Leo Trotzki

 

Mein Leben


Vom Juli zum Oktober

Am 4. Juni verlas die bolschewistische Fraktion auf dem Sowjetkongreß anläßlich des von Kerenski vorbereiteten Angriffs an der Front die von mir eingebrachte Deklaration. Wir verwiesen darauf, daß der Angriff ein Abenteuer darstelle, welches die Existenz der Armee bedrohe. Die Provisorische Regierung jedoch berauschte sich an müßigen Reden. Die durch die Revolution bis auf den Grund erschütterte Soldatenmasse wurde von dem Minister als Lehm betrachtet, mit dem man alles, was man wolle, machen könne. Kerenski bereiste die Front, beschwor, drohte, kniete, küßte die Erde, kurz: spielte auf alle Arten den Narren, ohne den Soldaten auch nur auf eine der sie quälenden Fragen Antwort zu geben. Sich an billigen Effekten berauschend, gestützt auf die Zustimmung des Sowjetkongresses, befahl er den Angriff. Als das Unglück, das die Bolschewiki vorausgesagt hatten, hereinbrach, klagte man die Bolschewiki an. Die Hetze nahm wild zu. Die von der Partei der Kadetten gedeckte Reaktion bedrängte uns von allen Seiten und forderte unsere Köpfe.

Das Vertrauen zu der Provisorischen Regierung war in den Massen restlos untergraben. Petrograd erwies sich auch in der zweiten Periode der Revolution als die weitest vorgerückte Avantgarde. In den Julitagen stieß diese Avantgarde offen mit der Regierung Kerenski zusammen. Das war noch kein Aufstand, das war erst ein tief vorfühlendes Patrouillengefecht. Aber schon bei dem Julizusammenstoß hatte es sich gezeigt, daß hinter Kerenski keine „demokratische“ Armee stand; daß die Kräfte, die ihn gegen uns unterstützten, nur Kräfte der Konterrevolution waren.

Von dem Hervortreten des Maschinengewehrregiments und von dessen Aufruf an die anderen Truppenteile und an die Fabriken erfuhr ich am 3. Juli im Gebäude des Taurischen Palais, während der Sitzung. Die Kunde kam mir überraschend. Die Demonstration war aus eigener Machtvollkommenheit, auf anonyme Initiative von unten her, entstanden. Am nächsten Tag entfaltete sie sich noch breiter, jetzt bereits unter Beteiligung unserer Partei. Das Taurische Palais war von Menschenmassen überfüllt. Es gab nur die eine Parole: „Alle Macht den Sowjets!“ Vor dem Palais nahm ein verdächtiger, sich abseits haltender Haufe den Ackerbauminister Tschernow fest und setzte ihn in ein Automobil. Die Menge verhielt sich dem Schicksal des Ministers gegenüber teilnahmslos, ihre Sympathie war jedenfalls nicht auf seiner Seite. Die Kunde von der Verhaftung Tschernows und seiner bedrohten Lage drang in das Palais. Die Sozialrevolutionäre beschlossen, zur Rettung ihres Führers Panzerwagen anzuwenden; das Sinken ihrer Popularität hatte sie nervös gemacht; sie wollten den starken Arm zeigen. Ich entschloß mich, zu versuchen, zusammen mit Tschernow im Automobil aus der Menge herauszufahren, um ihn dann zu befreien. Aber der Bolschewik Raskolnikow, Leutnant der Baltischen Flotte, der die Kronstädter Matrosen zu der Demonstration geführt hatte, bestand äußerst erregt darauf, Tschernow sofort zu befreien, da man sonst behaupten würde, die Kronstädter Matrosen hätten ihn verhaftet. Ich entschloß mich, zu versuchen, Raskolnikow entgegenzukommen. Hier gebe ich ihm selbst das Wort: „Es ist schwer zu sagen, wie lange die stürmische Erregung der Masse noch angedauert hätte“, schreibt der expansive Leutnant in seinen Erinnerungen, „wenn nicht der Genosse Trotzlti zu Hilfe gekommen wäre. Er machte einen scharfen Sprung auf das Vorderteil des Automobils, und mit der weitausholenden, energischen Handbewegung eines Menschen, der nun des Wartens überdrüssig ist, gab er ein Signal zum Schweigen. Im Augenblick verstummte alles, es trat Todesstille ein. Mit lauter, klarer, metallischer Stimme ... hielt Lew Dawidowitsch eine kurze Ansprache, die er mit dem Satz beendete: ‚Wer für eine Gewaltanwendung gegen Tschernow ist, erhebe die Hand‘ ... Niemand tat den Mund auf“, fährt Raskolnikow fort, „niemand brachte ein Wort der Erwiderung hervor. ‚Bürger Tschernow, Sie sind frei‘, brachte Trotzki feierlich heraus, und sich mit dem ganzen Körper nach dem Ackerbauminister umwendend, lud er ihn mit einer Geste ein, aus dem Wagen zu steigen. Tschernow war mehr tot als lebendig. Ich half ihm beim Aussteigen, und mit schlaffem, gequältem Ausdruck und unsicherem, schwankendem Gang schritt er die Stufen hinauf und verschwand im Vestibül des Palais. Befriedigt über seinen Sieg, entfernte sich Lew Dawidowitsch gleichzeitig mit ihm.“

Streicht man die überflüssige pathetische Färbung ab, so ist die Szene richtig wiedergegeben. Aber die feindliche Presse hat sich dennoch nicht gescheut zu behaupten, ich hätte Tschernow verhaftet, um gegen ihn Selbstjustiz zu üben. Tschernow selbst schwieg verschämt: es schickte sich doch nicht für einen „Volks“minister, einzugestehen, er verdanke die Erhaltung seines Kopfes nicht seiner eigenen Popularität, sondern der Fürsprache eines Bolschewiks.

Eine Deputation nach der anderen forderte im Namen der Demonstranten, das Exekutivkomitee solle die Macht übernehmen. Tschcheidse, Zeretelli, Dan, Goz thronten im Präsidium wie Götzen. Sie gaben den Deputationen keine Antwort, blickten ins Leere oder sahen beunruhigt und geheimnisvoll einander an. Die Bolschewiki nahmen das Wort, um die Arbeiter- und Soldatendelegationen zu unterstützen. Die Mitglieder des Präsidiums schwiegen. Sie warteten. Worauf? ... So vergingen Stunden. Tief in der Nacht füllten sich die Bogen des Palais mit Siegeslauten aus Messingtrompeten. Das Präsidium war auferstanden wie unter der Wirkung eines elektrischen Stromes. Jemand teilte feierlich mit, das Wotyner Regiment sei von der Front gekommen und habe sich dem Zentralexekutivkomitee zur Verfügung gestellt. Es zeigte sich, daß die „Demokratie“ in der gesamten riesigen Petrograder Garnison keinen einzigen zuverlässigen Truppenteil besaß. Man hatte warten müssen, bis eine bewaffnete Macht von der Front kam. Jetzt änderte sich plötzlich die ganze Situation. Die Delegationen wurden verjagt, den Bolschewiki wurde das Wort nicht mehr gegeben. Die Führer der Demokratie beschlossen, an uns Rache zu nehmen für die Angst, die ihnen die Masse eingejagt hatte.

Von der Tribüne des Exekutivkomitee ertönten Reden über eine bewaffnete Rebellion, die nun von den der Revolution treuen Truppen unterdrückt worden sei. Die Bolschewiki wurden als eine konterrevolutionäre Partei erklärt. Und all dies infolge des Eintreffens des einen Wolyner Regiments. Nach dreieinhalb Monaten hat sich dieses Regiment einmütig an der Niederwerfung der Kerenski-Regierung beteiligt.

Am Morgen des 5. kam ich mit Lenin zusammen. Der Angriff der Massen war bereits zurückgeschlagen. „Jetzt werden sie uns einen nach dem andern abschießen“, sagte Lenin; „der passendste Augenblick für sie.“ Aber Lenin überschätzte den Gegner – nicht dessen Wut, aber dessen Entschlossenheit und Fähigkeit zum Handeln. Sie haben uns nicht abgeschossen, wenn sie auch nicht weit davon waren. In den Straßen schlug und erschlug man Bolschewiki, die Junker plünderten das Palais Kschessinskaja und die Druckerei der Prawda. Die ganze Straße vor der Druckerei war mit Manuskripten besät. Unter anderem ist dabei auch meine polemische Schrift An die Verleumder umgekommen. Das tiefvorfühlende Patrouillengeplänkel verwandelte sich in eine einseitige Schlacht. Der Gegner blieb Sieger, mühelos, denn wir traten in den Kampf nicht ein. Die Partei aber mußte bitter büßen. Lenin und Sinowjew verbargen sich. Es wurden zahlreiche Verhaftungen vorgenommen, die von Prügeln begleitet waren. Kosaken und Junker nahmen den Verhafteten das Geld ab mit der Begründung, es sei „deutsches“ Geld. Viele Mitläufer und Halbfreunde kehrten uns den Rücken. Im Taurischen Palais wurden wir als Konterrevolutionäre proklamiert und eigentlich für vogelfrei erklärt.

An der Spitze der Partei war nicht alles wohlbestellt. Lenin war nicht da. Der Flügel Kamenjews erhob den Kopf. Viele, darunter auch Stalin, saßen mit gefalteten Händen still und warteten die Ereignisse ab, um am nächsten Tag mit ihrer Weisheit hervorzutreten. Die bolschewistische Fraktion des Zentralexekutivkomitees fühlte sich im Gebäude des Taurischen Palais verwaist. Sie schickte eine Abordnung zu mir mit der Bitter ich möge über die entstandene Lage ein Referat halten, – ich war zu der Zeit noch immer nicht Mitglied der Partei: der formelle Akt war bis zu dem damals bevorstehenden Parteitag vertagt worden. Ich willigte selbstverständlich gern ein. Aus meiner Besprechung mit der bolschewistischen Fraktion entstanden moralische Bindungen, wie sie nur unter den schweren Schlägen des Feindes entstehen. Ich sagte, daß uns nach dieser Krise ein schneller Aufstieg erwarte, daß die Masse, nachdem sie unsere Treue durch die Tat erprobt sah, um so fester sich uns anschließen werde: daß man in diesen Tagen scharf jeden Revolutionär prüfen müsse; denn in solchen Augenblicken würden die Menschen auf untrügbarer Waage gewogen. Auch jetzt noch erinnere ich mich mit Freude, wie warm und dankbar mich die Fraktion begleitete. „Lenin ist nicht da“, sagte Muralow, „von den übrigen hat allein Trotzki den Kopf nicht verloren.“ Würde ich diese Memoiren unter anderen Bedingungen schreiben – ich würde sie allerdings unter anderen Bedingungen wohl kaum schreiben –, vieles von dem, was ich auf diesen Seiten wiedergebe, würde ich dann wohl kaum wiedergeben. Ich kann mich aber jetzt von jener breitorganisierten Fälschung der Vergangenheit nicht abwenden, die die Hauptsorge der Epigonen bildet. Meine Freunde sind in Gefängnissen oder in Verbannung. Ich bin gezwungen, das über mich auszusprechen, was ich unter anderen Bedingungen nicht aussprechen würde. Es handelt sich für mich nicht nur um die historische Wahrheit, sondern auch um den politischen Kampf, der weitergeht ...

Seit jener Zeit datiert meine im Krieg wie in der Politik unzertrennliche Freundschaft mit Muralow. Über diesen Menschen muß ich hier mindestens einige Worte sagen. Muralow ist ein alter Bolschewik, der in der Revolution von 1905 in Moskau gekämpft hat. In Serpuchowo bei Moskau geriet Muralow 1906 in einen Pogrom der Schwarzen Hundert, der sich, wie üblich, unter dem Schutz der Polizei vollzog. Muralow ist ein herrlicher Riese, dessen Furchtlosigkeit durch eine großmütige Güte ausgeglichen wird. Zusammen mit einigen anderen Linken geriet er in einen Ring von Feinden, der das Gebäude der Semstwoverwaltung umschloß. Muralow trat mit einem Revolver in der Hand aus dem Gebäude und ging mit gleichmäßigen Schritten auf die Menge zu. Sie wich aus. Aber eine angriffslustige Gruppe der Schwarzen Hundert schnitt ihm den Weg ab. Die Droschkenkutscher begannen zu johlen. „Auseinandergehen!“ befahl mit erhobenem Revolver der Riese, ohne stehenzubleiben. Man sprang auf ihn zu. Er tötete einen auf der Stelle und verwundete einen zweiten. Die Menge prallte zurück. Ohne die Schritte zu beschleunigen, teilte Muralaw wie ein Eisbrecher die Menge und ging in die Richtung auf Moskau zu Fuß weiter.

Sein Prozeß dauerte über zwei Jahre und endete trotz der wütenden Reaktion mit einem Freispruch. Ein Agronom seiner Bildung nach, Soldat einer Automobilkompanie im imperialistischen Kriege, Leiter der Oktoberkämpfe in Moskau, wurde Muralow erster Befehlshaber des Moskauer Militärbezirks nach dem Siege. Er war der furchtlose Marschall des revolutionären Krieges, immer beständig, schlicht, ohne Pose. Während der Feldzüge trieb er unermüdlich Propaganda der Tat: er erteilte landwirtschaftliche Ratschläge, mähte das Getreide, heilte zwischen der Arbeit Menschen und Kühe. In den schwierigsten Situationen strahlte er Ruhe, Sachlichkeit und Wärme aus. Nach Beendigung des Krieges waren wir beide bestrebt, die freien Stunden gemeinsam zu verbringen.

Uns verband auch die Leidenschaft zur Jagd. Wir haben zusammen den Norden und den Süden durchquert, bald auf Bären und Wölfe, bald auf Fasanen und Trappen jagend. Jetzt jagt Muralow in Sibirien als verbannter Oppositioneller ...

Auch in den Julitagen des Jahres 1917 verlor er die Ruhe nicht und war vielen ein Halt. Und damals brauchte jeder von uns viel Selbst-beherrschung, um in den Korridoren und Sälen des Taurischen Palais nicht mit eingezogenen Schultern und gesenktem Kopf Spießruten zu laufen durch die haßerfüllten Blicke, das wütende Geflüster das demonstrative Einanderanstoßen („Schau, schau!“) und das offene Zähneknirschen. Es gibt nichts Rasenderes als einen großsprecherischen, aufgeblasenen, „revolutionären“ Philister, wenn er merkt daß die Revolution, die ihn plötzlich hochgehoben hat, seine kurze Herrlichkeit zu bedrohen beginnt Der Weg zur Kantine des Exekutivkomitees war ein kleines Golgatha.

In der Kantine verteilte man Tee und schwarze Butterbrote mit Käse oder grobkörnigem roten Kaviar: davon gab es viel im Smolny und später auch im Kreml. Zu Mittag gab man Kohlsuppe und ein Stückchen Fleisch. Büfettier war der Soldat Grafow. Als die Hetze gegen uns am stärksten war und Lenin, den man als deutschen Spion erklärt hatte, sich in einem Zelt verborgen hielt, entdeckte ich, daß Grafow ein möglichst heißes Glas Tee und ein besser belegtes Brot für mich auswählte; es mir hinhaltend, schaute er an mir vorbei. Es war klar: Grafow sympathisierte mit den Bolschewiki und verbarg es vor den Vorgesetzten. Ich beobachtete nun weiter. Grafow war nicht allein. Das gesamte untere Personal des Smolny, die Wächter, Kuriere, die Posten, neigten sichtlich zu den Bolschewiki. Da sagte ich mir, unsere Sache ist zur Hälfte gewonnen. Aber vorläufig nur zur Hälfte.

Die Presse führte gegen die Bolschewiki eine an Bösartigkeit und Ehrlosigkeit einzig dastehende Kampagne, die einige Jahre später nur von der Kampagne Stalins gegen die Opposition übertroffen wurde. Lunatscharski gab im Juli einige zweideutige Erklärungen ab, die die Presse nicht ohne Grund als eine Lossagung von den Bolschewiki auslegte. Einige Zeitungen schrieben auch mir solche Erklärungen zu. Am 10. Juli wandte ich mich an die Provisorische Regierung mit einem Brief, der meine völlige Solidarität mit Lenin kundtat und mit den Worten schloß: „Sie können keinen Grund haben, mich von der Wirkung des Dekretes auszunehmen, kraft dessen Lenin, Sinowjew und Kamenjew der Verhaftung unterliegen ... Sie können keinen Grund haben, daran zu zweifeln, daß ich ein ebenso unversöhnlicher Gegner der gesamten Politik der Provisorischen Regierung bin wie die genannten Genossen.“ Die Herren Minister zogen aus diesem Brief die nötige Schlußfolgerung: sie verhafteten mich als einen deutschen Agenten.

Im Mai, als Zeretelli gegen die Matrosen hetzte und die Maschinengewehrschützen entwaffnete, sagte ich ihm voraus, daß der Tag vielleicht nicht mehr fern sei, an dem er bei den Matrosen Hilfe suchen werde gegen den General, der den Strick für die Revolution einseifen wird. Im August fand sich ein solcher General in der Person des Kornilow. Zeretelli wandte sich Hilfe suchend an die Kronstädter Matrosen. Sie lehnten sie nicht ab. In die Wasser der Newa fuhr der Kreuzer Aurora. Die so schnelle Verwirklichung meiner Prophezeiung mußte ich schon vom „Kresty“ aus beobachten. Die Matrosen der Aurora schickten eine Delegation zu mir ins Gefängnis während der Besuchsstunde, um Rat zu holen: soll das Winterpalais geschützt oder durch Angriff genommen werden? Ich gab ihnen den Rat, die Abrechnung mit Kerenski zu vertagen, bis sie mit Kornilow fertig geworden sein würden. „Das Unsrige wird uns nicht entgehen.“ „Wird es nicht...?“ „Es wird nicht!“

Im Gefängnis besuchte mich meine Frau mit den Knaben. Sie besaßen zu dieser Zeit bereits eine eigene politische Erfahrung. Die Jungens verbrachten den Sommer auf dem Lande, in der Familie eines bekannten Obersten a.D., W. Dort versammelten sich Gäste, meistens Offiziere, die beim Schnaps auf die Bolschewiki schimpften. In den Julitagen erreichte das Geschimpfe den Höhepunkt. Einige dieser Offiziere reisten bald nach dem Süden ab, wo sich die späteren weißen Kader versammelten. Irgendein junger Patriot nannte bei Tisch Lenin und Trotzki deutsche Spione. Mein älterer Junge stürzte sich auf ihn mit einem Stuhl, der jüngere eilte ihm mit einem Tischmesser zu Hilfe. Die Erwachsenen trennten die Kämpfer. Die Jungens schlossen sich in ihrem Zimmer ein und weinten bitterlich. Sie wollten zu Fuß nach Petrograd davonlaufen, um zu erfahren, was man dort mit den Bolschewiki machte. Zum Glück kam die Mutter an, beruhigte sie und nahm sie mit. Aber auch in der Stadt war es jetzt nicht sehr schön. Die Zeitungen tobten gegen die Bolschewiki. Vater saß im Gefängnis. Die Revolution hatte ihre Hoffnungen entschieden betrogen. Das hinderte die Jungens nicht, begeistert zuzusehen, wie die Mutter mir im Besuchszimmer durch das Gitter ein Taschenmesser zusteckte. Ich tröstete sie in alter Weise, daß die echte Revolution noch bevorstände.

Meine Töchter kamen bereits ernster in das politische Leben hinein. Sie besuchten die Meetings im Zirkus Modern, beteiligten sich an Demonstrationen. In den Julitagen gerieten sie in einen Tumult, wurden von der Menge umgerissen, die eine verlor die Brille, beide die Hüte, beide fürchteten, den Vater zu verlieren, der kaum an ihrem Horizont erschienen war. In den Tagen des Kornilow-Angriffs auf die Hauptstadt hing das Gefängnisregime an einem dünnen Faden. Es war für alle klar, daß Kornilow, wenn er in die Stadt eindringen sollte, zu allererst die von Kerenski verhafteten Bolschewisten abschlachten würde. Das Zentralexekutivkomitee befürchtete außerdem einen Überfall auf das Gefängnis von seiten der weißgardistischen Elemente der Hauptstadt. Zum Schutze des „Kresty“ war ein größeres Militärkommando kommandiert worden. Es erwies sich, selbstverständlich, nicht als „demokratisch“, sondern als bolschewistisch und war jeden Moment bereit, uns zu befreien. Aber ein solcher Akt wäre ein Signal zum sofortigen Aufstand gewesen, dafür war jedoch die Stunde noch nicht gekommen. Inzwischen begann die Regierung selbst, uns zu befreien –. und zwar aus demselben Grunde, aus dem sie die bolschewistischen Matrosen zum Schutze des Winterpalais gerufen hatte. Direkt aus dem „Kresty“ begab ich mich in das vor kurzem entstandene Komitee zur Verteidigung der Revolution, wo ich an einem Tisch saß mit denselben Herren, die mich als einen Hohenzollernagenten ins Gefängnis gesteckt hatten und noch nicht Zeit gefunden hatten, ihre Beschuldigungen zurückzunehmen. Die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki erweckten, ich gestehe es offenherzig, allein schon durch ihr Aussehen den Wunsch, Kornilow möge sie am Kragen nehmen und mit ihnen in der Luft herumfuchteln. Aber dieser Wunsch war nicht nur unfromm, sondern auch unpolitisch. Die Bolschewiki spannten sich in die Verteidigung ein und waren überall an erster Stelle. Die Erfahrung des Kornilowschen Aufstandes ergänzte die Erfahrung der Julitage. Es zeigte sich wieder, daß die Kerenski & Co. keine eigenen, selbständigen Kräfte hinter sich hatten. Jene Armee, die sich gegen Kornilow erhob, war die zukünftige Armee des Oktoberumsturzes. Wir benutzten die Gefahr, um jetzt die Arbeiter zu bewaffnen, die Zeretelli die ganze Zeit vorher eifrig entwaffnet hatte.

Die Stadt verstummte in diesen Tagen. Man erwartete Kornilow, die einen mit Hoffnung, die anderen mit Schrecken. Die Jungens hörten: „Er kann morgen kommen.“ In der Frühe, noch unangezogen, schauten sie mit weitaufgerissenen Augen aus den Fenstern: ist er gekommen, oder ist er nicht gekommen? Aber Kornilow ist nicht gekommen. Die revolutionäre Erhebung der Massen war so mächtig, daß die Kornilowsche Rebellion einfach zerschmolz, sich verflüchtigte. Aber nicht spurlos: sie war ganz und gar den Bolschewiki von Nutzen.

„Die Rache läßt nicht auf sich warten“, schrieb ich in den Kornilow-Tagen. „Gehetzt, verfolgt, verleumdet, ist unsere Partei noch nie so schnell gewachsen wie in der letzten Zeit. Und dieser Prozeß wird sich bald von der Hauptstadt auf die Provinz, von den Städten auf die Dörfer und die Armee ausbreiten... Ohne einen Augenblick aufzuhören, eine Klassenorganisation des Proletariats zu sein, hat sich unsere Partei im Feuer der Repressalien in die wahre Führerin aller unterdrückten, unterjochten, betrogenen und gehetzten Massen verwandelt... „

Wir konnten dem Zustrom kaum Rechnung tragen. Die Zahl der Bolschewiki im Petrograder Sowjet stieg von Tag zu Tag. Wir erreichten schon die Hälfte. Im Präsidium saß aber noch immer kein einziger Bolschewik. Es entstand die Frage nach einer Neuwahl des Präsidiums. Wir schlugen den Menschewiki und den Sozialrevolutionären ein Koalitionspräsidium vor. Wie wir später erfuhren, war Lenin damit unzufrieden, da er befürchtete, es stecke dahinter eine versöhnlerische Tendenz. Doch es kam zu keinem Kompromiß. Trotz dem soeben noch geführten gemeinsamen Kampfe gegen Kornilow lehnte Zeretelli ein Koalitionspräsidium ab. Das gerade brauchten wir. Es blieb also übrig, nach Listen abzustimmen. Ich stellte die Frage: Kommt Kerenski auf die Liste unserer Gegner oder nicht? Formell zählte er zwar zum Präsidium, doch er kam nie in den Sowjet und demonstrierte auf jede Weise Verachtung für ihn. Die Frage überraschte das Präsidium. Kerenski war weder beliebt noch geachtet. Doch ging es nicht an, daß man seinen Ministerpräsidenten desavouierte, Die Mitglieder des Präsidiums tuschelten eine Weile miteinander und gaben dann die Antwort: „Natürlich kommt er auf die Liste.“ Das gerade brauchten wir. Hier ein Auszug aus dem Protokoll: „Wir waren überzeugt, Kerenski gehöre nicht mehr zum Sowjet [stürmischer Applaus]. Aber es zeigt sich, daß wir uns geirrt haben. Zwischen Tschcheidse und Sawadje schwebt der Schatten Kerenskis. Wenn man euch vorschlägt; die politische Linie des Präsidiums gutzuheißen, so denkt daran – vergeßt es nicht – daß man euch damit vorschlägt die Politik Kerenskis gutzuheißen. (Stürmischer Applaus.)“ Das hat ein- bis zweihundert schwankende Delegierte zu uns herübergeworfen. Der Sowjet zählte weit über tausend Mitglieder. Die Abstimmung vollzog sich durch Hinausgehen aus den Türen. Im Saal herrschte äußerste Erregung. Es ging nicht um das Präsidium. Es ging um die Revolution. Ich spazierte in den Couloirs mit einigen Freunden auf und ab. Wir nahmen an, es würden uns an die hundert Stimmen für die Hälfte fehlen, und waren geneigt, darin einen Erfolg zu erblicken. Das Ergebnis war, daß wir über hundert Stimmen mehr erhalten hatten als die Koalition aus Sozialrevolutionären und Menschewiki. Wir waren die Sieger. Ich nahm den Platz des Vorsitzenden ein. Zeretelli wünschte uns zum Abschied, wir möchten uns wenigstens die Hälfte der Zeit im Sowjet halten können, während der sie die Revolution geführt hatten. Mit anderen Worten, die Gegner eröffneten uns einen Kredit auf nicht mehr als drei Monate. Sie haben sich bitter geirrt. Wir gingen sicher zur Macht.


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003