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Im Januar 1925 wurde ich von den Pflichten des Volkskommissars für das Kriegswesen entbunden. Dieser Beschluß war sorgfältigst im vorangegangenen Kampfe vorbereitet worden. Neben den Traditionen des Oktoberumsturzes fürchteten die Epigonen am meisten die Traditionen des Bürgerkrieges und meine Verbindung mit der Armee. Ich gab das Amt des Kriegskommissars kampflos ab, sogar mit einer inneren Erleichterung, um den Gegnern das Mittel der Verleumdung in bezug auf meine militärischen Absichten zu entreißen. Zur Rechtfertigung ihres Vorgehens hatten die Epigonen anfangs diese phantastischen Absichten ausgedacht, und später begannen sie halb und halb selbst an sie zu glauben. Meine praktischen Interessen hatten sich seit 1921 einem anderen Gebiet zugewandt. Der Krieg war beendet, die Armee von fünf Millionen dreihunderttausend auf sechshunderttausend Mann eingeschränkt Die militärische Arbeit kam auf ein bürokratisches Geleise. Den ersten Platz im Lande nahmen nun die Fragen der Wirtschaft ein, die seit der Beendigung des Krieges meine Zeit und meine Aufmerksamkeit in viel höherem Maße beanspruchten als die militärischen Fragen.
Im Mai 1925 wurde ich Vorsitzender des Konzessionskomitees, Chef der Elektrotechnischen Verwaltung und Vorsitzender der wissenschaftlich-technischen Verwaltung der Industrie. Diese drei Gebiete waren miteinander durch nichts verbunden. Die Auswahl war hinter meinem Rücken erfolgt und wurde von besonderen Erwägungen bestimmt: mich von der Partei zu isolieren, mit laufender Arbeit zu überhäufen, unter besondere Kontrolle zu stellen und so weiter. Ich machte dennoch gewissenhaft den Versuch, mich auf den neuen Gebieten einzuarbeiten. Nach der Übernahme der drei mir fremden Ämter ging ich völlig in der Arbeit auf. Mein größtes Interesse gewannen die wissenschaftlich-technischen Institute, die bei uns dank der Zentralisierung der Industrie einen großen Schwung bekommen hatten. Ich besuchte eifrig viele Laboratorien, wohnte mit großer Aufmerksamkeit Experimenten bei, hörte die Aufklärungen der besten Gelehrten an, studierte in freien Stunden Lehrbücher der Chemie und der Hydrodynamik und fühlte mich halb als Verwaltungsmann, halb als Student Nicht umsonst hatte ich in meinen jungen Jahren die Absicht gehabt, die physikalisch-mathematische Fakultät zu besuchen. Ich ruhte bei den Fragen der Naturwissenschaft und Technologie gleichsam von der Politik aus. Als Chef der Elektrotechnischen Verwaltung besuchte ich die im Bau befindlichen Stationen und machte unter anderem eine Reise nach dem Dnjepr, wo weitgehende Vorbereitungsarbeiten für die zukünftige Hydrostation vorgenommen wurden. Zwei Bootsmänner fuhren mich in einem Fischerkahn über den Strudel zwischen den Stromschnellen hinunter, auf dem alten Weg der Saporoger Kosaken. Das hatte natürlich einen rein sportsmäßigen Charakter. Aber ich gewann für das Dnjeprunternehmen ein tiefes Interesse, sowohl vom wirtschaftlichen wie auch vom technischen Gesichtspunkt aus. Um die Hydrostation gegen Verrechnungen zu sichern, veranlaßte ich sachverständige Amerikaner, ein Gutachten abzugeben, das später durch Deutsche ergänzt wurde. Ich war bemüht, meine neue Arbeit nicht nur mit den laufenden Aufgaben der Wirtschaft in Verbindung zu bringen, sondern auch mit den grundlegenden Problemen des Sozialismus. Im Kampfe gegen die stumpfsinnige nationale Einstellung zu den Wirtschaftsfragen („Unabhängigkeit“ durch selbstgenügsame Isolierung) stellte ich mir die Aufgabe, ein System vergleichender Koeffizienten von unserer Wirtschaft und der Weltwirtschaft auszuarbeiten. Diese Aufgabe ergab sich aus der Notwendigkeit einer richtigen Orientierung auf dem Weltmarkte, die ihrerseits den Aufgaben des Imports und des Exports und der Konzessionspolitik dienen sollte. Ihrem Kern nach bedeutete das Problem der vergleichenden Koeffizienten, das sich aus der Erkenntnis der Überlegenheit der Weltproduktivkräfte über die nationalen Produktivkräfte ergibt, einen Feldzug gegen die reaktionäre Theorie des „Sozialismus in einem Lande“. Ich hielt über die Fragen meiner neuen Tätigkeit Referate und widmete ihnen Bücher und Broschüren. Auf diesem Boden konnten und wollten meine Gegner den Kampf nicht aufnehmen. Sie formulierten von sich aus die Lage lediglich so: Trotzki hat sich hier einen neuen Kampfplatz geschaffen. Die Verwaltung der Elektrotechnik und die wissenschaftlichen Institute beunruhigten sie nun fast ebensosehr wie früher das Kriegskommissariat und die Rote Armee. Der Stalinsche Apparat folgte mir auf den Fersen. Jeder praktische Schritt, den ich tat gab Anlaß zu einer komplizierten Intrige hinter den Kulissen. Jede theoretische Schlußfolgerung nährte die Mythologie des „Trotzkismus“. Meine praktische Arbeit wurde mit unmöglichen Bedingungen umgeben. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, daß ein großer Teil der schöpferischen Tätigkeit Stalins und seines Helfershelfers Molotow darauf gerichtet war, mich systematisch sabotieren zu lassen. Nötige Mittel zu erhalten, wurde den mir unterstellten Ämtern fast zur Unmöglichkeit. Personen, die in diesen Ämtern arbeiteten, hatten Angst um ihr Schicksal, mindestens um ihre Karriere.
Der Versuch, mir politische Ferien zu erkämpfen, wurde auf diese Weise vereitelt. Die Epigonen konnten nicht auf halbem Wege stehenbleiben. Sie hatten zu große Angst vor dem, was sie selbst geschaffen hatten. Die gestrige Lüge lastete schwer und forderte heute von ihnen einen verdoppelten Treubruch. Schließlich stellte ich den Antrag, mich von der Verwaltung der Elektrotechnik und wissenschaftlich-technischen Institute zu befreien. Das oberste Konzessionskomitee war immerhin ein kleineres Feld für Intrigen, da das Schicksal jeder Konzession im Politischen Büro entschieden wurde. Inzwischen näherte sich das Leben der Partei einer neuen Krise. In der ersten Periode des Kampfes war mir das „Trio“ entgegengestellt worden. Es selbst aber war von Einigkeit weit entfernt. Sowohl Sinowjew wie Kamenjew standen in theoretischer und politischer Hinsicht doch höher als Stalin. Nur fehlte ihnen beiden jene Kleinigkeit, die man Charakter nennt. Der im Vergleich zu Stalin weitere internationale Horizont, den sie sich unter der Leitung Lenins in der Emigration erworben hatten, festigte sie nicht, sondern im Gegenteil, er schwächte sie. Der Kurs ging auf die selbstgenügsame nationale Entwicklung. Die alte Phrase des russischen Patriotismus; „Mit Hüten niederschlagen“, wurde jetzt eifrig in die neusozialistische Sprache übersetzt. Der Versuch Sinowjews und Kamenjews, die internationalen Ansichten auch nur teilweise zu verteidigen, verwandelte sie in den Augen der Bürokratie in „Trotzkisten“ zweiter Sorte. Um so rasender waren sie bemüht, die Kampagne gegen mich zu führen, um auf diesem Weg das Vertrauen des Apparates zu behalten. Aber auch diese Bemühungen waren vergeblich. Die Apparatmächte fühlten immer mehr, daß Stalin Fleisch von ihrem Fleisch war. Sinowjew und Kamenjew wurden bald von Stalin als Feinde bezeichnet, und als sie versuchten, den Streit aus dem Trio in das Zentralkomitee hinüberzutragen, zeigte es sich, daß Stalin eine unerschütterliche Mehrheit besaß.
Kamenjew galt als der offizielle Führer Moskaus. Nach der Zertrümmerung der Moskauer Parteiorganisation mit Hilfe Kamenjews im Jahre 1923, wo sie noch in ihrer Mehrheit für die Unterstützung der Opposition aufgetreten war, schwieg jetzt die Masse der Moskauer Kommunisten verbittert. Bei den ersten Versuchen, Stalin Widerstand zu leisten, blieb Kamenjew in der Luft hängen. Anders verhielt sich die Sache in Leningrad. Gegen die Opposition des Jahres 1923 waren die Leningrader Kommunisten durch den schweren Sinowjewschen Apparatdeckel geschützt gewesen. Jetzt aber kam die Reihe auch an sie. Die Leningrader Arbeiter brachte der Kurs auf den Kulaken und auf den „Sozialismus in einem Lande“ in Erregung. Der Klassenprotest der Arbeiter fiel zusammen mit der privilegierten Fronde Sinowjews. So entstand die neue Opposition, zu der anfangs auch Nadeschda Konstantinowna Krupskaja gehörte. Zum großen Erstaunen aller und am meisten ihrer selbst waren Sinowjew und Kamenjew gezwungen, die Kritik der Opposition teilweise zu wiederholen, und bald wurden sie dem Lager der „Trotzkisten“ zugezählt Es ist nicht verwunderlich, daß in unseren Kreisen ein Zusammengehen mit Sinowjew und Kamenjew mindestens als paradox betrachtet wurde. Unter den Oppositionellen gab es nicht wenige, die sich diesem Block widersetzten. Es gab sogar solche – allerdings nur wenige –, die einen Block mit Stalin gegen Sinowjew und Kamenjew befürworteten. Einer meiner nächsten Freunde, Mratschkowski, ein alter Revolutionär und einer der besten Heerführer des Bürgerkrieges, hatte sich gegen einen Block mit dem einen oder dem anderen ausgesprochen und eine klassische Begründung seiner Ansicht gegeben: „Stalin wird betrügen, und Sinowjew wird davonlaufen.“ Solche Fragen werden jedoch letzten Endes nicht durch psychologische, sondern durch politische Erwägungen gelöst. Sinowjew und Kamenjew anerkannten offen, daß die „Trotzkisten“ im Kampfe gegen sie im Jahre 1923 recht gehabt hatten. Sie nahmen die Prinzipien unserer Plattform an. Unter solchen Umständen war es uns unmöglich, einen Block mit ihnen abzulehnen, um so mehr, als Tausende revolutionärer Arbeiter in Leningrad hinter ihnen standen. Außerhalb der offiziellen Sitzungen war ich drei Jahre lang mit Kamenjew nicht zusammengekommen, das heißt seit jener Nacht, als er vor seiner Abreise nach Georgien versprochen hatte, Lenin und mich zu unterstützen, um sich dann, als er von dem schlechten Gesundheitszustand Lenins erfuhr, auf die Seite Stalins zu stellen. Bei unserer ersten Wiederbegegnung erklärte mir Kamenjew: „Sie brauchen nur mit Sinowjew auf einer Tribüne zu erscheinen, und die Partei wird ihr wahres Zentralkomitee entdecken.“ Ich konnte über diesen bürokratischen Optimismus nur lachen. Kamenjew unterschätzte offensichtlich jene Arbeit, die das „Trio“ für die Demoralisierung der Partei drei Jahre lang geleistet hatte. Unnachsichtig machte ich ihn darauf aufmerksam.
Die revolutionäre Ebbe, die Ende 1923 begonnen hatte, das heißt nach der Niederlage der revolutionären Bewegung in Deutschland, bekam ein internationales Ausmaß. In Rußland war die Reaktion gegen den Oktober in vollem Gange. Der Parteiapparat schwenkte immer mehr nach rechts. Unter diesen Bedingungen war es kindisch, anzunehmen, daß wir uns nur zu vereinigen brauchten, damit uns der Sieg wie eine reife Frucht zu Füßen falle. „Wir müssen uns auf weite Sicht einstellen“, wiederholte ich dutzendemale Kamenjew und Sinowjew. „Man muß sich für den Kampf ernsthaft und auf lange Zeit vorbereiten.“ Die neuen Verbündeten nahmen im ersten Eifer diese Formel kühn an. Aber es reichte nicht für lange. Ihr Welken zählte nicht nach Tagen, sondern nach Stunden. Mratschkowski hatte in seiner Bewertung der Personen recht behalten: Sinowjew lief schließlich davon. Aber er nahm lange nicht alle seine Gesinnungsgenossen mit Die zweifache Schwenkung Sinowjews hatte auf jeden Fall der Legende vom Trotzkismus eine unheilbare Wunde geschlagen.
Im Frühling 1926 machte ich mit meiner Frau eine Reise nach Berlin. Die Moskauer Ärzte, die sich die anhaltend hohe Temperatur bei mir nicht erklären konnten, hatten, um nicht die Verantwortung allein tragen zu müssen, schon lange zu einer Reise ins Ausland gedrängt Auch ich wollte aus der Sackgasse herauskommen: das Fieber hatte mich oft in den kritischsten Momenten lahmgelegt und sich als zuverlässiger Verbündeter meiner Gegner erwiesen. Die Frage der Reise ins Ausland war im Politischen Büro erörtert worden. Dieses sprach sich in dem Sinne aus: es betrachte meine Reise nach allen Informationen, die es besitze, und nach der gesamten politischen Situation als äußerst gefährlich, überlasse jedoch die endgültige Entscheidung mir selbst. Dem Bericht lag eine Auskunft der GPU im Sinne der Unzulässigkeit meiner Reise ins Ausland bei. Das Politische Büro scheute sich zweifellos, die Verantwortung vor der Partei zu übernehmen, falls mir im Auslande etwas zustoßen sollte. Der Gedanke an eine gewaltsame Ausweisung ins Ausland, noch dazu nach Konstantinopel, hatte damals den Polizeikopf Stalins noch nicht erleuchtet. Es ist aber auch möglich, daß das Politbüro Angst hatte, ich würde mich mit der ausländischen Opposition fester verbinden. Jedenfalls beschloß ich nach einer Beratung mit meinen Freunden zu reisen.
Mit der deutschen Gesandtschaft wurde die notwendige Verständigung ohne weiteres erreicht, und Mitte April fuhr ich mit meiner Frau auf einen diplomatischen Paß, der auf den Namen eines Kollegiumsmitgliedes des Ukrainischen Kommissariats für Volksbildung, Kusjmenko, lautete, ab. Uns begleiteten mein Sekretär Sermux, der ehemalige Chef meines Zuges und ein Bevolimächtigter der GPU. Sinowjew und Kamenjew nahmen in fast rührender Weise von mir Abschied: sie blieben ungern Aug’ in Auge mit Stalin zurück.
Ich hatte in den Vorkriegsjahren das hohenzollerische Berlin gut kennengelernt. Es hatte seine Physiognomie, die niemand angenehm nennen konnte, vielen aber Achtung einflößte. Jetzt jedoch fand ich Berlin ganz verändert. Es hatte überhaupt keine Physiognomie mehr, mindestens konnte ich sie nicht entdecken. Die Stadt erholte sich nach einer langen und schweren Krankheit, die von einer Reihe chirurgischer Eingriffe begleitet war. Die Inflation war bereits vorüber, aber die feste Mark wurde nur ein Gradmesser der allgemeinen Auszehrung. In den Straßen, in den Geschäften, auf den Gesichtern der Vorübergehenden sah man Dürftigkeit und Ungeduld, mitunter den gierigen Wunsch, wieder nach oben zu kommen. Der deutsche Ordnungssinn und die Sauberkeit waren in den Jahren des Krieges, der Niederlagen und des Versailler Vertrages von der Armut besiegt worden. Der menschliche Ameisenhaufen versuchte nun hartnäckig, aber freudlos seine Gänge, Korridore und Lager, die der Stiefel des Krieges zertreten hatte, wiederherzurichten. im Rhythmus der Straße, in den Bewegungen und Gesten der Passanten fühlte man einen tragischen Schatten des Fatalismus: nichts zu machen, das Leben ist ein ewiges Zuchthaus, man muß wieder von vorn anfangen.
Für einige Wochen ward ich das Objekt medizinischer Beobachtungen in einer Berliner Privatklinik. Zum Erforschen der Ursachen meines geheimnisvollen Fiebers warfen mich die Ärzte einander zu. Am Ende rückte der Halsspezialist mit der Hypothese heraus, das Fieber komme von den Mandeldrüsen, und riet, sie auf jeden Fall auszuschneiden. Die Diagnostiker und Therapeuten schwankten: es waren ältere Menschen und Etappenleute. Der Chirurg mit der Kriegserfahrung hinter sich betrachtete sie mit vernichtender Verachtung. Nach ihm bedeutete das Ausschneiden der Mandeln soviel wie das Abrasieren eines Schnurrbartes. Man mußte einwilligen.
Die Assistenten machten sich bereit, mir die Hände festzubinden, der Professor begnügte sich jedoch mit Sicherungen moralischer Art. Aus den ermunternden Späßen der Chirurgen hörte man Gespanntheit und zurückgehaltene Erregung heraus. Das Unangenehmste war, unbeweglich auf dem Rücken zu liegen und an seinem eigenen Blut würgen zu müssen. Die Prozedur dauerte vierzig bis fünfzig Minuten. Alles verlief gut, wenn man davon absieht, daß die Operation wohl doch vergeblich gemacht worden war: nach einiger Zeit kehrte das Fieber zurück.
Die Zeit in Berlin, oder richtiger in der Klinik, war für mich nicht verloren. Ich stürzte mich auf die deutsche Presse, von der ich seit August 1914 fast völlig abgeschnitten gewesen war. Man brachte mir täglich etwa zwei Dutzend deutsche und einige ausländische Blätter, die ich nach dem Durchlesen auf den Fußboden warf. Die Professoren, die mich besuchten, mußten über einen Teppich aus Zeitungen verschiedenster Richtungen gehen. Eigentlich vernahm ich jetzt zum erstenmal die ganze Tonleiter der deutschen republikanischen Politik. Ich muß gestehen, ich fand nichts Neues. Die Republik als ein untergeschobenes Kind der militärischen Niederlage, Republikaner kraft des Versailler Zwanges, Sozialdemokraten als Nutznießer der von ihnen erstickten Novemberrevolution, Hindenburg als demokratischer Präsident. So ungefähr hatte ich mir alles schon vorgestellt. Und doch war es sehr lehrreich, das Ganze aus der Nähe zu betrachten ...
Am 1. Mai fuhr ich mit meiner Frau im Automobil durch die Stadt, wir sahen uns die Hauptstraßen an, beobachteten die Demonstrationen, lasen die Plakate, hörten Reden an, fuhren nach dem Alexanderplatz und vermischten uns mit der Masse. Ich habe viele Maidemonstrationen gesehen, imposantere, größere, dekorativere; ich hatte jedoch lange nicht mehr die Möglichkeit gehabt, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, mich in der Masse zu bewegen, mich als einen Teil des namenlosen Ganzen zu fühlen, nur hörend, nur beobachtend. Nur einmal sagte mir mein Begleiter leise: „Hier werden Ihre Bilder verkauft.“ Nach diesen Bildern aber hätte niemand das Kollegiumsmitglied des Volkskommissariats für Aufklärung, Kusjmenko, erkennen können. Für den Fall, daß diese Zeilen vor die Augen des Grafen Westarp, der Hermann Müller, Stresemann, des Grafen Reventlow, Hilferdings oder anderer kommen, die dagegen waren, daß man mir die Einreise nach Deutschland erlaubte, will ich ihnen mitteilen, daß ich keine verurteilenswerten Parolen verkündet, keine aufreizenden Plakate angeklebt habe und überhaupt nur ein Zuschauer war, der sich einige Tage vorher einer Operation zu unterziehen hatte.
Wir besuchten auch das Baumblütenfest in Werder. Hier gab es ungeheuer viel Menschen. Aber trotz der Frühlingsstimmung, die durch Sonne und Wein gesteigert wurde, lag auf den Gesichtern der sich Vergnügenden oder derer, die sich vergnügen wollten, der graue Schatten vergangener Jahre. Man brauchte nur aufmerksamer hinzusehen, und alle erschienen einem wie langsam Genesende: das Lustigsein fiel ihnen offensichtlich noch allzu schwer. Wir verbrachten einige Stunden in der Menge, beobachteten, ließen uns in Gespräche ein, aßen von Papiertellerchen Würstchen und tranken sogar Bier, dessen Geschmack wir seit dem Jahre 1917 schon vergessen hatten.
Ich erholte mich nach der Operation schnell und hatte schon den Tag meiner Abreise bestimmt. Da kam eine unerwartete Episode, die mir bis heute nicht ganz klar geworden ist. Etwa eine Woche vor meiner Abreise tauchten im Korridor der Klinik zwei Herren in Zivil von jenem charakteristischen Äußern auf, das mit voller Bestimmtheit vom Polizeihandwerk zeugt. Als ich aus dem Fenster auf den Hof blickte, gewahrte ich dort nicht weniger als ein halbes Dutzend ebensolcher Herren, die sich zwar voneinander unterschieden, gleichzeitig aber einander sehr ähnelten. Ich machte Krestinski, der gerade bei mir war, auf sie aufmerksam. Nach einigen Minuten klopfte ein Assistent an und teilte mir im Auftrage seines Professors erregt mit: es bereite sich gegen mich ein Attentat vor. „Hoffentlich nicht von seiten der Polizei?“ fragte ich, auf die zahlreichen Agenten zeigend. Der Arzt sprach die Vermutung aus, die Polizei sei zur Vorbeugung gegen das Attentat erschienen. Nach einigen Minuten kam ein Polizeirat und teilte Krestinski mit, daß die Polizei Mitteilung von einem gegen mich geplanten Attentat erhalten und nun außerordentliche Sicherheitsmaßnahmen getroffen habe. Die ganze Klinik war in Aufregung. Die Schwestern erzählten einander und den Patienten, in der Klinik befände sich Trotzki, und aus diesem Grunde sollten in das Gebäude ein paar Bomben geworfen werden. Es entstand eine Atmosphäre, die für eine Heilanstalt wenig passend war. Ich verabredete mit Krestinski, daß ich sofort in das Gebäude der Sowjetgesandtschaft übersiedele. Die Straße vor der Klinik wurde durch Polizei abgesperrt. Bei der Übersiedlung begleiteten mich Polizeiautomobile.
Die offizielle Version war etwa die: jemand, der im Zusammenhang mit einer Verschwörung deutscher Monarchisten verhaftet worden war, hatte dem Untersuchungsrichter angegeben, russische Weißgardisten planten in den nächsten Tagen ein Attentat auf Trotzki, der sich in Berlin aufhalte. Nun muß man sagen, daß die deutsche Diplomatie, mit deren Zustimmung meine Reise unternommen worden war, der Polizei wegen der zahlreichen monarchistischen Elemente in ihren Reihen davon absichtlich keine Mitteilung gemacht hatte. Die Polizei schenkte deshalb den Aussagen des verhafteten Monarchisten anfangs keinen Glauben, prüfte jedoch die Angabe über meinen Aufenthalt in der Klinik nach, und fand sie zu ihrem größten Erstaunen bestätigt. Da die Auskunft auch bei den Professoren eingeholt worden war, bekam ich zwei Warnungen: durch den Assistenten und durch den Polizeirat. Ob wirklich ein Attentat geplant war und ob die Polizei davon wirklich durch einen verhafteten Monarchisten erfahren hatte, kann ich natürlich nicht wissen. Ich vermute jedoch, daß die Sache viel einfacher war. Die Diplomatie hatte wohl das „Geheimnis“ nicht bewahrt, die Polizei aber, durch das Mißtrauen beleidigt, wollte vielleicht Herrn Stresemann, vielleicht auch mir beweisen, daß man ohne sie keine Mandeldrüsen ausschneiden könne. Wie dem auch gewesen sein mag, die Klinik wurde auf den Kopf gestellt, und ich übersiedelte unter gewaltiger Bedeckung vor den problematischen Feinden in die Botschaft. In die deutsche Presse drang später ein schwacher und unsicherer Widerhall dieser Geschichte; offensichtlich wollte keiner recht an sie glauben.
Die Tage meines Aufenthaltes in Berlin fielen zusammen mit großen europäischen Ereignissen: dem allgemeinen Streik in England und dem Staatsstreich Pilsudskis in Polen. Diese beiden Ereignisse haben meine Meinungsverschiedenheiten mit den Epigonen noch vertieft und die stürmischere Entwicklung unseres weiteren Kampfes vorausbestimmt. Man muß deshalb darüber hier einige Worte sagen.
Stalin, Bucharin und in der ersten Zeit auch Sinowjew betrachteten den diplomatischen Block zwischen der Spitze der Sowjetgewerkschaften und dem Generalrat der englischen Trade-Unions als die Krönung ihrer Politik. In seiner kleinstädtischen Beschränktheit bildete sich Stalin ein, Purcell und andere Führer der Trade-Unions wären bereit oder fähig, in einem schwierigen Augenblick die Sowjetrepublik gegen die englische Bourgeoisie zu unterstützen. Die Führer der Trade-Unions glaubten nicht ohne Grund, es sei für sie angesichts der Krise des englischen Kapitalismus und der wachsenden Unzufriedenheit der Massen vorteilhaft; eine Deckung von links zu haben, in Form einer sie zu nichts verpflichtenden offiziellen Freundschaft mit den Führern der Sowjetgewerkschaften. Beide Partner machten dabei einen großen Bogen um den Kern der Sache und fürchteten sich am meisten, die Dinge bei ihrem Namen zu nennen. Eine faule Politik zerschellt nicht selten an großen Ereignissen. Der allgemeine Generalstreik vom Mai 1926 war nicht nur im Leben Englands ein großes Ereignis, sondern auch im inneren Leben unserer Partei.
Das Schicksal Englands nach dem Kriege verdient ein besonderes Interesse. Die starke Änderung seiner Weltlage konnte nicht ohne Einfluß auf das innere Kräfteverhältnis des Landes bleiben. Es war ganz klar: wenn es Europa, zusammen mit England, auch gelingen sollte, nach einer kürzeren oder längeren Periode ein gewisses soziales Gleichgewicht wiederzuerlangen, so konnte England zu einem solchen Gleichgewicht nur durch eine Reihe ernster Zusammenstöße und Erschütterungen kommen. Ich erachtete es als sehr wahrscheinlich, daß gerade in England ein Konflikt in der Kohlenindustrie zum Generalstreik führen müßte. Daraus folgerte ich, daß sich unvermeidlich ein tiefer Gegensatz zwischen den alten Organisationen der Arbeiterklasse und ihren neuen historischen Aufgaben herausbilden müsse. Im Winter und im Frühling 1925 im Kaukasus schrieb ich darüber ein Buch (Wohin treibt England). Eigentlich wandte sich das Buch gegen die offizielle Auffassung des Politischen Büros, mit dessen Hoffnungen auf den Linkskurs des Generalrats und auf das allmähliche schmerzlose Eindringen des Kommunismus in die Reihen der Arbeiterpartei und der Trade-Unions. Teils, um überflüssige Verwicklungen zu vermeiden, teils, um meine Gegner zu prüfen, gab ich das Manuskript des Buches dem Politbüro zur Durchsicht. Da es sich hier um eine Prognose, nicht aber um eine nachträgliche Kritik handelte, so fand eins der Mitglieder des Politbüros den Mut, sich darüber zu äußern. Das Buch passierte glücklich die Zensur und wurde ohne Änderungen, wie es niedergeschrieben war, veröffentlicht. Es erschien bald auch in englischer Sprache. Die offiziellen Führer des englischen Sozialismus betrachteten das Buch als die Phantasien eines Ausländers, der die englischen Verhältnisse nicht kennt und davon schwärmt, den „russischen“ Generalstreik auf den Boden der britischen Inseln zu verpflanzen. Solche Urteile kann man zu Dutzenden, wenn nicht zu Hunderten, anführen, mit Macdonald selbst beginnend, dem im Wettstreit um politische Banalitäten zweifellos der erste Platz gebührt. Es vergingen jedoch kaum einige Monate, und der Streik der Kohlenarbeiter verwandelte sich in einen Generalstreik. Mit einer solchen rapiden Verwirklichung meiner Prognose hatte nicht einmal ich gerechnet. Bestätigte der Generalstreik die Richtigkeit der marxistischen Voraussage gegen die primitiven Kritiken des englischen Reformismus, so bedeutete die Haltung des Generalrats während des Generalstreiks einen Zusammenbruch der Stalinschen Hoffnungen auf Purcell. Mit gespanntester Aufmerksamkeit sammelte ich in der Klinik alle Berichte, die den Verlauf des Generalstreiks und ganz besonders die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Masse und den Führern schilderten. Am empörendsten war der Charakter der Artikel in der Moskauer Prawda. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, den Bankrott zu verschleiern und den Schein zu retten. Das konnte aber nur durch zynische Entstellung der Tatsachen erreicht werden. Es kann keinen größeren Beweis des geistigen Niederganges einer revolutionären Politik geben als den, daß sie gezwungen ist, die Masse zu betrügen.
Als ich nach Moskau zurückkam, forderte ich den sofortigen Abbruch des Blocks mit dem Generalrat. Nach den unvermeidlichen Schwankungen schloß sich Sinowjew mir an. Radek war dagegen. Stalin klammerte sich mit allen Kräften an den Block, selbst noch an den Schein des Blocks. Die englischen Trade-Unionisten warteten das Ende der scharfen inneren Krise ab, um dann ihren freigebigen, aber törichten Verbündeten durch eine unhöfliche Fußbewegung von sich zu stoßen.
Nicht weniger bemerkenswerte Ereignisse vollzogen sich gleichzeitig in Polen. Auf der Suche nach einem Ausweg beschritt die Kleinbourgeoisie den Weg des Aufstandes und hob Pilsudski auf den Schild. Der Führer der kommunistischen Partei, Warski, wähnte: es spiele sich vor seinen Augen die „demokratische Diktatur der Bauern und Arbeiter“ ab, und rief die kommunistische Partei zur Unterstützung Pilsudskis auf. Ich kenne Warski schon lange. Als Rosa Luxemburg lebte, konnte er noch einen Platz in den Reihen der Revolution einnehmen. Sich selbst überlassen, war Warski stets nur ein leerer Platz. Im Jahre 1924 erklärte Warski nach großen Schwankungen, er habe endlich die Schädlichkeit des „Trotzkismus“, das heißt einer Unterschätzung der Bauernschaft für die Sache der demokratischen Diktatur, erkannt. Zum Lohn für diesen Gehorsam wurde er als Führer eingesetzt. Nun wartete er auf eine Gelegenheit, um die Sporen, die er so spät bekommen harte, sich erneut zu verdienen. Im Mai 1926 versäumte Warski die so glänzende Gelegenheit nicht, sich und die Fahne der Partei zu beflecken. Er blieb natürlich unbestraft: gegen die Empörung der polnischen Arbeiter schützte ihn der Stalinsche Apparat.
Der Kampf in der russischen Partei wurde im Jahre 1926 immer schärfer. Im Herbst machte die Opposition in den Versammlungen der Parteizellen einen offenen Ausfall. Er wurde vom Apparat wild zurückgeschlagen. Den geistigen Kampf ersetzte die administrative Mechanik: telephonische Abkommandierung der Parteibürokratie zu den Versammlungen der Arbeiterzellen, Anhäufung von Automobilen der Apparatleute vor allen Versammlungen, Heulen der Sirenen, gut organisiertes Pfeifen und Brüllen bei Erscheinen der Opposition auf der Tribüne. Die regierende Fraktion übte einen Terror aus durch ihre mechanische Macht, durch Drohungen und Repressalien. Ehe die Parteimasse noch etwas erfahren, begreifen und sagen konnte, machte man ihr vor einer Spaltung oder einer Katastrophe angst. Die Opposition mußte den Rückzug antreten. Wir gaben am 16. Oktober eine Erklärung in dem Sinne ab, daß wir unsere Ansichten für richtig erachteten und uns das Recht vorbehielten, im Rahmen der Partei für sie zu kämpfen, jedoch von solchen Handlungen zurückträten, welche die Gefahr einer Spaltung erzeugen könnten. Die Erklärung vom 16. Oktober war nicht für den Apparat, sondern für die Parteimassen bestimmt. Sie war der Ausdruck unseres Willens, in der Partei zu bleiben und ihr weiter zu dienen. Obwohl die Stalinisten schon am nächsten Tage das Abkommen nicht mehr hielten, hatten wir doch Zeit gewonnen. Der Winter 1926-27 brachte eine Atempause, die uns die Möglichkeit gab, in einer Reihe von Fragen theoretische Vertiefung zu erreichen.
Schon zu Beginn des Jahres 1927 war Sinowjew bereit, zu kapitulieren, wenn nicht auf einmal, so doch nach und nach. Aber da kamen die erschütternden Ereignisse in China. Das Verbrechen der Stalinschen Politik wurde zu offensichtlich. Das hielt die Kapitulation Sinowjews und aller, die nach ihm kamen, für eine Weile auf.
Die Führung der Epigonen in China trat alle Traditionen des Bolschewismus mit Füßen. Die chinesische kommunistische Partei war gegen ihren Willen in den Bestand der bürgerlichen Partei des Kuomintang übergeführt und unter deren militärische Disziplin gestellt worden. Die Schaffung von Sowjets wurde verboten. Den Kommunisten war anempfohlen worden, die Agrarrevolution aufzuhalten, die Arbeiter ohne Erlaubnis der Bourgeoisie nicht zu bewaffnen. Lange bevor Tschiang Kai-schek die Shanghaier Arbeiter niedergeschlagen und die Macht in den Händen einer militärischen Clique konzentriert hatte, wiesen wir warnend auf die Unvermeidlichkeit eines solchen Ausganges hin. Seit 1925 hatte ich den Austritt der Kommunisten aus der Kuomintang gefordert. Die Politik Stalin-Bucharin hatte nicht nur die Niederschlagung der Revolution vorbereitet und erleichtert, sondern auch mit Hilfe von Repressalien des Staatsapparates die konterrevolutionäre Tätigkeit Tschiang Kai-scheks vor unserer Kritik geschützt. Noch im April 1927 verteidigte Stalin in einer Parteiversammlung im Kolonnensaal die Politik der Koalition mit Tschiang Kai-schek und forderte, ihr Vertrauen zu schenken. Fünf oder sechs Tage später hatte Tschiang Kai-schek die Shanghaier Arbeiter und die kommunistische Partei im Blute ertränkt.
Eine Welle der Erregung ging durch die Partei. Die Opposition erhob den Kopf. Alle Regeln der Konspiration verletzend – und in jener Zeit waren wir bereits gezwungen, in Moskau die Shanghaier Arbeiter gegen Tschiang Kai-schek auf konspirativen Wegen zu verteidigen –, kamen Oppositionelle zu Dutzenden zu mir in das Gebäude des Hauptkomitees für Konzessionen. Viele junge Genossen glaubten, daß ein so offensichtlicher Bankrott der Stalinschen Politik den Sieg der Opposition näherbringen müßte. In den ersten Tagen nach dem Staatsstreich Tschiang Kai-scheks habe ich viele Eimer kalten Wassers über die heißen Köpfe meiner jungen und auch nicht jungen Freunde gießen müssen. Ich versuchte zu beweisen, daß die Opposition sich nicht auf der Niederlage der chinesischen Revolution aufrichten dürfe. Die Bestätigung unserer Prognose werde uns zwar tausend, fünftausend, zehntausend neue Anhänger bringen. Für die Millionen aber sei nicht die Prognose, sondern die Tatsache der Niederschlagung des chinesischen Proletariats von entscheidender Bedeutung. Nach der Niederlage der deutschen Revolution im Jahre 1923, nach dem Zusammenbruch des englischen Generalstreiks von 1926 werde diese neue Niederlage in China die Enttäuschung der Massen in bezug auf die internationale Revolution nur verstärken. Und gerade diese Enttäuschung bilde die psychologische Quelle für die Stalinsche Politik des Nationalreformismus.
Sehr bald schon zeigte es sich, daß wir als Fraktion tatsächlich stärker geworden waren, das heißt ideologisch einheitlicher und zahlenmäßig größer. Die Nabelschnur aber, die uns mit der Macht verbunden hatte, war von dem Schwerte Tschiang Kai-scheks durchschnitten worden. Seinem restlos kompromittierten russischen Verbündeten Stalin blieb nichts weiter übrig, als die Niederschlagung der Arbeiter von Shanghai durch die organisatorische Niederschlagung der Opposition zu ergänzen. Den Kern der Opposition bildete eine Gruppe alter Revolutionäre. Aber wir waren jetzt nicht mehr allein. Um uns gruppierten sich Hunderte und Tausende Revolutionäre der neuen Generation, die erst durch die Oktoberrevolution zum politischen Leben erweckt worden war, den Bürgerkrieg hinter sich hatte, vor der gewaltigen Autorität des Leninschen Zentralkomitees aufrichtig stramm stand. Diese neue Generation hatte erst seit dem Jahre 23 begonnen, selbständig zu denken, Kritik zu üben, neue Wendungen in der Entwicklung mit dem Maß der marxistischen Methode zu prüfen, und sie mußte, was noch schwieriger ist, nun lernen, die Verantwortung für die revolutionäre Initiative selbst zu tragen. Zur Zeit vertiefen Tausende solcher jungen Revolutionäre in den Gefängnissen und den Verbannungsorten des Stalinschen Regimes ihre politische Erfahrung durch theoretisches Studium.
Die Kerngruppe der Opposition ging dieser Lösung mit offenen Augen entgegen. Wir wußten genau, daß wir nicht durch Paktieren und Ausweichen unsere Ideen auf die junge Generation übertragen konnten, sondern nur im offenen Kampfe, der vor keinen praktischen Folgen zurückschreckt. Wir gingen einer sicheren Niederlage entgegen, bereiteten jedoch unseren geistigen Sieg für eine fernere Zukunft vor.
Die Anwendung der physischen Gewalt hat in der Geschichte der Menschheit stets eine große Rolle gespielt und spielt sie noch jetzt: einmal eine fortschrittliche, ein anderes Mal eine reaktionäre, je nachdem, welche Klasse die Gewalt anwendet und für welche Ziele sie angewandt wird. Aber unendlich fern davon ist die Schlußfolgerung, daß man mit der Gewalt alle Fragen lösen und alle Hindernisse wegräumen könne. Die Entwicklung der historisch-fortschrittlichen Tendenzen mit Waffengewalt aufzuhalten, – ist möglich. Ihnen den Weg für immer zu versperren, ist unmöglich. Der Revolutionär kann sich deshalb, geht es um den Kampf großer Prinzipien, nur von der einen Regel leiten lassen: fais ce que dois, advienne que pourra.
Je mehr die Partei sich dem Fünfzehnten Parteitag näherte, der für Ende 1927 angesetzt war, um so mehr fühlte sie sich an einem historischen Kreuzweg. Eine tiefe Unruhe durchzitterte ihre Reihen. Trotz dem ungeheuren Terror erwachte in der Partei der Wunsch, die Stimme der Opposition zu vernehmen. Das war nur auf illegalem Wege zu erreichen. An mehreren Stellen in Moskau und in Leningrad fanden geheime Versammlungen von Arbeitern, Arbeiterinnen und Studenten statt, wo zwanzig bis hundert und zweihundert Menschen zusammenkamen, um einen Vertreter der Opposition anzuhören. Im Laufe eines Tages besuchte ich zwei, drei mitunter auch vier solcher Versammlungen. Sie fanden gewöhnlich in Arbeiterwohnungen statt. Zwei kleine Zimmerchen waren vollgestopft, der Redner stand in der Türe zwischen den Zimmern. Manchmal saßen alle auf dem Fußboden; häufiger mußte man wegen Raummangel stehend diskutieren. Mitunter erschienen Vertreter der Kontrollkommission mit der Aufforderung an die Versammelten, auseinanderzugehen. Man lud sie ein, sich an der Diskussion zu beteiligen. Störten sie, dann wurden sie vor die Türe gesetzt. Insgesamt haben in Moskau und Leningrad etwa zwanzigtausend Menschen solche Versammlungen besucht. Der Zustrom wuchs. Die Opposition hatte geschickt eine große Versammlung im Saal der Technischen Hochschule vorbereitet, der von innen besetzt wurde. Der Saal war von zweitausend Menschen überfüllt. Eine große Menge blieb noch auf der Straße. Störungsversuche der Verwaltung blieben erfolglos. Ich und Kamenjew sprachen etwa zwei Stunden. Nunmehr erließ das Zentralkomitee einen Aufruf an die Arbeiterschaft, man müsse die Versammlungen der Opposition mit Gewalt auseinandertreiben. Dieser Aufruf war nur eine Maskierung für die sorgfältig vorbereiteten Überfälle von Stoßtrupps der GPU auf die Opposition. Stalin wollte eine blutige Lösung. Wir gaben das Signal, die großen Versammlungen vorübergehend einzustellen. Aber das war schon nach der Demonstration vom 7. November.
Im Oktober 1927 tagte das Zentralexekutivkomitee in Leningrad. Zu Ehren der Tagung wurde eine Massendemonstration veranstaltet. Durch eine zufällige Fügung der Umstände nahm aber die Demonstration eine ganz unerwartete Wendung. Zusammen mit Sinowjew und noch einigen anderen Oppositionellen fuhr ich im Automobil durch die Stadt, um die Größe und die Stimmung der Demonstration zu beobachten. Zuletzt kamen wir am Taurischen Palais vorbei, wo für die Mitglieder des Zentralexekutivkomitees auf Lastwagen Tribünen hergerichtet waren. Unser Auto geriet in eine Absperrung: es gab keine Durchfahrt. Doch ehe wir Zeit fanden zu überlegen, wie wir aus der Sackgasse hinauskommen könnten, eilte der Kommandant an unser Auto heran und gab uns ohne Arglist das Geleit zu den Tribünen. Bevor wir unsere eigenen Bedenken überwinden konnten, bahnten uns zwei Reihen Milizsoldaten den Weg zum Lastauto, das noch leer stand. Sobald es der Masse bekannt wurde, daß wir uns auf der äußersten Tribüne befanden, veränderte die Demonstration plötzlich ihre Physiognomie. Die Menge schritt gleichgültig an den ersten Lastwagen vorbei und eilte, ohne die Begrüßungen aus diesen Wagen zu beachten, zu uns. Um unseren Lastwagen bildete sich bald eine vieltausendköpfige Stauung. Arbeiter und Rotarmisten blieben stehen, blickten hinauf, riefen uns Begrüßungen zu, mußten aber unter dem ungeduldigen Nachdrängen der hinteren Reihen weitergehen. Die Milizabteilung, die man zur Herstellung der Ordnung an unseren Lastwagen schickte, wurde selbst von der Stimmung mitgerissen und blieb untätig. Nun wurde ein halbes Hundert zuverlässiger Agenten des Apparates geschickt. Sie versuchten zu pfeifen, aber die vereinzelten Pfiffe gingen in den zustimmenden Rufen unter. Die Lage wurde für die offiziellen Leiter der Demonstration immer unerträglicher. Schließlich verließen der Vorsitzende des Allrussischen Zentralexekutivkomitees und einige andere angesehene Mitglieder die erste Tribüne, wo peinliche Leere gähnte, und kletterten auf unser Auto, das den letzten Platz einnahm und nur für weniger „vornehme“ Gäste bestimmt war. Aber auch dieser tapfere Streich rettete die Lage nicht. Die Masse rief beharrlich Namen, aber es waren nicht die Namen der offiziellen Herren des Tages.
Sinowjew wurde gleich vom Optimismus überwältigt und erwartete von der Demonstration die größten Folgen. Ich teilte seine impulsive Bewertung der Situation nicht. Die Arbeitermasse Leningrads zeigte ihre Unzufriedenheit durch eine platonische Sympathiekundgebung für die Führer der Opposition, sie war aber noch nicht fähig, den Apparat zu hindern, mit uns abzurechnen. In dieser Hinsicht machte ich mir keine Illusionen. Andererseits mußte die Demonstration der regierenden Fraktion die Notwendigkeit zeigen, die Abrechnung mit der Opposition zu beschleunigen, um die Masse vor eine vollendete Tatsache zu stellen.
Der nächste Markstein war die Moskauer Demonstration zum zehnten Jahrestage des Oktoberumsturzes. Als Veranstalter der Demonstration, als Verfasser der Jubiläumsartikel und als Redner traten überall Menschen auf, die während des Oktoberumsturzes jenseits der Barrikaden gestanden oder sich im Schoße der Familie verborgen gehalten hatten, um dort abzuwarten, was aus der Sache werden würde, und die sich der Revolution erst nach deren sicherem Sieg anzuschließen wagten. Eher mit Humor als mit Bitternis las ich die Artikel oder hörte ich durch das Radio die Reden, in denen diese Schmarotzer mich des Verrats an der Oktoberrevolution beschuldigten. Wenn wir die Dynamik des historischen Prozesses begreifen und wenn wir sehen, wie eine ihm selbst unbekannte Hand den Gegner am Schnürchen zieht, dann verlieren auch die ekelhaftesten Gemeinheiten und Verrätereien über uns jede Macht. Die Opposition beschloß, sich an der allgemeinen Demonstration mit eigenen Plakaten zu beteiligen. Die Parolen auf den Plakaten waren keinesfalls gegen die Partei gerichtet: „Wir wollen das Feuer gegen rechts richten – gegen den Kulaken, NOPmann und Bürokraten“, „Wir wollen das Testament Lenins erfüllen“, „Gegen Opportunismus, gegen Spaltung, für die Einheit der Leninschen Partei“. Heute sind diese Parolen das offizielle Bekenntnis der Stalinschen Fraktion in ihrem Kampfe gegen die Rechten. Am 7. November 1927 wurden der Opposition diese Plakate aus den Händen gerissen, zerfetzt, die Träger durch besondere Kommandos verprügelt. Die Erfahrung der Leningrader Demonstration hatte die offiziellen Führer manches gelehrt. Sie waren diesmal besser vorbereitet. In der Masse fühlte man ein Unbehagen. Sie beteiligte sich im Zustande tiefer Unruhe an der Demonstration. Über der riesigen, verwirrten und erregten Masse erhoben sich zwei aktive Gruppen: die Opposition und der Apparat. Als Freiwillige im Kampfe gegen den „Trotzkismus“ kamen dem Apparat notorisch nichtrevolutionäre, teils sogar offen faschistische Elemente der Moskauer Straße zu Hilfe. Angeblich als Warnung schoß ein Milizsoldat auf mein Automobil. Jemand lenkte seine Hand. Ein betrunkener Feuerwehrbeamter sprang mit gemeinsten Schimpfworten auf das Trittbrett meines Wagens und schlug eine Scheibe ein. Wer zu sehen vermochte, sah am 7. November 1927 auf den Straßen Moskaus eine Probe des Thermidors.
Ähnlich verlief die Demonstration in Leningrad. Sinowjew und Radek, die hingereist waren, wurden von einer besonderen Abteilung angegriffen und unter dem Vorwand, sie vor der Menge zu schützen, für die Zeit der Demonstration in einem Gebäude gefangengehalten. Sinowjew schrieb mir an diesem Tage nach Moskau: „Alle Berichte besagen, daß diese Gemeinheiten unserer Sache nur nützen werden. Wir sind beunruhigt, was bei euch vorgefallen ist. Unsere Verbindungen (das heißt illegale Diskussionen mit den Arbeitern) stehen gut. Ein großer Umschwung zu unseren Gunsten. Wir reisen von hier noch nicht ab.“ Das war das letzte Aufflackern der oppositionellen Energie bei Sinowjew. Nach einem Tage schon war er in Moskau und drängte zur Kapitulation.
Den 16. November nahm sich Joffe das Leben; sein Tod fiel mitten in den sich entwickelnden Kampf.
Joffe war ein sehr kranker Mensch. Aus Japan, wo er Gesandter gewesen war, brachte man ihn in bedenklichem Zustande zurück. Nur mit großer Mühe gelang es, ihn ins Ausland zu schicken. Der Aufenthalt dort währte zu kurz. Er hatte gute, aber nicht genügende Wirkung. Joffe wurde mein Stellvertreter im Hauptkomitee für Konzessionen. Die ganze laufende Arbeit lastete auf ihm. Er nahm die Krise in der Partei sehr schwer. Am meisten erschütterte ihn die Treulosigkeit. Mehrere Male wollte er ernstlich den Kampf aufnehmen. Ich hielt ihn aus Sorge um seine Gesundheit zurück Besonders war Joffe über die Kampagne gegen die permanente Revolution empört. Er konnte die niederträchtige Hetze nicht verwinden, die gegen jene, die den Verlauf und den Charakter der Revolution lange vorausgesehen hatten, betrieben wurde von solchen, die nur die Früchte der Revolution genossen. Joffe erzählte mir sein Gespräch, das er mit Lenin, ich glaube im Jahre 1919, über das Thema der permanenten Revolution geführt hatte. Lenin hatte ihm gesagt: „Ja, Trotzki hat recht gehabt.“ Joffe wollte dieses Gespräch nun veröffentlichen. Ich hielt ihn mit allen Mitteln zurück. Ich sah voraus, welche Lawine von Gemeinheiten sich über ihn stürzen würde. Joffe war sehr beharrlich, von einer besonderen, der Form nach milden, aber innerlich unbeugsamen Festigkeit. Bei jedem Ausbruch aggressiven Unwissens und politischen Treubruchs kam er mit eingefallenen, fahlen Wangen entrüstet zu mir und wiederholte: „Nein, man muß es veröffentlichen.“ Ich suchte ihm immer wieder zu beweisen, daß eine solche „Zeugnisabgabe“ nichts ändern würde, daß man vielmehr die neue Parteigeneration heranbilden und sich auf weite Sicht einstellen müsse.
Der physische Zustand Joffes, der im Auslande nicht geheilt worden war, verschlechterte sich von Tag zu Tag. Zum Herbst war Joffe gezwungen, die Arbeit einzustellen und sich dann überhaupt hinzulegen. Seine Freunde forderten von neuem eine Auslandsreise. Diesmal lehnte das Zentralkomitee die Zustimmung entschieden ab. Die Stalinisten bereiteten sich jetzt darauf vor, die Oppositionellen in eine ganz andere Richtung zu verschicken. Mein Ausschluß aus dem Zentralkomitee und darauf aus der Partei erschütterte Joffe mehr als jemanden sonst. Zu der politischen und persönlichen Empörung kam noch das klare Bewußtsein der eigenen physischen Ohnmacht. Untrüglich fühlte Joffe, daß es um das Schicksal der Revolution gehe. Zu kämpfen war er nicht mehr imstande. Außerhalb des Kampfes hatte das Leben für ihn keinen Sinn. Und so zog er für sich die letzte Folgerung.
Ich wohnte in jenen Tagen nicht mehr im Kreml, sondern in der Wohnung meines Freundes Beloborodow, der noch immer als Volkskommissar des Innern galt, obwohl ihm die Agenten der GPU auf den Fersen waren. Beloborodow hielt sich damals im heimatlichen Ural auf, wo er im Kampf mit dem Apparat einen Weg zu den Arbeitern suchte. Ich klingelte in Joffes Wohnung an, um mich nach seiner Gesundheit zu erkundigen. Er antwortete selbst: das Telephon stand an seinem Bette. Seine Stimme klang – ich bin mir erst später darüber klar geworden – seltsam, gespannt, unruhig. Er bat mich, zu ihm zu kommen. Etwas verhinderte mich, seine Bitte sofort zu erfüllen. Es waren stürmische Tage, in die Wohnung Beloborodows kamen ununterbrochen Genossen, um unaufschiebbare Fragen zu beraten. Nach einer oder zwei Stunden sagte mir eine unbekannte Stimme am Telephon: „Adolf Abramowitsch hat sich erschossen. Auf seinem Tischchen liegt ein Brief für Sie.“ In der Wohnung Beloborodows hielten immer einige oppositionelle Militärs Wache. Sie begleiteten mich, wenn ich in die Stadt ausging. Wir begaben uns eiligst zu Joffe. Auf unser Klingeln und Klopfen fragte man hinter der Tür nach unseren Namen und öffnete uns nicht sogleich: hinter der Tür geschah etwas Dunkles. Von dem blutbedeckten Kissen hob sich das ruhige, von einer inneren Güte verklärte Gesicht Adolf Abramowitschs ab. An seinem Schreibtisch machte sich B., ein Mitglied des Kollegiums der GPU, zu schaffen. Ein Brief war auf dem Tische nicht zu sehen. Ich verlangte, daß man ihn mir sofort herausgebe. B. brummte etwas; es sei ein Brief dagewesen. Sein Aussehen und seine Stimme ließen keinen Zweifel darüber, daß er log. Nach einigen Minuten sammelten sich in der Wohnung Freunde aus der ganzen Stadt. Die offiziellen Vertreter des Kommissariats des Äußeren und der Parteimstitutionen fühlten sich einsam unter der Masse der Oppositionellen. Während der Nacht besuchten einige Tausend Menschen die Wohnung. Die Kunde von dem Raube des Briefes verbreitete sich in der Stadt. Ausländische Journalisten teilten die Tatsache in ihren Telegrammen mit. Den Brief noch weiter zu verheimlichen war unmöglich. Endlich wurde Rakowski eine photographische Kopie des Briefes ausgehändigt. Weshalb der von Joffe an mich geschriebene und in einem geschlossenen Kuvert an meine Adresse gerichtete Brief Rakowski übergeben wurde, und nicht einmal im Original, sondern in einer photographischen Kopie, ist unerklärlich. Der Brief Joffes gibt ein getreues Abbild meines Freundes, aber eine halbe Stunde vor dem Tode. Joffe kannte mein Verhältnis zu ihm, er war mit mir durch ein tief moralisches Vertrauen verbunden, und er hatte mir das Recht übertragen, aus dem Brief das zu streichen, was nach meiner Meinung für eine Veröffentlichung überflüssig oder ungeeignet sein könnte. Nachdem es ihm nicht gelungen war, den Brief vor der Welt zu verheimlichen, hat der zynische Feind vergeblich versucht, gerade jene Zeilen, die nicht für die Veröffentlichung bestimmt waren, für sich auszunutzen.
Joffe wollte seinen Tod in den Dienst jener Sache stellen, der er sein ganzes Leben gewidmet hatte. Mit der Hand, die nach einer halben Stunde den Revolver gegen die Schläfe richten sollte, schrieb er das letzte Zeugnis und die letzten Ratschläge für einen Freund. Folgendes hat Joffe in seinem Abschiedsbrief über mich persönlich gesagt:
„Mit Ihnen, lieber Lew Dawidowitsch, verbinden mich Jahrzehnte gemeinsamer Arbeit und, ich wage es zu hoffen, auch persönlicher Freundschaft. Das gibt mir das Recht, Ihnen zum Abschied zu sagen, was mir bei Ihnen als Fehler erscheint. Ich habe nie an der Richtigkeit des von Ihnen bezeichneten Weges gezweifelt, und Sie wissen, daß ich seit mehr als zwanzig Jahren mit Ihnen gehe, seit den Zeiten der ‚permanenten Revolution‘. Aber ich war immer der Meinung, daß Ihnen die Leninsche Unbeugsamkeit und Unnachgiebigkeit fehlt seine Bereitschaft, auf dem Wege, den er als richtig erkannt hat, wenn es sein muß, allein zu bleiben, in Voraussicht einer späteren Mehrheit, einer späteren allgemeinen Anerkennung der Richtigkeit dieses Weges. Sie waren politisch immer im Recht, seit dem Jahre 1905, und ich habe Ihnen wiederholt erklärt, daß ich mit meinen eigenen Ohren gehört habe, wie Lenin gestand, daß auch im Jahre 1905 nicht er, sondern Sie recht gehabt hätten. Vor dem Tode lügt man nicht, und ich wiederhole es Ihnen jetzt noch einmal ... Aber sie haben häufig auf Ihr eigenes Recht verzichtet zugunsten eines von Ihnen überschätzten Abkommens, eines Kompromisses. Das ist ein Fehler. Ich wiederhole, politisch haben Sie immer recht gehabt, und jetzt haben Sie mehr recht als je. Einmal wird die Partei es einsehen, und auch die Geschichte wird es unbedingt anerkennen. So haben Sie denn keine Angst, wenn jemand von Ihnen abrücken sollte, und noch weniger, wenn nicht viele so schnell, wie wir es alle wünschen, zu Ihnen kommen. Sie haben recht, aber Bürgschaft für den Sieg Ihres Rechtes ist die äußerste Unnachgiebigkeit, die strengste Geradlinigkeit die restlose Ablehnung jeglicher Kompromisse, genau so, wie darin gerade stets das Geheimnis der Siege Iljitschs lag. Dies wollte ich Ihnen viele Male sagen, aber erst jetzt habe ich mich dazu entschlossen, zum Abschied.“
Die Bestattung Joffes wurde auf einen Arbeitstag und eine Arbeitsstunde festgelegt, um die Beteiligung des Moskauer Proletariats zu verhindern. Aber dennoch fand die Bestattung nicht weniger als zehntausend Menschen versammelt, und sie verwandelte sich in eine machtvolle oppositionelle Demonstration.
Inzwischen bereitete die Fraktion Stalins den Parteitag vor, bemüht, ihn vor die vollendete Tatsache einer Spaltung zu stellen. Die sogenannten Wahlen zu den Ortskonferenzen, die Delegierte zum Parteitag entsandten, waren vor der offiziellen, Eröffnung der durch und durch verlogenen „Diskussion“ schon vollzogen, während militärisch organisierte Pfeifkolonnen auf faschistische Art die Versammlungen sprengten. Es ist überhaupt schwer, sich etwas Schändlicheres vorzustellen als die Vorbereitung des Fünfzehnten Parteitages. Für Sinowjew und seine Gruppe war es nicht schwer zu erraten, daß der Parteitag politisch jene physische Niederschlagung vollenden würde, die auf den Straßen Moskaus und Leningrads am zwölften Jahrestage des Oktoberumsturzes begonnen hatte. Die einzige Sorge Sinowjews und seiner Freunde war jetzt: rechtzeitig zu kapitulieren. Sie konnten natürlich nicht mißverstehen, daß die Stalinschen Bürokraten den wahren Feind nicht in ihnen, den Oppositionellen zweiter Ordnung, sahen, sondern in dem Kern der Opposition, der mit mir verbunden war. Sie hofften, durch einen demonstrativen Bruch mit mir im Augenblick des Fünfzehnten Parteitages wenn nicht Wohlwollen, so doch Verzeihung zu erkaufen. Sie bedachten dabei nicht, daß der doppelte Verrat sie politisch erledigen müsse. Haben sie unsere Gruppe durch einen Stoß in den Rücken auch vorübergehend geschwächt so haben sie sich selbst dem politischen Tode geweiht. Der Fünfzehnte Parteitag nahm den Ausschluß der Opposition in ihrer Gesamtheit an. Die Ausgeschlossenen wurden der GPU zur Verfügung gestellt.
Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008