Leo Trotzki

 

Die permanente Revolution


2. Die permanente Revolution ist nicht ein „Sprung“ des Proletariats, sondern die Umgestaltung der Nation unter der Leitung des Proletariats

Radek schreibt:

„Das wesentliche Merkmal, das den Gedankenkreis, den man Theorie und Taktik [man beachte: auch die Taktik – L.T.] der ‚permanenten Revolution‘, nennt, von der leninschen Theorie unterscheidet, besteht in der Vermengung der Etappe der bürgerlichen Revolution mit der Etappe der sozialistischen Revolution.“

Mit diesem grundsätzlichen Vorwurf eng verbunden sind, oder aus ihm ergeben sich, andere, nicht weniger schwerwiegende Anklagen: Trotzki habe nicht begriffen, daß „unter den russischen Verhältnissen eine sozialistische Revolution unmöglich ist, die nicht aus der demokratischen Revolution erwächst“. Woraus sich das „Überspringen der Stufe der demokratischen Diktatur“ von selbst ergibt. Trotzki „leugnete“ die Rolle der Bauernschaft, worin „die Gemeinsamkeit der Ansichten Trotzkis mit denen der Menschewiki“ bestand. Wie gesagt, das alles soll nach dem System der indirekten Indizien die Unrichtigkeit meiner Position in den grundlegenden Fragen der chinesischen Revolution beweisen.

Gewiß, in formal-literarischer Hinsicht kann sich Radek hie und da auf Lenin berufen. Das tut er auch: diesen Teil der Zitate hat jeder „bei der Hand“. Wie ich aber bald nachweisen werde, hatten diese Behauptungen Lenins in bezug auf mich einen rein episodischen Charakter und waren unrichtig, d.h. sie charakterisierten in keiner Weise meine wirkliche Position im Jahre 1905. Bei Lenin selbst gibt es ganz andere, direkt entgegengesetzte und viel begründetere Äußerungen über meine Stellung in den grundsätzlichen Fragen der Revolution. Radek hat nicht einmal den Versuch gemacht, die verschiedenen und direkt entgegengesetzten Äußerungen Lenins zu vereinen, und diese polemischen Widersprüche durch eine Gegenüberstellung mit meinen tatsächlichen Ansichten zu erläutern. [7]

Im Jahre 1906 gab Lenin mit einem eigenen Vorwort einen Artikel Kautskys über die bewegenden Kräfte der russischen Revolution heraus. Ohne davon etwas zu wissen, übersetzte ich im Gefängnis den Artikel Kautskys ebenfalls, versah ihn mit einem Vorwort und nahm ihn in mein Buch: Zur Verteidigung der Partei auf. Sowohl Lenin wie ich äußerten unsere völlige Zustimmung zu der Analyse Kautskys. Auf die Frage Plechanows: ist unsere Revolution eine bürgerliche oder eine sozialistische? hatte Kautsky geantwortet, sie sei schon keine bürgerliche mehr, aber auch noch keine sozialistische, d.h. sie bilde die Übergangsform von der einen zur anderen. Lenin schrieb dazu in seinem Vorwort:

„Haben wir es bei uns mit einer ihrem Gesamtcharakter nach bürgerlichen oder mit einer sozialistischen Revolution zu tun? Das ist die alte Schablone, sagt Kautsky. So darf man die Frage nicht stellen, das ist nicht marxistisch. Die Revolution in Rußland ist keine bürgerliche, denn die Bourgeoisie gehört nicht zu den treibenden Kräften der heutigen revolutionären Bewegung Rußlands. Die Revolution in Rußland ist aber auch keine sozialistische.“ (Bd.VIII. S.82.)

Man kann allerdings nicht wenige Stellen bei Lenin finden, geschrieben vor und nach diesem Vorwort, wo er die russische Revolution kategorisch eine bürgerliche nennt. Ist das ein Widerspruch? Wenn man mit den Methoden der heutigen Kritiker des „Trotzkismus“ an Lenin herangeht, so kann man bei ihm Dutzende und Hunderte solcher „Widersprüche“ finden, die sich für einen ernsten und gewissenhaften Leser mit der Verschiedenheit der Fragestellung zu verschiedenen Zeitpunkten erklären, was keinesfalls die Einheit der Leninschen Konzeption verletzt.

Andererseits habe ich niemals den bürgerlichen Charakter der Revolution im Sinne ihrer aktuellen historischen Aufgaben, sondern nur im Sinne der sie bewegenden Kräfte und ihrer Perspektiven bestritten. Mit folgenden Sätzen beginnt meine grundlegende Arbeit aus jener Zeit (aus den Jahren 1905 bis 1906) über die permanente Revolution:

„Die Revolution in Rußland kam allen unerwartet, außer der Sozialdemokratie. Der Marxismus hat die Unvermeidlichkeit der russischen Revolution längst vorausgesagt, die als Folge des Zusammenstoßes der Kräfte der kapitalistischen Entwicklung mit den Kräften des starren Absolutismus kommen mußte. Indem er sie als eine bürgerliche bezeichnete, zeigte er damit, daß die unmittelbaren objektiven Aufgaben der Revolution in der Schaffung ‚normaler‘ Bedingungen für die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit bestanden. Der Marxismus hatte recht. – Dies kann man heute nicht mehr bestreiten, noch braucht man es zu beweisen. Vor den Marxisten steht eine ganz andere Aufgabe: durch die Analyse der inneren Mechanik der sich entwickelnden Revolution ihre ‚Möglichkeiten‘ aufzudecken.

Die russische Revolution besitzt einen ganz eigenartigen Charakter, der die Folge der Eigenarten unserer gesamten gesellschaftlich-historischen Entwicklung ist und der seinerseits ganz neue historische Perspektiven eröffnet.“ (Unsere Revolution, 1906, Artikel Ergebnisse und Perspektiven, S.224.)

„Die allgemeine soziologische Bezeichnung bürgerliche Revolution löst keinesfalls jene politisch-taktischen Aufgaben, Widersprüche und Schwierigkeiten, die von dieser gegebenen bürgerlichen Revolution gestellt werden.“ (Ebenda, Seite 249.)

Auf diese Weise habe ich den bürgerlichen Charakter der auf der Tagesordnung stehenden Revolution nicht bestritten und Demokratie und Sozialismus nicht vermischt. Aber ich versuchte zu beweisen, daß bei uns die Klassendialektik der bürgerlichen Revolution das Proletariat zur Macht bringen werde, und daß ohne seine Diktatur auch die demokratischen Aufgaben nicht gelöst werden könnten. In dem gleichen Artikel wird (1905-06) gesagt:

„Das Proletariat wächst und festigt sich mit dem Wachstum des Kapitalismus. In diesem Sinne bedeutet die Entwicklung des Kapitalismus die Entwicklung des Proletariats zur Diktatur. Aber Tag und Stunde, wann die Macht in die Hände der Arbeiterklasse übergehen wird, hängen unmittelbar nicht vom Stande der Produktivkräfte ab, sondern von den Verhältnissen des Klassenkampfes, von der internationalen Situation und schließlich von einer Reihe subjektiver Momente: der Tradition, der Initiative, der Kampfbereitschaft ...

In einem ökonomisch zurückgebliebenen Lande kann das Proletariat eher an die Macht kommen als in den kapitalistisch fortgeschritteneren Ländern. Die Vorstellung von irgendeiner automatischen Abhängigkeit der proletarischen Diktatur von den technischen Kräften und Mitteln des Landes bildet ein Vorurteil des bis zum äußersten versimpelten ‚ökonomischen‘ Materialismus. Mit Marxismus hat diese Ansicht nichts gemein.

Die russische Revolution schafft unserer Ansicht nach solche Bedingungen, unter denen die Macht an das Proletariat übergehen kann (und bei einer siegreichen Revolution übergehen muß), bevor noch die Politik des bürgerlichen Liberalismus die Möglichkeit erhalten wird, dessen Staatsgenie zur vollen Entfaltung zubringen.“ (Ebenda, S.245.)

Diese Zeilen enthalten eine Polemik gegen jenen vulgären „Marxismus“, der nicht nur in den Jahren 1905-06 geherrscht hat, sondern auch tonangebend war bei der Beratung der Bolschewiki vom März 1917, vor Lenins Ankunft, und der in der April-Konferenz den krassesten Ausdruck in Rykow fand. Auf dem VI. Kongreß der Komintern bildete dieser Pseudomarxismus, d.h. der durch Scholastik verdorbene „gesunde Menschenverstand“ des Philisters, die „wissenschaftliche“ Basis der Reden von Kuusinen und vieler anderer. Und dies zehn Jahre nach der Oktoberrevolution!

Da ich nicht die Möglichkeit habe, hier den ganzen Gedankengang der “Ergebnisse und Perspektiven“ darzulegen, will ich noch ein übersichtliches Zitat aus meinem Artikel im Natschalo (Anfang 1905) anführen:

„Unsere liberale Bourgeoisie tritt konterrevolutionär auf noch vor dem revolutionären Höhepunkt. Unsere intellektuelle Demokratie demonstriert in jedem kritischen Moment nur ihre Ohnmacht. Die Bauernschaft stellt in ihrer Gesamtheit eine elementare Rebellion dar. Sie kann in den Dienst der Revolution gestellt werden nur von der Macht, die die Staatsmacht übernehmen wird. Die Vorpostenstellung der Arbeiterklasse in der Revolution, die unmittelbare Verbindung zwischen ihr und dem revolutionären Dorfe; der Zauber, durch den sie sich die Armee unterwirft – das alles stößt sie unabwendbar zur Macht. Der volle Sieg der Revolution bedeutet den Sieg des Proletariats. Dieser wiederum bedeutet das weitere ununterbrochene Fortschreiten der Revolution.“ (Unsere Revolution, S.172.)

Die Perspektive der Diktatur des Proletariats erwächst hier folglich gerade aus der bürgerlich-demokratischen Revolution im Gegensatz zu alldem, was Radek schreibt. Eben deshalb heißt die Revolution – die permanente (ununterbrochene). Aber die Diktatur des Proletariats kommt nicht nach der Vollendung der demokratischen Revolution, wie es sich bei Radek ergibt – in diesem Falle wäre sie in Rußland einfach unmöglich, denn in einem zurückgebliebenen Lande kann das zahlenmäßig schwache Proletariat nicht zur Macht gelangen, wenn die Aufgaben der Bauernschaft während der vorangegangenen Etappe gelöst worden sind. Nein, die Diktatur des Proletariats erschien gerade deshalb wahrscheinlich und sogar unvermeidlich auf der Basis der bürgerlichen Revolution, weil es keine andere Macht und keine anderen Wege zur Lösung der Aufgaben der Agrarrevolution gab. Das allein aber öffnet die Perspektive des Hineinwachsens der demokratischen Revolution in eine sozialistische.

„Eintretend in die Regierung nicht als ohnmächtige Geißeln, sondern als eine führende Macht, zerstören die Vertreter des Proletariats schon damit allein die Grenze zwischen Minimum- und Maximum-Programm, d.h. sie stellen den Kollektivismus auf die Tagesordnung. An welchem Punkte das Proletariat auf diesem Wege aufgehalten werden wird, das hängt von dem Kräfteverhältnis ab, nicht aber von den ursprünglichen Absichten der Partei des Proletariats. Deshalb kann auch keine Rede sein von irgendeiner besonderen Form der proletarischen Diktatur in der bürgerlichen Revolution, nämlich von der demokratischen Diktatur des Proletariats (oder des Proletariats und der Bauernschaft). Die Arbeiterklasse kann den demokratischen Charakter ihrer Diktatur nicht sichern, ohne die Grenzen ihres demokratischen Programms zu überschreiten.

Wenn die Partei des Proletariats die Macht übernehmen wird, wird sie für diese Macht bis zu Ende kämpfen. Wenn eins der Mittel dieses Kampfes um die Erhaltung und Festigung der Macht Agitation und Organisation, besonders im Dorf, sein wird, so wird das andere Mittel im kollektivistischen Programm bestehen. Der Kollektivismus wird nicht nur die unvermeidliche Folgerung sein aus der Tatsache, daß die Partei an der Macht ist, sondern auch das Mittel, diese Situation, gestützt auf das Proletariat, zu sichern.“ (Ergebnisse und Perspektiven, S.258.)

Gehen wir weiter:

„Wir kennen das klassische Beispiel einer Revolution schrieb ich im Jahre 1908 gegen den Menschewiken Tscherewanin –, in der die Bedingungen der Herrschaft der kapitalistischen Bourgeoisie von der terroristischen Diktatur der siegreichen Sansculotten vorbereitet wurden. Das war in einer Epoche, als die Hauptmasse der städtischen Bevölkerung aus Handwerkern und Handelstreibenden, also aus dem Kleinbürgertum bestand. Sie folgte der Führung der Jakobiner. Die Hauptmasse der städtischen Bevölkerung in Rußland bildet heute das Industrie-Proletariat. Allein schon diese Analogie verweist auf die Möglichkeit einer solchen historischen Situation, in der der Sieg der ‚bürgerlichen‘ Revolution nur durch die Eroberung der revolutionären Macht durch das Proletariat gegeben ist. Hört die Revolution damit auf, eine bürgerliche zu sein? Ja und nein. Das hängt nicht von der formalen Bezeichnung ab, sondern von der weiteren Entwicklung der Ereignisse. Wenn das Proletariat von der Koalition der bürgerlichen Klassen, darunter auch der durch das Proletariat befreiten Bauernschaft, gestürzt wird, dann behält die Revolution ihren beschränkten bürgerlichen Charakter. Wird es aber dem Proletariat möglich sein, alle Mittel seiner politischen Herrschaft in Bewegung zu bringen, um den nationalen Rahmen der russischen Revolution zu sprengen, so kann dieses zum Prolog der sozialistischen Weltära werden. Die Frage: Welche Etappe wird die russische Revolution erreichen? läßt natürlicherweise nur eine bedingte Beantwortung zu. Unbedingt und unzweifelhaft richtig ist nur das eine: die nackte Bezeichnung der russischen Revolution als einer bürgerlichen sagt nichts aus über den Typus ihrer inneren Entwicklung und bedeutet keinesfalls, daß das Proletariat seine Taktik dem Verhalten der bürgerlichen Demokratie, als dem einzigen gesetzmäßigen Prätendenten auf die Staatsmacht anpassen muß.“ (L. Trotzki, 1905, S.263 der russischen Ausgabe.)

Aus dem selben Artikel:

„Unsere Revolution, die nach den unmittelbaren Aufgaben, aus denen sie erwuchs, eine bürgerliche Revolution ist, kennt, infolge der äußersten Klassendifferenzierung der Industriebevölkerung, keine solche bürgerliche Klasse, die sich durch Verbindung ihres sozialen Gewichts und ihrer politischen Erfahrung mit der revolutionären Energie an die Spitze der Volksmassen stellen könnte. Die unterdrückten Arbeiter- und Bauernmassen müssen, sich selbst überlassen, in der harten Schule erbarmungsloser Zusammenstöße und grausamer Niederlagen sich selbst die notwendigen politischen und organisatorischen Voraussetzungen für ihren Sieg schaffen. Einen andern Weg haben sie nicht.“ (L. Trotzki, 1905, S.267/8.)

Es muß hier noch ein Zitat aus Ergebnisse und Perspektiven über den am heftigsten angegriffenen Punkt – über die Bauernschaft – angeführt werden. In dem besonderen Kapitel: Das Proletariat an der Macht und die Bauernschaft wird dort folgendes gesagt:

„Das Proletariat wird seine Macht nicht sichern können, ohne die Basis seiner Revolution zu erweitern.

Viele Schichten der werktätigen Massen, besonders im Dorfe, werden zum ersten Mal in die Revolution hineingezogen und von einer politischen Organisation erfaßt werden, erst nachdem die Avantgarde der Revolution, das Stadtproletariat, sich an das Steuer der Staatsmacht gestellt hat. Die revolutionäre Agitation und die Organisierung werden mit Hilfe der Staatsmittel durchgeführt. Schließlich wird die gesetzgebende Macht selbst ein mächtiges Werkzeug zur Revolutionierung der Volksmassen werden ...

Das Schicksal der elementarsten revolutionären Interessen der Bauernschaft – selbst der Gesamtbauernschaft als eines Standes – verknüpft sich mit dem Schicksal der Revolution, d.h. mit dem Schicksal des Proletariats.

Das Proletariat an der Macht wird der Bauernschaft als Befreierklasse erscheinen.

Die Herrschaft des Proletariats wird nicht nur bedeuten: demokratische Gleichheit, freie Selbstverwaltung, Übertragung der Steuerlast auf die besitzenden Klassen, Umwandlung des stehenden Heeres in bewaffnetes Volk, Abschaffung der Zwangssteuern der Kirche, sondern auch Anerkennung aller von den Bauern vorgenommenen revolutionären Umschichtungen (Aneignungen) des Bodenbesitzes. Diese Umschichtungen wird das Proletariat zum Ausgangspunkt weiterer staatlicher Maßnahmen auf dem Gebiete der Landwirtschaft machen. Unter diesen Bedingungen wird die russische Bauernschaft in der ersten schwierigsten Periode an der Unterstützung des proletarischen Regimes nicht weniger interessiert sein, als die französische Bauernschaft an der Unterstützung des Militärregimes Napoleon Bonapartes interessiert war, welches den neuen Besitzern die Unantastbarkeit ihrer Landstriche kraft der Bajonette garantierte ...

Vielleicht aber wird die Bauernschaft das Proletariat verdrängen und dessen Platz selbst einnehmen?

Das ist unmöglich. Die gesamte historische Erfahrung protestiert gegen solche Annahme. Diese Erfahrung beweist, daß die Bauernschaft zu einer selbständigen politischen Rolle völlig unfähig ist“ (Seite 251).

Das alles ist nicht 1929 und auch nicht 1924, sondern 1905 geschrieben worden. Ähnelt das einer „Ignorierung der Bauernschaft“, möchte ich wissen? Wo ist hier das „Hinüberspringen“ über die Agrarfrage? Wäre es nicht an der Zeit, Freunde, etwas, mehr Anstandsgefühl zu zeigen?

Sehen wir nun zu, wie ist es mit diesem „Anstandsgefühl“ bei Stalin bestellt? Bezüglich meiner New Yorker Artikel über die Februar-Revolution 1917, die in allem wesentlichen mit den Genfer Artikeln Lenins übereinstimmen, schreibt der Theoretiker der Parteireaktion:

„Die Briefe des Genossen Trotzki sind sowohl dem Geiste wie den Schlußfolgerungen nach den Briefen Lenins ganz und gar unähnlich, denn sie geben völlig die antibolschewistische Parole Trotzkis wieder: ‚Ohne Zaren – und eine Arbeiterregierung‘, einer Parole, die bedeutet: Revolution ohne die Bauernschaft.“ (Rede vor der Fraktion des Zentralsowjets der Gewerkschaften, 19. November 1924.)

Herrlich klingen diese Worte von der „antibolschewistischen Parole“ (angeblich Trotzkis): „ohne Zaren, und eine Arbeiterregierung“. Nach Stalin hätte die bolschewistische Parole lauten müssen: „ohne Arbeiterregierung, aber mit dem Zaren“. Von der angeblichen „Parole“ Trotzkis soll noch die Rede sein. Jetzt wollen wir erst mal eine andere Größe des zur Zeit herrschenden Geistes hören, eine vielleicht weniger ungebildete, die aber vom theoretischen Gewissen für immer Abschied genommen hat: ich spreche von Lunatscharski.

„Lew Dawidowitsch Trotzki neigte im Jahre 1905 dem Gedanken zu: das Proletariat müsse isoliert bleiben [!] und dürfe die Bourgeoisie nicht unterstützen, da dies Opportunismus sei; für das Proletariat allein wäre es jedoch sehr schwer, die Revolution durchzuführen, da das Proletariat zu jener Zeit nur 7-8 % der Gesamtbevölkerung ausmachte und man mit solch kleinem Kader keinen großen Krieg führen könnte. So beschloß Lew Dawidowitsch, daß das Proletariat in Rußland die permanente Revolution unterstützen, d.h. um möglichst große Erfolge kämpfen müsse, bis die glühenden Scheite dieses Brandes die Pulverlager der Welt in die Luft sprengen würden.“ (Die Macht der Sowjets Nr.7, Zur Charakteristik der Oktoberrevolution, A. Lunatscharski, S.10.)

Das Proletariat „muß isoliert bleiben“, bis die glühenden Scheite die Pulverlager sprengen werden ... Schön schreiben manche Volkskommissare, die vorläufig noch nicht „isoliert“ sind, trotz der bedrohten Lage ihres eigenen Gedankenpulvers. Wir wollen aber gegen Lunatscharski nicht so streng sein: jeder tut, was er kann. Seine schlampigen Sinnlosigkeiten sind nicht sinnloser als die vieler anderer.

Wie aber muß, nach Trotzki, das „Proletariat isoliert bleiben“? Es sei hier ein Zitat aus meiner Streitschrift gegen Struve angeführt (1906). Übrigens hatte Lunatscharski dieser Schrift seinerzeit maßlose Lobhymnen gesungen. Während die bürgerlichen Parteien – es ist vom Sowjet der Deputierten die Rede – von den erwachenden Massen „völlig abseits blieben“

„konzentrierte sich das politische Leben um den Arbeitersowjet. Das Verhalten der städtischen Masse zum Sowjet (1905) war offensichtlich ein sympathisierendes, wenn auch kein klares. Alle Unterdrückten und Beleidigten suchten bei ihm Schutz. Die Popularität des Sowjets wuchs weit über die Stadt hinaus. Er erhielt ‚Bittschriften‘ von Bauern, denen Unrecht zugefügt war, dem Sowjet strömten Bauernresolutionen zu, es kamen zu ihm Delegierte von Dorfgemeinden. Hier, gerade hier konzentrierten sich die Gedanken und Sympathien der Nation, der echten, nicht der falsifizierten demokratischen Nation.“ (Unsere Revolution, S.199)

In all diesen Zitaten – ihre Zahl kann leicht verdoppelt, verdreifacht und verzehnfacht werden – wird die permanente Revolution als eine solche Revolution dargestellt, die die unterdrückten Massen aus Stadt und Dorf um das in Sowjets organisierte Proletariat zusammenschweißt; als eine nationale Revolution, die das Proletariat zur Macht erhebt und dadurch allein die Möglichkeit gibt des Hinauswachsens der demokratischen Revolution in eine sozialistische Revolution.

Die permanente Revolution ist kein isolierter Sprung des Proletariats, sondern sie ist der Neuaufbau der ganzen Nation unter Führung des Proletariats. So hatte ich mir, seit 1905, die Perspektive der permanenten Revolution vorgestellt und so sie gedeutet.

Auch in bezug auf Parvus [8], dessen Ansichten über die russische Revolution im Jahre 1905 sich mit den meinen eng berührten, ohne jedoch mit ihnen identisch zu sein, hat Radek Unrecht, wenn er den Klischeesatz über Parvus’ „Sprung“ von der zaristischen zu der sozialdemokratischen Regierung wiederholt. Radek widerlegt sich eigentlich selbst, wenn er an einer anderen Stelle seines Artikels nebenbei, aber ganz richtig, darauf hinweist, worin sich eigentlich meine Ansichten über die Revolution von denen des Parvus unterschieden. Parvus war nicht der Meinung, daß die Arbeiterregierung in Rußland einen Ausweg in die Richtung zur sozialistischen Revolution besitzt, d.h., daß sie im Prozeß der Erfüllung der Aufgaben der Demokratie in die sozialistische Diktatur hinauswachsen kann. Wie das von Radek selbst angeführte Zitat aus dem Jahre 1905 beweist, beschränkte Parvus die Aufgaben der Arbeiterregierung auf die Aufgaben der Demokratie. Wo bleibt dann der Sprung zum Sozialismus? Parvus schwebte schon damals als Resultat der revolutionären Umwälzung die Errichtung eines Arbeiterregimes nach „australischem“ Muster vor. Den Vergleich zwischen Rußland und Australien machte Parvus auch nach der Oktoberrevolution, als er selbst schon längst auf dem äußersten rechten Flügel des Sozialreformismus stand. Bucharin sagte dazu, Parvus habe Australien nachträglich „erfunden“, um seine alten Sünden in bezug auf die permanente Revolution zuzudecken. Das stimmt aber nicht. Im Jahre 1905 hat Parvus in der Eroberung der Macht durch das Proletariat den Weg zur Demokratie und nicht zum Sozialismus gesehen, d.h. er wies dem Proletariat nur jene Rolle zu, die es bei uns in den ersten 8-10 Monaten der Oktoberrevolution tatsächlich gespielt hat. Als auf ein Regime, bei dem die Arbeiterpartei zwar regiert, aber nicht herrscht und ihre reformistischen Forderungen nur als Ergänzung zum Programm der Bourgeoisie durchführt. Ironie des Schicksals: die grundlegende Tendenz des rechtszentristischen Blocks 1923-1928 bestand gerade darin, die Diktatur des Proletariats der Arbeiterdemokratie nach australischem Muster anzunähern, d.h. der Prognose von Parvus. Das wird um so klarer, wenn man sich erinnert, daß die russischen spießbürgerlichen „Sozialisten“ vor zwei bis drei Jahrzehnten in der russischen Presse dauernd Australien als ein Arbeiter- und Bauernland schilderten, das, durch hohe Zölle gegen die Außenwelt abgesperrt, „sozialistische“ Gesetzgebung entwickle und auf diese Weise den Sozialismus in einem Lande baue. Radek würde richtig gehandelt haben, wenn er diese Seite der Frage in den Vordergrund geschoben hätte, anstatt die Märchen nachzusprechen vom phantastischen Sprung über die Demokratie hinweg.

Fußnoten

7. [Diese Fußnote fehlt in der Quelle.]

8. Man muß sich dessen erinnern, daß Parvus in jenem Zeitabschnitt auf dem äußersten linken Flügel des internationalen Marxismus stand.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.2.2011