Leo Trotzki

 

Mein Leben


Die Verschwörung der Epigonen

Es waren die ersten Wochen des Jahres 1923. Der Zwölfte Parteitag rückte näher heran. Es bestand fast keine Hoffnung mehr, daß Lenin würde teilnehmen können. Damit wurde die Frage dringend, wer das politische Hauptreferat halten sollte. Stalin sagte in der Sitzung des politischen Büros: „Natürlich Trotzki.“ Ihn unterstützten sogleich Kalinin, Rykow und, offensichtlich wider Willen, Kamenjew. Ich widersprach. Es würde für die Partei unheimlich sein wenn jemand von uns versuchen wollte, den kranken Lenin zu ersetzen. Wir müßten uns diesmal ohne das einführende politische Referat begnügen. Nur zu den einzelnen Punkten der Tagesordnung das Nötige sagen. Außerdem bestehen zwischen uns Differenzen in den Fragen der Wirtschaft. „Was für Differenzen?“ antwortete Stalin. Kalinin fügte hinzu: „Fast in allen Fragen gehen im Politbüro Ihre Beschlüsse durch.“ Sinowjew war auf Urlaub im Kaukasus. Die Frage blieb unentschieden. Ich übernahm jedenfalls das Referat über die Industrie.

Stalin wußte, daß von Lenins Seite her über ihn ein Gewitter heraufzog, und hofierte mich auf jede Weise. Er wiederholte, das politische Referat müsse das nach Lenin einflußreichste und populärste Mitglied des Zentralkomitees halten, das heißt Trotzki, die Partei erwarte nichts anderes und würde etwas anderes nicht verstehen. Bei seinen Bemühungen, katzenfreundlich zu sein, erschien er mir noch fremder als bei den offenen Äußerungen der Feindseligkeit, um so mehr als seine Beweggründe zu kraß hervortraten.

Aus dem Kaukasus kehrte Sinowjew zurück. Hinter meinem Rücken gingen unaufhörlich fraktionelle Beratungen, zu jener Zeit noch in sehr engem Rahmen. Sinowjew erhob Anspruch auf das politische Referat. Kamenjew befragte die vertrauteren „alten Bolschewiki“, von denen die Mehrzahl zehn bis fünfzehn Jahre der Partei ferngeblieben war: „Werden wir es wirklich zulassen, daß Trotzki der alleinige Führer der Partei und des Staates wird?“ In den Winkeln begann man immer häufiger die Vergangenheit zu durchwühlen, man erinnerte sich meiner alten Differenzen mit Lenin. Das wurde Sinowjews Spezialität. Inzwischen verschlimmerte sich der Zustand Lenins jäh; von dieser Seite drohte also keine „Gefahr“. Das Trio beschloß: das politische Referat hält Sinowjew. Ich widersprach nicht, als nach gehöriger Vorbereitung hinter den Kulissen die Frage im politischen Büro eingebracht wurde. Alles trug den Stempel des Provisoriums. Offene Meinungsverschiedenheiten gab es nicht, wie es bei dem „Trio“ auch keine eigene Linie gab. Meine Thesen über die Industrie waren zuerst ohne Debatten angenommen worden. Als es sich jedoch zeigte, daß auf Lenins Rückkehr zur Arbeit keine Hoffnung mehr bestand, machte das Trio aus Furcht vor einer allzu friedlichen Vorbereitung des Parteitages eine schroffe Schwenkung. Jetzt suchte es schon nach einer Möglichkeit, die Parteispitze mir entgegenzustellen. Im letzten Augenblick vor Beginn des Parteitages brachte Kamenjew zu meiner Resolution, die schon die Zustimmung besaß, eine Ergänzung, die Bauernschaft betreffend, ein. Es hat keinen Sinn, hier bei dem Wesen der Korrektur zu verweilen, die weder einen theoretischen noch politischen, sondern nur einen provokatorischen Charakter trug. Sie sollte den Anhaltspunkt bieten für die Beschuldigungen gegen mich wegen meiner „Unterschätzung“ der Bauernschaft – vorläufig noch hinter den Kulissen. Drei Jahre später, nach seinem Bruch mit Stalin, erzählte mir Kamenjew mit dem ihm eigenen gutmütigen Zynismus, wie diese Anschuldigungen, die selbstverständlich keiner der Urheber ernst nahm, gebraut worden war.

In der Politik mit abstrakten moralischen Kriterien zu operieren ist von vornherein eine hoffnungslose Sache. Die politische Moral ergibt sich aus der Politik selbst, bildet eine ihrer Funktionen. Nur die Politik, die im Dienste einer großen historischen Aufgabe steht, ist imstande, sich moralisch einwandsfreie Methoden ihrer Handlungen zu sichern. Das Herabsinken des Niveaus der politischen Aufgaben führt unvermeidlich zum moralischen Verfall. Figaro hat sich bekanntlich überhaupt geweigert, einen Unterschied zwischen Politik und Intrige zu machen. Und er hat doch noch vor der Ära des Parlamentarismus gelebt! Wenn die Moralprediger der bürgerlichen Demokratie versuchen, in der revolutionären Diktatur an sich die Quelle der schlechten politischen Sitten zu suchen, dann kann man nur mitleidig die Achseln zucken: Es wäre sehr lehrreich, einen Film des modernen Parlamentarismus auch nur eines Jahres zu drehen: nur dürfte man den Aufnahmeapparat nicht neben den Sessel des Präsidenten des Parlaments, im Moment der Annahme einer patriotischen Resolution, placieren, sondern an ganz anderen Orten: in den Büros der Bankiers und der Industriellen, in den versteckten Redaktionswinkeln, bei den Kirchenfürsten, in den Salons politischer Damen, in den Ministerien, – und dabei das Auge der Kamera auch in die Geheimkorrespondenz der Parteiführer hineinblicken lassen... Dagegen wäre es sehr richtig, zu sagen, daß man an die politischen Sitten einer revolutionären Diktatur ganz andere Ansprüche stellen muß als an die Sitten des Parlamentarismus. Allein schon die Schärfe der Waffen und der Methoden der Diktatur erfordert eine viel sorgfältigere Antiseptik. Ein schmutziger Pantoffel ist harmlos. Ein schmutziges Rasiermesser sehr gefährlich. Die Methoden des Trios bedeuteten an sich ein politisches Herabsinken.

Die Hauptschwierigkeit lag für die Verschwörer im offenen Auftreten gegen mich vor dem Angesicht der Masse. Sinowjew und Kamenjew waren den Arbeitern bekannt, die ihnen gern zuhörten. Moralische Autorität besaßen sie in der Partei nicht. Ihr Verhalten im Jahre 1917 war noch zu frisch in aller Erinnerung. Stalin kannte außerhalb des engen Kreises der alten Bolschewiki fast niemand. Einige meiner Freunde sagten: „Sie werden es nie wagen, offen gegen Sie aufzutreten. Im Bewußtsein des Volkes ist Ihr Name unzertrennbar mit dem Namen Lenin verbunden. Weder die Oktoberrevolution, noch die Rote Armee, noch den Bürgerkrieg kann man auslöschen.“ Ich war anderer Meinung. Persönliche Autorität spielt in der Politik, besonders in der revolutionären, eine große, sogar eine gewaltige, aber doch keine entscheidende Rolle. Viel tiefere Vorgänge, das heißt Massenprozesse, bestimmen letzten Endes das Schicksal persönlicher Autoritäten. Die Verleumdungen gegen die Führer des Bolschewismus haben beim Aufstieg der Revolution die Bolschewiki nur gestärkt. Die Verleumdung gegen dieselben Personen beim Abstieg der Revolution konnte eine siegreiche Waffe der thermidorianischen Reaktion werden.

Die objektiven Prozesse im Lande und in der Weltarena waren meinen Gegnern günstig. Und doch war ihre Aufgabe nicht leicht. Die Parteiliteratur, die Presse, die Agitatoren lebten noch vom gestrigen Tage, der im Zeichen Lenin-Trotzki stand. Man mußte eine Kurve von 180 Grad nehmen, natürlich nicht auf einmal, sondern in einigen Etappen. Um die Schärfe der Kurve darzustellen, will ich einige Proben von dem Ton anführen, der in der Parteipresse hinsichtlich der Führer der Revolution geherrscht hatte.

Am 14. Oktober 1922, als Lenin nach dem ersten Schlaganfall zur Arbeit zurückgekehrt war, schrieb Radek in der Prawda:

„Wenn man den Genossen Lenin die Vernunft der Revolution nennen kann, die durch die Transmission des Willens herrscht, so kann man den Genossen Trotzki als den stählernen Willen charakterisieren, der durch die Vernunft gezähmt wird. Wie die Stimme einer Glocke, die zur Arbeit ruft, klingt die Rede Trotzkis. Ihre ganze Bedeutung, ihr ganzer Sinn und der Sinn unserer Arbeit in den nächsten Jahren tritt klar hervor ...“ und so weiter. Allerdings ist die persönliche Expansivität Radeks sprichwörtlich: er kann so und er kann auch anders. Wichtiger ist die Tatsache, daß diese Worte im Zentralorgan der Partei zu Lebzeiten Lenins erschienen sind und daß keiner sie als Mißton empfand.

Im Jahre 1923, als die Verschwörung des Trios schon offenbar ward, begann Lunatscharski als einer der ersten die Autorität Sinowjews zu heben. Wie aber mußte er an diese Arbeit herangehen? „Gewiß“, schrieb er in seiner Charakterisierung Sinowjews, „Lenin und Trotzki sind die populärsten (geliebten oder gehaßten) Gestalten unserer Epoche geworden, vielleicht auf der ganzen Erdkugel. Sinowjew tritt hinter ihnen ein wenig zurück; aber Lenin und Trotzki galten ja in unseren Reihen schon längst als Menschen von so gewaltiger Begabung, waren so unbestrittene Führer, daß ihr ungeheures Wachstum in der Revolution bei keinem ein besonderes Erstaunen hervorrufen konnte“

Wenn ich diese hochtrabenden Panegyriken von zweifelhaftem Geschmack hier anführe, so geschieht es nur deshalb, weil ich sie als Elemente des Gesamtbildes brauche, wenn man will, als Zeugenaussagen in einem Gerichtsverfahren.

Mit direktem Ekel muß ich noch einen dritten Zeugen zitieren, Jaroslawski, dessen Lobhudeleien wohl noch unerträglicher sind als seine Schmähschriften. Dieser Mensch spielt jetzt in der Partei eine große Rolle, und an seinem winzigen geistigen Format läßt sich die Tiefe des Verfalls der Parteileitung ermessen. Zu seiner heutigen Rolle ist Jaroslawski ausschließlich über die Stufen der Verleumdungen gegen mich aufgestiegen. Als offizieller Fälscher der Parteigeschichte schildert er die Vergangenheit als einen ununterbrochenen Kampf zwischen Lenin und Trotzki. Davon ganz zu schweigen, daß Trotzki die Bauernschaft „unterschätzte“, sie „ignorierte“, sie überhaupt „nicht merkte“. Im Februar 1923 aber, also in einem Augenblick, wo Jaroslawski meine Beziehungen zu Lenin und meine Stellung zu der Bauernschaft recht gut kennen mußte, charakterisierte er in einem großen Artikel, der den ersten Schritten meiner literarischen Tätigkeit (1900-1902) gewidmet war, meine Vergangenheit in folgender Weise:

„Die glänzende literarisch-publizistische Tätigkeit des Genossen Trotzki trug ihm in der ganzen Welt den Namen „König der Polemiker“ ein: so nannte ihn der englische Schriftsteller Bernard Shaw. Wer im Laufe eines Vierteljahrhunderts seine Tätigkeit verfolgte, mußte sich davon überzeugen, daß dieses Talent sich besonders hervorragend...“ und so weiter, und so weiter.

„Es haben wohl viele das sehr verbreitete Bild des jungen Trotzki gesehen ... (und so weiter). Unter dieser hohen Stirn brodelte schon damals ein reißender Strom von Bildern, Gedanken, Stimmungen, die Trotzki manchmal vom großen historischen Weg abbrachten, die ihn zwangen, entweder einen zu großen Umweg zu wählen oder, im Gegenteil, unerschrocken dort vorzustoßen, wo man nicht hindurch konnte. Aber bei all diesem Suchen nach dem rechten Weg sehen wir vor uns einen der Revolution tief ergebenen Menschen, der für die Rolle eines Tribuns aufgewachsen ist, mit einer scharf geschliffenen und wie Stahl biegsamen Sprache, die den Gegner trifft...“ und so weiter.

„Die Sibirier lasen mit Begeisterung“, überschlägt sich Jaroslawski weiter, „diese glänzenden Artikel und warteten ungeduldig auf ihr Erscheinen. Nur wenige wußten, wer ihr Autor war, und jene, die Trotzki kannten, dachten in jener Zeit am allerwenigsten daran, daß er einer der anerkanntesten Führer der revolutionärsten Armee und der größten Revolution der Welt werden würde.“

Noch schlimmer verhält es sich bei Jaroslawski mit meinem „Ignorieren“ der Bauernschaft. Der Beginn meiner literarischen Tätigkeit war dem Dorfe gewidmet. Folgendes sagt darüber Jaroslawski:

„Trotzki konnte es im sibirischen Dorfe nicht aushalten, ohne in alle Einzelheiten des Dorflebens einzudringen. Und vor allem widmete er dem Verwaltungsapparat des sibirischen Dorfes seine Aufmerksamkeit. In einer Reihe von Korrespondenzen gibt er eine glänzende Charakteristik dieses Apparates ...“ Und weiter: „Um sich herum sah Trotzki nur das Dorf. Er litt dessen Nöte mit. Ihn bedrückten dessen Finsternis und Rechtlosigkeit.“ Jaroslawski verlangte, daß meine Artikel über das Dorf in die Lesebücher aufgenommen würden. Dies alles im Februar 1923, in dem gleichen Monat, als die Version von meiner Gleichgültigkeit gegen das Dorf geschaffen wurde. Jaroslawski aber befand sich damals in Sibirien und war deshalb noch nicht in den Kurs auf den „Leninismus“ eingeweiht.

Das letzte Beispiel, das ich anführen will, bezieht sich auf Stalin selbst. Schon zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution schrieb er einen Artikel, der verschleiert gegen mich gerichtet war. Zur Erklärung muß man daran erinnern, daß Lenin sich in der Periode der Vorbereitung der Oktoberrevolution in Finnland verborgen halten mußte, Kamenjew, Sinowjew, Rykow und Kalinin Gegner des Aufstandes waren, von Stalin aber überhaupt kein Mensch etwas wußte. Die Folge davon war, daß die Partei den Oktoberumsturz hauptsächlich mit meinem Namen verknüpfte. Am ersten Jahrestag des Oktobers versuchte Stalin, diese Vorstellung abzuschwächen, indem er die Gesamtleistung des Zentralkomitees der meinen gegenüberstellte. Um aber seine Darstellung einigermaßen annehmbar zu machen, war er doch gezwungen, folgendes zu schreiben:

„Die gesamte Arbeit der praktischen Vorbereitung des Aufstandes verlief unter der direkten Leitung des Vorsitzenden des Petrograder Sowjets, Trotzkis. Man kann mit Bestimmtheit behaupten, daß die Partei den schnellen Übergang der Garnison auf die Seite der Sowjets und die richtige Organisierung der Arbeit des Revolutionären Kriegskomitees vor allem und hauptsächlich dem Genossen Trotzki verdankte.“

Wenn Stalin dies schrieb, so tat er es nur deshalb, weil es zu jener Zeit selbst ihm nicht möglich war, anders zu schreiben. Es waren Jahre schrankenloser Hetze nötig, bevor Stalin laut erklären durfte: „Keine besondere Rolle, weder in der Partei noch in der Oktoberrevolution, hat Genosse Trotzki gespielt oder spielen können ...“ Als man ihn auf den Widerspruch aufmerksam machte, antwortete er nur mit einer plumpen Grobheit, nichts weiter.

Das Trio konnte in keinem Falle sich mir gegenüberstellen. Es konnte mir nur Lenin gegenüberstellen. Dazu war aber nötig, daß Lenin die Möglichkeit verlor, sich dem Trio gegenüberzustellen. Mit anderen Worten, für den Sieg seiner Kampagne brauchte das Trio entweder einen hoffnungslos kranken Lenin oder dessen einbalsamierten Leichnam im Mausoleum. Aber auch dies war noch zu wenig. Es war nötig, daß ich für die Zeit der Kampagne aus der Kampffront ausschied. Das geschah dann auch im Herbst 1923.

Ich treibe hier keine Geschichtsphilosophie, sondern erzähle mein Leben auf dem Hintergrund der Ereignisse, mit denen es verbunden ist. Aber es ist unmöglich, nicht nebenbei darauf hinzuweisen, wie diensteifrig das Zufällige dem Gesetzmäßigen hilft. Allgemein gesprochen, spiegelt sich das Gesetzmäßige des gesamten historischen Prozesses im Zufälligen wider. Will man die Sprache der Biologie gebrauchen, dann kann man sagen, daß sich die historische Gesetzmäßigkeit durch die natürliche Auslese der Zufälle verwirklicht. Auf dieser Grundlage entwickelt sich die bewußte menschliche Tätigkeit, die die Zufälle einer künstlichen Auslese unterwirft.

Hier aber muß ich meine Darstellung unterbrechen, um einiges über meinen Freund Iwan Wassiljewitsch Saizew aus dem Dorfe Kaloschino an dem Flusse Dubna mitzuteilen. Diese Gegend heißt Sabolotje [1] und ist, wie der Name schon andeutet, reich an Sumpfwild. Der Fluß Dubna bildet hier ein breites Seegelände. Sümpfe, Seen und durch Inseln getrennte Wasserläufe, von Schilf umrahmt, ziehen sich fast vierzig Kilometer lang hin. Im Frühling versammeln sich hier Gänse, Kraniche, Enten aller Art, Kron-, Sumpf- und Streitschnepfen, und die ganze übrige Sumpfgesellschaft. Zwei Kilometer davon entfernt, im Unterholz, zwischen Mooshügeln und Preißelbeeren, balzen Auerhähne. Mit einem kurzen Ruder treibt Iwan Wassiljewitsch in einem Wasserlauf das schmale Kanu zwischen den sumpfigen Ufern. Der Wasserlauf ist vor unbekannter Zeit, vielleicht vor 200 bis 300 Jahren, angelegt worden, und man muß ihn alljährlich reinigen, damit er nicht verschlammt. Man fährt aus Kaloschino um Mitternacht weg, um vor Sonnenaufgang die Hütte zu erreichen. Bei jedem Schritt quillt das Torfmoor hoch. Anfangs fürchtete ich mich davor. Aber Iwan Wassiljewitsch hatte mir schon bei meinem ersten Besuch gesagt: Geh nur ruhig, im See ist schon mancher ertrunken, im Sumpf aber noch niemand.

Das Kanu ist so leicht und so schlank, daß man, besonders bei Wind, am besten unbeweglich auf dem Rücken liegt. Die Bootsleute knien gewöhnlich der Sicherheit halber. Nur Iwan Wassiljewitsch steht trotz seinem hinkenden Bein in ganzer Höhe aufrecht. Iwan Wassiljewitsch ist der Entenherzog dieser Gegend. Schon sein Vater, Großvater und Urgroßvater waren Entenjäger. Es ist nicht ausgeschlossen, daß ein Urahne von ihm Enten, Gänse und Schwäne für den Tisch Iwans des Schrecklichen lieferte. Auerhähne, Birkhähne und Schnepfen interessieren Saizew nicht. „Ist nicht mein Fach“, sagt er kurz. Dafür kennt er die Ente durch und durch: ihre Federn, ihre Stimme, ihre Entenseele. Im Boot stehend, hebt er während der Fahrt eine Feder nach der anderen aus dem Wasser, betrachtet sie und erklärt: „Wir wollen nach Guschtschino fahren, am Abend hat sich dort die Ente niedergelassen ...“ „Woher weißt du es?“ „Du siehst doch, die Feder hält sich auf dem Wasser, sie ist noch nicht naß geworden, eine frisch verlorene Feder, ist erst am Abend hinuntergeflogen, und der Vogel kann nirgendwo anders hingezogen sein als nach Guschtschino.“

Und nun, während die anderen Jäger ein oder zwei Paare mitbringen, bringen wir zehn und manchmal auch fünfzehn Stück. Ihm gebührt das Verdienst, mir die Ehre. So ist es oft im Leben. In der Schilfhütte legt Iwan Wassiljewitsch die knorrige Hand an die Lippen und zwitschert wie ein Entenweibchen, so zart, daß der vorsichtigste, schon oft angeschossene Enterich diesen Lockungen nicht widerstehen kann und sicherlich um die Hütte einen Kreis macht oder in fünf Schritt Entfernung auf das Wasser niederplumpst, – man schämt sich ordentlich, zu schießen. Saizew merkt alles, weiß alles, spürt alles. „Mach dich fertig“, flüstert er mir zu, „der Enterich kommt direkt auf dich los.“ Ich sehe nur weit über dem Wald zwei Striche von Flügeln; aber erraten, daß das ein Krickenterich ist – nein, das ist nur Iwan Wassiljewitsch gegeben, dem großen Meister des Entenfaches. Aber der Enterich kommt tatsächlich auf mich zu. Fehlt man, stöhnt Iwan Wassiljewitsch nur leise, höflich. Aber es ist besser, nicht geboren zu sein, als hinter dem Rücken dies Stöhnen zu hören.

Bis zum Kriege hatte Saizew in einer Textilfabrik gearbeitet. Und auch jetzt geht er über Winter nach Moskau, als Heizer oder in das Elektrizitätswerk. In den ersten Jahren nach dem Umsturz waren im Lande Kämpfe, es brannten Wälder und Moore, die Felder standen kahl – die Ente flog nicht. Saizew verzweifelte am neuen Regime. Aber seit 1920 kommt die Ente wieder, haufenweis, und Iwan Wassiljewitsch anerkennt voll und ganz die Sowjetherrschaft. Ein ganzes Jahr lang arbeitete zwei Kilometer von hier eine kleine staatliche Dochtfabrik. Ihr Direktor war der ehemalige Chauffeur aus meinem Militärzuge. Die Frau und die Tochter Saizews brachten monatlich je dreißig Rubel aus der Fabrik heim. Das war ein unerhörter Reichtum. Die Fabrik aber hatte bald die ganze Gegend mit Dochten beliefert und wurde geschlossen. Wieder war die Ente die Basis des Familienwohlstandes.

Am 1. Mai geriet Iwan Wassiljewitsch in ein großes Moskauer Theater auf die Bühne, wo die Ehrengäste untergebracht waren. Iwan Wassiljewitsch saß in der ersten Reihe, den hinkenden Fuß eingezogen, etwas verlegen, aber wie immer würdevoll, und lauschte meinem Vortrag. Muralow, mit dem wir die Jägerfreuden und –leiden zu teilen pflegten, hatte ihn mitgebracht. Mit dem Referat war Iwan Wassiljewitsch zufrieden, er hatte alles verstanden und in Kaloschino wiedererzählt. Das hatte unsere Freundschaft zu dritt noch mehr befestigt. Man muß sagen, daß die alten Jäger, besonders in der Nähe von Moskau, ein verdorbenes Volk sind, sie haben sich zu nah mit den großen Herren berührt; Schmeicheln, Lügen und Prahlen – darin sind sie Meister. Aber Iwan Wassiljewitsch ist nicht so. In ihm ist viel Einfachheit, Beobachtungsgabe und persönliche Würde. Und dies darum, weil er in der Tiefe seiner Seele nicht Händler, sondern Künstler in seinem Fache ist.

Zu Saizew auf die Jagd fuhr auch Lenin, und Iwan Wassiljewitsch zeigte stets den Platz im Holzspeicher, wo Lenin im Stroh zu liegen pflegte. Lenin war ein leidenschaftlicher Jäger, aber er jagte selten. Bei der Jagd war er sehr hitzig, trotz seiner enormen Ausdauer in großen Dingen. Ebenso wie geniale Strategen gewöhnlich schlechte Schauspieler sind, so können auch Menschen mit genialer politischer Zielsicherheit mittelmäßige Jäger sein. Ich erinnere mich, wie Lenin mir geradezu verzweifelt, im Bewußtsein von etwas nie mehr Gutzumachendem, klagte, daß er bei einer Treibjagd den Fuchs aus 25 Schritt Entfernung verfehlt hatte. Ich verstand ihn, und mein Herz floß von Mitgefühl über.

Es ist mir kein einziges Mal gelungen, mit Lenin gemeinsam zu jagen, obwohl wir uns viele Male verabredet und die Zeit fest ausgemacht hatten. In den ersten Jahren nach der Umwälzung war an so etwas überhaupt nicht zu denken. Lenin fuhr zwar manchmal aus Moskau ins Freie, ich aber kam fast nicht aus dem Zuge, aus dem Stab oder aus dem Automobil heraus und nahm kein einziges Mal die Schrotflinte in die Hand. Und in den letzten Jahren nach dem Bürgerkriege verhinderte stets etwas Unvorhergesehenes ihn oder mich. Dann wurde Lenin krank. Kurz bevor er sich hinlegen mußte, hatten wir verabredet, uns auf dem Flusse Schoscha im Gouvernement Twer zu treffen. Aber Lenins Auto blieb auf dem Feldwege stecken, und ich konnte ihn nicht abwarten. Als Lenin sich nach dem ersten Schlaganfall erholt hatte, kämpfte er um das Recht, jagen zu dürfen. Endlich gaben die Ärzte unter der Bedingung nach, daß er sich nicht übermüden dürfe. Bei irgendeiner Beratung, ich glaube, einer agronomischen, setzte sich Lenin zu Muralow. „Sie jagen häufig mit Trotzki?“ „Manchmal.“ „Nun, und wie? Erfolgreich?“ „Manchmal auch das.“ „Nehmen Sie mich mit, ja?“ „Dürfen Sie?“ fragte vorsichtig Muralow. „Ich darf, ich darf, man hat es mir erlaubt... also Sie nehmen mich mit?“ „Gewiß, Wiadimir Iljitsch, wie könnten wir Sie nicht mitnehmen wollen?“ „Dann werde ich anläuten, was?“ „Wir werden warten.“ Aber Iljitsch hat nicht angeläutet. Die Krankheit läutete an. Und dann der Tod.

Ich habe diese ganze Abschweifung benötigt, um zu erklären, wie und weshalb ich an einem Oktobersonntag 1923 in Sabolotje im Sumpf, zwischen Schilf weilte. Die Nacht war frostig gewesen, und ich saß in Filzstiefeln im Zelt. Aber am Morgen wärrnte die Sonne tüchtig, und der Sumpf war bald aufgetaut. Auf der Anhöhe am Ufer erwartete mich das Automobil. Der Chauffeur Dawidow, mit dem ich Schulter an Schulter durch den Bürgerkrieg gegangen war, brannte wie immer vor Ungeduld, zu erfahren, wie die Beute sei. Vom Boot bis zum Wagen waren es etwa hundert Schritt, nicht mehr. Aber kaum trat ich mit den Filzschuhen in den Sumpf, da sanken meine Füße ins kalte Wasser ein. Bis ich springend das Automobil erreichte, waren die Füße ganz durchgefroren. Ich setzte mich neben Dawidow, zog die Schuhe aus und wärmte mir die Beine am heißen Motor. Aber die Erkältung überwältigte mich. Ich mußte mich hinlegen. Nach einer Influenza stellte sich ein kryptogenes Fieber ein. Die Ärzte verboten mir, das Bett zu verlassen. So lag ich den Rest des Herbstes und den Winter. Das heißt, daß ich während der ganzen Diskussion 1923 gegen den „Trotzkismus“ krank lag. Man kann Revolution und Krieg voraussehen. Man kann aber die Folgen einer herbstlichen Jagd auf Enten nicht voraussehen.

Lenin lag in Gorki, ich im Kreml. Die Epigonen erweiterten die Kreise der Verschwörung. Sie traten in der ersten Zeit vorsichtig auf, schmeichlerisch, aber dem Lobe immer größere Portionen Gift beimischend. Sogar der Ungeduldigste von ihnen, Sinowjew, umhüllte die Verleumdung mit Dutzenden von Redensarten. „Die Autorität des Genossen Trotzki ist allen bekannt“, sagte Sinowjew am 15. Dezember (1923) in einer Parteiversammlung in Petrograd, „wie auch seine Verdienste. In unserem Kreise braucht man sich darüber nicht erst noch zu verbreiten. Aber Fehler hören nicht auf, Fehler zu sein. Als ich Fehler beging, wurde ich von der Partei ernstlich zurechtgewiesen.“, Und so weiter in dem gleichen feig angreifenden Ton, der einige Zeit der Grundton der Verschwörer blieb. Erst nachdem sie sich durchgetastet und die Positionen in ihre Hände gebracht hatten, wurde ihr Ton kühner.

Es entstand eine ganze Industrie: die Fabrikation von künstlich aufgemachtem Ansehen, die Erfindung phantastischer Biographien, Führerreklame auf Bestellung. Ein besonderer Zweig dieser Industrie war der Frage des Ehrenpräsidiums gewidmet. Seit dem Oktober war es üblich geworden, in den zahllosen Versammlungen Lenin und Trotzki in das Ehrenpräsidium zu wählen. Die Verbindung dieser zwei Namen ging in die Gebrauchssprache, in die Zeitungsartikel, in Gedichte, in die Volkslieder ein. Man mußte die zwei Namen trennen, wenn auch gewaltsam, um sie politisch gegeneinander stellen zu können. Erst begann man, alle Mitglieder des politischen Büros ins Präsidium aufzunehmen. Dann brachte man sie alphabetisch unter. Dann wurde die alphabetische Ordnung zugunsten einer neuen Hierarchie der Führer umgestoßen. An die erste Stelle wurde Sinowjew gerückt. Das Beispiel gab Petrograd. Nach einiger Zeit kamen Ehrenpräsidien ohne Trotzki auf. Aus der Mitte der Versammlung ertönten laute Proteste. Nicht selten war der Vorsitzende gezwungen, das Weglassen meines Namens mit einem Versehen zu erklären. Der Zeitungsbericht verschwieg es selbstverständlich. Dann begann man, Stalin den ersten Platz einzuräumen. Wenn der Vorsitzende es nicht vermocht hatte, das, was nötig war, durchzusetzen, korrigierte ihn der Zeitungsbericht. Karrieren entstanden und wurden vernichtet, je nachdem ob die Namen im Ehrenpräsidium genannt wurden oder nicht. Diese beharrlichste und planmäßigste von allen Arbeiten wurde mit der Notwendigkeit begründet, gegen den „Führerkultus“ anzukämpfen. In der Moskauer Konferenz vom Jahre 1924 rief Preobraschenski den Epigonen zu: „Ja, wir sind gegen „Führerkultus“, wir sind aber auch dagegen, daß man anstatt des Kultus des einen Führers den Kultus anderer Führer, nur von kleinerem Maßstabe, treibt“

„Das waren schwere Tage“, erzählt in ihren Aufzeichnungen meine Frau, „Tage angespannten Kampfes L.D.s gegen die Mitglieder des politischen Büros. Er war allein, krank und kämpfte gegen alle. Wegen der Krankheit L.D.s fanden die Sitzungen in unserer Wohnung statt. Ich saß im Schlafzimmer nebenan und hörte ihn reden. Er sprach mit seinem ganzen Wesen: es schien, als ob er mit jeder solchen Rede einen Teil seiner Kräfte hingäbe, mit soviel ‚Blut‘ sprach er. Und ich hörte dann kalte, seelenlose Antworten. War doch alles im voraus abgemacht. Wozu hatten sie nötig, sich noch aufzuregen? Jedesmal nach einer solchen Sitzung sprang bei L.D. die Temperatur hoch, er kam naß bis auf die Knochen aus dem Arbeitszimmer, zog sich aus und legte sich zu Bett. Wäsche und Kleider mußte man trocknen, als wäre er im Regen gewesen. Sitzungen fanden in jener Zeit häufig statt, im Zimmer L.D.s mit dem verblichenen alten Teppich, vom dem ich jede Nacht als von einem lebendigen Panther träumte: die Sitzungen vom Tage verwandelten sich nachts in Alpdrücken. So war die erste Etappe des Kampfes, ehe er nach außen drang ...“

Im späteren Kampfe Sinowjews und Kamenjews gegen Stalin wurden die Geheimnisse dieser Periode von den Teilnehmern an der Verschwörung selbst aufgedeckt. Es war wirklich eine regelrechte Verschwörung. Man gründete ein geheimes politisches Büro (einen Siebenerkopf), das aus allen Mitgliedern des offiziellen politischen Büros bestand außer mir; statt meiner hatte man Kujbischew, den jetzigen Vorsitzenden des Obersten Volkswirtschaftsrates, hinzugenommen. Alte Fragen wurden von dieser geheimen Zentrale, deren Mitglieder eine Versicherung auf Gegenseitigkeit eingegangen waren, im voraus beschlossen. Sie waren verpflichtet, gegeneinander nicht zu polemisieren, gleichzeitig aber Anlässe zu suchen, gegen mich aufzutreten. In den lokalen Organisationen bestanden ebensolche geheime Zentren, die mit dem Moskauer „Siebenerkopf“ durch strengste Disziplin verbunden waren. Man verkehrte mittels besonderer Geheimschrift. Es war eine festgefügte illegale Organisation innerhalb der Partei, die anfangs nur gegen einen einzelnen Menschen gerichtet war. Die verantwortlichen Partei- und Staatsarbeiter wurden sorgfältigst unter dem einen Gesichtspunkt ausgesiebt: gegen Trotzki. Während des anhaltenden „Interregnums“, das durch die Krankheit Lenins entstanden war, wurde diese Arbeit unermüdlich, aber behutsam und verschleiert geführt, um im Falle von Lenins Genesung die unterminierten Brücken unangetastet zu lassen. Die Verschwörer verständigten sich durch Anspielungen. Von dem Kandidaten für den einen oder den anderen Posten verlangte man, daß er errate, was man von ihm wünschte. Wer es „erriet“ kam hoch. So entstand eine besondere Abart des Karrierismus, die später offen den Namen erhielt: „Antitrotzkismus“. Erst der Tod Lenins hat diesem Geheimbund völlig die Hände freigemacht, indem er ihm erlaubte, an die Oberfläche zu kommen. Der Prozeß der Personalauslese setzte sich nun eine Stufe tiefer fort. Man konnte schon den Posten eines Fabrikdirektors, des Sekretärs einer Gewerkschaftszelle, des Vorsitzenden eines Dorf-Exekutivkomitees, eines Buchhalters, einer Schreibmaschinistin nicht mehr einnehmen, wenn man sich nicht als Antitrotzkist auswies.

Parteimitglieder, die gegen diese Verschwörung die Stimme erhoben, wurden Opfer heimtückischer Attacken, natürlich unter ganz anderen, nicht selten erfundenen Vorwänden. Moralisch schwankende Elemente dagegen, die im ersten Jahrfünft der Sowjetmacht schonungslos aus der Partei vertrieben worden wären, sicherten sich jetzt Positionen lediglich durch eine feindselige Bemerkung gegen Trotzki. Die gleiche Arbeit wurde seit Ende 1923 in allen anderen Parteien der Kommunistischen Internationale geleistet: die einen Führer wurden abgesetzt, die anderen rückten auf ihren Posten, je nachdem, ob sie für oder gegen Trotzki waren. Es vollzog sich eine künstliche Auslese nicht der Besten, sondern der Anpassungsfähigsten. Der allgemeine Kurs führte zum Ersatz selbständiger und begabter Menschen durch Mittelmäßigkeiten, die ihre Stellungen nur dem Apparat zu verdanken hatten. Als vollkommenster Ausdruck einer Apparatmittelmäßigkeit erhob sich Stalin.


Anmerkung

1. Der Name Sabolotje ist von „Boloto“ (Sumpf) abgeleitet.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008