Sowjets, die damals zum ersten Male ins Leben gerufen wurden. Unter der Parole: Boden! erhob sich die Bauernschaft der ganzen riesigen Fläche des Landes. Wie die Bauern, neigten auch die revolutionären Truppenteile zu den Sowjets, die im Augenblick des höchsten Aufstieges der Revolution der Monarchie die Macht offen streitig machten. Das war das erste Auftreten sämtlicher revolutionärer Kräfte; sie besaßen noch keine Erfahrung, und es mangelte ihnen an Zuversicht. Die Liberalen prallten demonstrativ gerade in dem Augenblick vor der Revolution zurück, als sich herausstellte, daß es nicht genügte, den Zarismus zu lockern, daß man ihn außerdem noch umwerfen müsse. Der jähe Bruch der Bourgeoisie mit dem Volke, wobei sie schon damals bedeutende Kreise der demokratischen Intelligenz mit sich riß, erleichterte der Monarchie, die Armee zu spalten, treue Truppenteile auszusondern und über Arbeiter und Bauern blutiges Gericht zu halten. Wenn er auch manche Rippe einbüßte, ging der Zarismus aus der Prüfung von 1905 doch lebend und kräftig genug hervor.

Welche Veränderung der Kräfteverhältnisse brachte die historische Entwicklung in den elf Jahren, die den Prolog vom Drama trennen? Der Zarismus geriet während dieser Periode in einen noch größeren Gegensatz zu den Forderungen der historischen Entwicklung. Die Bourgeoisie wurde ökonomisch mächtiger, doch stützte sich diese Macht, wie wir gesehen haben, auf die höhere Konzentration der Industrie und die gesteigerte Rolle des Auslandskapitals. Unter der Wirkung der Lehren von 1905 war die Bourgeoisie noch konservativer und mißtrauischer geworden. Das spezifische Gewicht der Klein- und Mittelbourgeoisie, schon früher unbeträchtlich, sank noch tiefer. Die demokratische Intelligenz besaß überhaupt keine irgendwie widerstandsfähige soziale Stütze. Sie konnte vorübergehend politischen Einfluß gewinnen, aber keine selbständige Rolle spielen. Ihre Abhängigkeit vom bürgerlichen Liberalismus war ungemein gewachsen. Programm, Banner und Führung konnte der Bauernschaft unter diesen Umständen nur das junge Proletariat bieten. Die vor ihr auf diese Weise erstandenen grandiosen Aufgaben erzeugten ein unaufschiebbares Bedürfnis nach einer besonderen revolutionären Organisation, die die Volksmassen auf einmal erfassen und unter Führung der Arbeiterschaft zu revolutionärer Tat zu befähigen vermochte. So erhielten die Sowjets von 1905 gigantische Entfaltung im Jahre 1917. Daß die Sowjets – wir wollen es hier gleich sagen – nicht einfach eine Ausgeburt der historischen Verspätung Rußlands, sondern vielmehr ein Produkt der kombinierten Entwicklung darstellen, beweist allein schon die Tatsache, daß das Proletariat des industriellsten Landes, Deutschlands, während des revolutionären Aufstieges von 1918/19 keine andere Organisationsform gefunden hat als die der Räte.

Unmittelbare Aufgabe der Revolution von 1917 war noch immer der Sturz der bürokratischen Monarchie. Doch zum Unterschiede von den alten bürgerlichen Revolutionen trat jetzt als entscheidende Kraft die neue Klasse hervor, entstanden auf Grundlage der konzentrierten Industrie, ausgerüstet mit einer neuen Organisation und neuen Kampfmethoden. Das Gesetz der kombinierten Entwicklung enthüllt sich uns hier in seinem weitestgehenden Ausdruck: beginnend mit der Hinwegräumung der mittelalterlichen Fäulnis, bringt die Revolution nach einigen Monaten das Proletariat mit der Kommunistischen Partei an der Spitze zur Herrschaft.

Nach ihren ursprünglichen Aufgaben war die russische Revolution mithin eine demokratische Revolution. Doch stellte sie das Problem der politischen Demokratie auf neue Art. Während die Arbeiter unter Einbeziehung der Soldaten und zum Teil auch der Bauern das ganze Land mit Sowjets überzogen, feilschte die Bourgeoisie noch immer um die Frage der Einberufung oder Nichteinberufung der Konstituierenden Versammlung. Im Verlaufe der Darstellung der Ereignisse wird diese Frage in ihrer ganzen Konkretheit vor uns erstehen. Hier wollen wir nur den Platz bezeichnen, den die Sowjets in der historischen Reihenfolge revolutionärer Ideen und Formen einnehmen.

Mitte des siebzehnten Jahrhunderts entfaltete sich die bürgerliche Revolution in England im Gewande der religiösen Reformation. Der Kampf um das Recht, nach einem eigenen Gebetbuch zu beten, identifizierte sich mit dem Kampf gegen König, Aristokratie, Kirchenfürsten und Rom. Die Presbyterianer und Puritaner waren tief davon überzeugt, daß sie ihre irdischen Interessen unter den unerschütterlichen Schutz der göttlichen Vorsehung gestellt hatten. Die Aufgaben, für die die neuen Klassen kämpften, verwuchsen in deren Bewußtsein mit dem Bibeltext und den Formen kirchlicher Gebräuche. Die Emigranten nahmen diese durch Blut gefestigte Tradition über den Ozean mit. Daher die seltene Zähigkeit der angelsächsischen Interpretation des Christentums Wir sehen, wie die Minister-“Sozialisten“ Großbritanniens auch heute noch ihre Feigheit mit den gleichen magischen Texten begründen, aus denen die Männer des siebzehnten Jahrhunderts Rechtfertigung für ihren Mut gesucht hatten.

In Frankreich, das die Reformation übergangen hatte, erlebte die Katholische Kirche als Staatskirche die Revolution, die nicht in Bibeltexten, sondern in Abstraktionen der Demokratie Ausdruck und Rechtfertigung für die Aufgaben der bürgerlichen Gesellschaft fand. Wie groß der Haß der heutigen Lenker Frankreichs gegen das Jakobinertum auch sein mag, Tatsache bleibt, daß gerade dank der rauhen Arbeit Robespierres sie alle Möglichkeiten behalten haben, ihre konservative Herrschaft mit jenen Formeln zu verhüllen, durch die einst die alte Gesellschaft gesprengt wurde.

Jede große Revolution hat neue Etappen der bürgerlichen Gesellschaft und neue Bewußtseinsformen ihrer Klassen zu verzeichnen Wie Frankreich über die Reformation hinwegschritt, so hat Rußland die formale Demokratie übergangen. Die russische revolutionäre Partei, der es bevorstand, ihren Stempel einer ganzen Epoche aufzupressen, suchte den Ausdruck für die Aufgaben der Revolution nicht in der Bibel, nicht im säkularisierten Christentum der „reinen“ Demokratie, sondern in den materiellen Verhältnissen der Gesellschaftsklassen. Das Sowjetsystem gab diesen Verhältnissen den einfachsten, unverhülltesten, klarsten Ausdruck. Die Herrschaft der Werktätigen fand zum ersten Male ihre Verwirklichung in diesem System, das, wie auch seine nächsten historischen Schicksalswendungen sein mögen, ebenso unaustilgbarem das Bewußtsein der Massen eingedrungen ist wie seinerzeit das System der Reformation oder der reinen Demokratie.


Fußnote von Trotzki

1. Die Behauptung stammt von Prof. M.N. Pokrowski. S. Anhang Nr.1.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008