Leo Trotzki

 

Mein Leben


Prozeß, Verbannung, Flucht

Es begann der zweite Gefängniszyklus. Ich ertrug ihn leichter als den ersten, die Haftbedingungen waren auch unvergleichlich günstiger als vor acht Jahren. Ich saß einige Zeit im „Kresty“, dann in der Peterpaulfestung und zum Schluß im Untersuchungsgefängnis. Vor dem Abtransport nach Sibirien wurden wir noch in das Etappengefängnis überführt. Alles zusammen dauerte fünfzehn Monate. Jedes dieser Gefängnisse hatte seine besonderen Eigenarten, denen man sich anpassen mußte. Darüber zu berichten wäre jedoch zu umständlich, denn trotz ihrer Verschiedenheiten ähnelte jedes Gefängnis dem anderen. Wieder kam eine Zeit systematischer wissenschaftlicher und literarischer Arbeit. Ich studierte die Theorie der Bodenrente und die Geschichte der sozialen Verhältnisse Rußlands. Eine große, aber unvollendete Arbeit über Bodenrente ging in den ersten Jahren nach dem Oktoberumsturz verloren. Das bedeutete für mich den schwersten Verlust nach dem Verschwinden meiner Arbeit über die Freimaurerei. Das Studium der sozialen Geschichte Rußlands fand seinen Ausdruck in dem Aufsatz Ergebnisse und Perspektiven, der eine für jene Periode mehr oder weniger vollendete Begründung der Theorie der permanenten Revolution darstellt.

Nach der Überführung in das Untersuchungsgefängnis erhielten die Anwälte Zutritt zu uns. Die erste Duma brachte eine Belebung des politischen Daseins. Die Zeitungen begannen wieder eine mutigere Sprache zu führen. Marxistische Verlage lebten auf. Man konnte zu der Kampfpublizistik zurückkehren. Ich schrieb im Gefängnis viel, die Rechtsanwälte trugen meine Manuskripte in ihren Aktenmappen hinaus. Aus jener Zeit stammt meine Broschüre Peter Struve in der Politik. Ich arbeitete an ihr mit solchem Eifer, daß mir die Gefängnisspaziergänge als eine lästige Pflicht erschienen. Gegen den Liberalismus gerichtet, war diese Arbeit im wesentlichen eine Verteidigung des Petersburger Sowjets, des bewaffneten Dezember-Aufstandes in Moskau und der revolutionären Politik überhaupt gegen die Kritik des Opportunismus. Die bolschewistische Presse brachte meiner Streitschrift Sympathie entgegen. Die menschewistischen Blätter reagierten nicht. Die Schrift fand in wenigen Wochen einen Absatz in vielen Zehntausenden von Exemplaren.

D. Swertschkow, der mit mir die Haft teilte, beschrieb später die Gefängnisperiode in seinem Buch In der Morgenröte der Revolution folgendermaßen: „L.D. Trotzki schrieb in einem Zuge sein Buch Rußland und die Revolution und übergab es stückweise zum Druck, wo er zum ersten Mal [stimmt nicht! L.T.] den Gedanken klar aussprach, daß die in Rußland begonnene Revolution so lange nicht abgeschlossen werden könne, bis die sozialistische Ordnung erkämpft sein würde. Seine Theorie von der ‚permanenten Revolution‘ – wie man diesen Gedanken nannte – wurde damals fast von keinem geteilt. Trotzki verharrte jedoch fest auf seinem Standpunkt und erblickte schon damals in der ökonomischen Lage aller Staaten der Welt die Merkmale der Zersetzungderbürgerlichen kapitalistischen Wirtschaft und die relativeNähedersozialen Revolution ...

„Die Gefängniszelle Trotzkis“, fährt Swertschkow fort, „verwandelte sich bald in eine Art Bibliothek. Man brachte ihm buchstäblich alle einigermaßen beachtenswerten neuen Bücher; er las sie und war den ganzen Tag, vom Morgen bis zum Abend, mit literarischen Arbeiten beschäftigt – Ich fühle mich glänzend – pflegte er uns zu sagen –, ich sitze, arbeite und bin unter allen Umständen vor einer Verhaftung sicher ... Ihr müßt doch zugeben, daß dies innerhalb des zaristischen Rußlands ein ganz ungewöhnliches Gefühl ist ...“

Zur Erholung las ich die Klassiker der europäischen Literatur. Ich lag auf der Pritsche und verschlang die Werke mit einem solchen physischen Lustgefühl, wie Gourmets einen feinen Wein schlürfen oder an einer duftenden Zigarre ziehen. Das waren die schönsten Stunden. Spuren meiner Beschäftigung mit den Klassikern sind als Zitate und Epigramme in allen meinen literarischen Arbei ten aus jener Zeit zu finden. Damals lernte ich zum erstenmal die Grandseigneure der französischen Literatur im Urtext kennen. Die Kunst der Erzählung ist vor allem eine französische Kunst. Obwohl ich die deutsche Sprache gut, sicher besser als die französische, beherrsche, besonders auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Terminologie, lese ich französische Belletristik doch leichter als deutsche. Die Liebe zum französischen Roman habe ich bis auf den heutigen Tag mir bewahrt. Selbst im Wagen während des Bürgerkrieges fand ich eine freie Stunde für die Neuerscheinungen der französischen Literatur.

Eigentlich kann ich mich über meine Gefängnisse nicht beklagen. Sie waren für mich eine gute Schule. Die fest zugekorkte Einzelzelle der Peterpaulfestung verließ ich mit einem Gefühl des leichten Bedauerns; es war dort so still, so gleichförmig, so lautlos, so ideal für geistige Arbeit. Das Untersuchungsgefängnis dagegen war von Menschen und Lärm erfüllt. Es gab da nicht wenig Todeskandidaten: terroristische Akte und bewaffnete Expropriationen ergossen sich im breiten Strom über das ganze Land. Das Gefängnisregime war in Anbetracht der ersten Duma liberal, die Zellen wurden am Tage nicht geschlossen, die Spaziergänge waren gemeinsam. Stundenlang spielten wir begeistert Bockspringen. Auch die zum Tode Verurteilten sprangen und beugten ihre Rücken wie alle anderen. Meine Frau besuchte mich zweimal die Woche. Die wachhabenden Gefängnisaufseher sahen durch die Finger, wenn wir Briefe und Manuskripte austauschten. Einer von ihnen, schon ein älterer Mensch, zeigte uns sein besonderes Wohlwollen. Ich schenkte ihm auf seine Bitte hin mein Buch und meine Photographie mit einer Widmung. „Meine Töchter sind Studentinnen“, flüsterte er mir verzückt zu und blinzelte geheimnisvoll mit dem Auge. Ich traf ihn nach der Oktoberrevolution wieder und tat für ihn, was ich in jenen hungrigen Jahren tun konnte.

Parvus pflegte im Hof mit dem alten Deutsch spazierenzugehen. Nicht selten schloß ich mich ihnen an. Es gibt eine Photographie, die uns drei in der Gefängnisküche zeigt. Der unermüdliche Deutsch plante eine Gruppenflucht, er gewann Parvus leicht dafür und redete auch mir dringend zu ... Ich weigerte mich, weil mich die politische Bedeutung des bevorstehenden Prozesses lockte. In den Fluchtplan wurden übrigens zu viel Menschen eingeweiht. In der Gefängnisbibliothek, die die Rolle des Operationszentrums spielte, fand der Aufseher eine Kollektion Schlosserinstrumente. Zwar unterdrückte die Verwaltung die Angelegenheit, in der Annahme, die Instrumente seien von den Gendarmen untergeschoben worden, um eine Änderung des Gefängnisregimes zu erzwingen. Deutsch aber mußte seine vierte Flucht nicht vom Gefängnis, sondern von Sibirien aus durchführen.

Fraktionelle Differenzierungen in der Partei nahmen nach der Dezemberniederlage in verschärftem Maße zu. Das Auseinandertreiben der Duma machte alle Probleme der Revolution wieder akut. Ich widmete ihnen eine Broschüre über Taktik, die Lenin in einem bolschewistischen Verlag erscheinen ließ. Die Menschewiki bliesen bereits auf der ganzen Linie zum Rückzug. Fraktionelle Absonderungen erreichten jedoch im Gefängnis nicht die Schärfe wie in der Freiheit. Das gab uns die Möglichkeit, eine Kollektivarbeit über den Petersburger Sowjet herauszugeben, an der noch die Menschewiki mitarbeiteten.

Die Gerichtsverhandlung gegen die Sowjetdeputierten begann am 19. September, in den Flitterwochen der Stolypinschen Feldgerichte. Der Hof des Gerichtsgebäudes und die anliegenden Straßen waren in ein Militärlager verwandelt. Alle Polizeikräfte Petersburgs waren auf die Beine gebracht worden. Den Prozeß selbst aber führte man ziemlich frei: die Reaktion beabsichtigte, Witte endgültig zu kompromittieren, indem sie seinen „Liberalismus“, seine Schwäche der Revolution gegenüber, aufdeckte. Etwa vierhundert Zeugen waren geladen, von denen mehr als zweihundert erschienen und Aussagen machten. Arbeiter, Fabrikanten, Gendarme, Ingenieure, Dienstboten, Bürger, Journalisten, Post- und Telegraphenbeamte, Polizeimeister, Gymnasiasten, Abgeordnete der Stadtduma, Portiers, Senatoren, Hooligans, Arbeiterdeputierte, Professoren und Soldaten defilierten während eines Monats an dem Gerichtshof vorbei und stellten unter dem Kreuzfeuer des Richterkollegiums, der Staatsanwaltschaft, der Verteidigung und der Angeklagten – der Angeklagten vor allem – die Epoche des Arbeitersowjets Strich für Strich wieder her. Die Angeklagten gaben Erklärungen ab. Ich sprach über den bewaffneten Aufstand in der Revolution. Das Wichtigste war somit erreicht worden. Als das Gericht die Ladung des Senators Lopuchin, der im Herbst 1905 im Polizeidepartement eine Pogromdruckerei entdeckt hatte, als Zeugen ablehnte, ließen wir die Verhandlung auffliegen, indem wir erzwangen, daß man uns ins Gefängnis zurückführte. Nach uns verließen die Verteidiger, die Zeugen und die Zuhörer den Raum. Die Richter blieben Aug’ in Auge mit dem Staatsanwalt. In unserer Abwesenheit verlasen sie das Urteil. Der stenographische Bericht über diesen außerordentlichen Prozeß, der einen ganzen Monat gedauert hat, ist bis jetzt nicht veröffentlicht und, wie es scheint, nicht einmal aufgefunden worden. Das Wesentlichste über diesen Prozeß habe ich in meinem Buche 1905 dargestellt.

Sowohl mein Vater wie meine Mutter waren bei der Verhandlung anwesend. Ihre Gedanken und ihre Gefühle waren gespalten. Man konnte nun nicht mehr mein Benehmen als knabenhafte Torheit erklären, wie in den Tagen meines Lebens in Nikolajew im Garten Schwigowskis. Ich war Zeitungsredakteur, Sowjetvorsitzender gewesen, hatte einen Namen als Schriftsteller Den Alten mußte das imponieren. Die Mutter sprach mit den Verteidigern und war bemüht, von ihnen wieder und wieder etwas Angenehmes über mich zu hören. Während meiner Rede, deren Sinn ihr nicht ganz klar gewesen sein konnte, weinte sie leise. Sie fing lauter zu weinen an, als etwa zwanzig Verteidiger, einer nach dem anderen, an mich herantraten, um mir die Hand zu drücken. Einer der Anwälte beantragte unter Berufung auf die allgemeine Erregung eine Unterbrechung der Verhandlung. Das war A.S. Sarudnyj. In der Regierung Kerenski war er Justizminister und hielt mich im Gefängnis unter der Anklage des Landesverrats ... Aber das war zehn Jahre später. In den Pausen betrachteten mich die Alten mit glücklichen Augen. Meine Mutter war überzeugt, daß man mich nicht nur freisprechen, sondern auch noch auszeichnen würde. Ich sagte ihr, daß man sich auf Katorga gefaßt machen müsse. Erschrocken und verständnislos blickte sie von mir auf die Verteidiger, vergebens bemüht, zu begreifen, wie denn das möglich sein könnte. Der Vater war blaß, schweigsam, glücklich und niedergeschlagen zugleich.

Man verurteilte uns alle zum Verlust der bürgerlichen Rechte und zur Verbannung nach Sibirien. Das war ein verhältnismäßig mildes Urteil. Wir hatten Katorga erwartet. Aber die Verbannung nach Sibirien war nicht jene administrative Verbannung, zu der man mich das erste Mal verurteilt hatte. Die Verbannung war jetzt unbefristet, und jeder Fluchtversuch wurde mit drei Jahren Katorga bestraft. Die fünfundvierzig Peitschenhiebe, die früher die Katorga ergänzten, waren zwei bis drei Jahre vorher abgeschafft worden.

„Nun sind es zwei – drei Stunden, daß wir in das Etappengefängnis gebracht wurden“, schrieb ich den 3. Januar 1907 meiner Frau. „Ich gestehe, daß ich mit nervöser Unruhe von ineiner Zelle im Untersuchungsgefängnis Abschied nahm. Ich hatte mich an diese kleine Kajüte, wo sich bequem arbeiten ließ, so sehr gewöhnt Im Etappengefängnis – wie wir im voraus gewußt haben – wird man uns wieder in einer Gemeinschaftszelle unterbringen – und was kann es Ermüdenderes geben? Und dann – der mir so wohlbekannte Schmutz, Lärm und das Durcheinander des Etappenweges. Wer weiß, wieviel Zeit vergehen wird, bis wir den Bestimmungsort erreichen? Und wer kann voraussagen, wann wir zurückkehren werden? Wäre es da nicht besser, in alter Weise in der Zelle Nr.462 zu sitzen, zu lesen, zu schreiben und – zu warten? ... Wir wurden heute hierher überführt, ganz plötzlich, ohne daß man uns darauf vorbereitet hatte. In dem Aufnahmeraum zwang man uns, die Sträfiingskleidung anzuziehen. Wir unterzogen uns dieser Prozedur mit der Neugierde von Schuljungen. Es war amusant, einander in grauen Hosen, grauem Kittel und grauer Mütze zu betrachten. Das klassische Karo-As auf dem Rücken fehlt jedoch. Man erlaubte uns, die eigene Wäsche und das eigene Schuhzeug zu behalten. Eine große lebhafte Gesellschaft, stürzten wir in unserer neuen Ausstattung in die Zelle hinein.“

Das Anbehalten des eigenen Schuhzeugs war für mich von nicht geringer Bedeutung: in der einen Sohle hatte ich einen vorzüglichen Paß und in den hohen Absätzen goldene Tscherwonzen. Wir wurden alle in das Dorf Obdorsk verschickt, weit hinter den Polarkreis. Von Obdorsk bis zur nächsten Eisenbahn sind es fünfzehnhundert, bis zur nächsten Telegraphenstation achthundert Werst. Die Post kommt einmal in zwei Wochen an. Während des Hochwassers im Frühling und im Herbst bleibt sie anderthalb bis zwei Monate aus. Unterwegs waren ganz besondere Schutzmaßnahmen vorgesehen. Die Petersburger Begleitwache galt als nicht genugend zuverlässig. Und in der Tat, der Unteroffizier, der in unserem Gefangenenwagen mit entblößtem Säbel Wache stand, deklamierte uns die neuesten revolutionären Gedichte vor. In dem benachbarten Wagen war ein Trupp Gendarmen untergebracht, der auf jeder Station unseren Wagen umstellte. Die Gefängnisbehörden dagegen benahmen sich gegen uns mit größter Zuvorkommenheit. Die Waage der Revolution und der Konterrevolution war noch im Schwanken, man wußte nicht, auf welcher Seite das Übergewicht bleiben würde. Der Begleitoffizier begann damit, daß er uns eine Verfügung seiner vorgesetzten Behörde zeigte, die ihn ermächtigte, uns keine Handfesseln anzulegen, obwohl das Gesetz sie vorschrieb. Am 11. Januar schrieb ich meiner Frau: „Ist schon der Offizier zuvorkommend und höflich, so braucht man über die Mannschaften nichts zu sagen; fast alle haben den Bericht über unseren Prozeß gelesen und stehen uns mit höchster Sympathie gegenüber ... Bis zum letzten Augenblick haben die Soldaten nicht erfahren, wen sie begleiten sollten, noch wohin. Nach den Vorsichtsmaßnahmen, mit denen man sie plötzlich aus Moskau nach Petersburg gebracht hatte, glaubten sie, sie hätten zum Tode Verurteilte nach Schlüsselburg zu schaffen. Im Aufnahmeraum des Etappengefängnisses fiel mir auf, daß die Wache sehr erregt, seit-am diensteifrig mit einem Schatten von Schuldbewußtsein war. Erst im Wagen erfuhr ich den Grund. Wie waren sie erfreut, als sie hörten, daß sie es mit „Arbeiterdeputierten“ zu tun hatten, die nur ur Verbannung verurteilt waren. Die Gendarmen, die eine Ober-wache bilden, zeigen sich in unserem Wagen überhaupt nicht. Sie besorgen die Außenbewachung: umstellen auf den Stationen den Wagen, stehen an der Außenseite der Tür Wache, hauptsächlich aber scheint ihre Aufgabe in der Überwachung der Begleitmannchaft zu bestehen.“ Unsere Briefe wurden von den Wachsoldaten unterwegs heimlich in den Briefkasten gesteckt.

Bis Tjumen fuhren wir mit der Eisenbahn. Von Tjumen ab mit Pferden. Auf vierzehn Verbannte kamen zweiundfünfzig Wachsoldaten, den Kapitän, den Polizeioffizier und den Wachtmeister nicht einberechnet. Wir fuhren auf ungefähr vierzig Schlitten. Von Tjumen über Tobolsk ging der Weg den Ob entlang. „Jeden Tag“, schrieb ich meiner Frau, „rücken wir in der letzten Zeit 70 bis 100 Werst weiter gegen Norden, das heißt fast um einen Grad. Dank dieser ununterbrochenen Vorwärtsbewegung tritt das Abnehmen der Kultur – wenn man hier überhaupt von Kultur sprechen darf – uns schroff vor Augen. Jeden Tag steigen wir eine Stufe tiefer in das Reich der Kälte und der Wildnis.“

Nachdem wir die durch Typhus verseuchten Gebiete durchquert hatten, kamen wir den 12. Februar, am dreiunddreißigsten Tag unserer Reise, in Beresow an, wohin einstmals der Mitarbeiter Peters des Großen, Fürst Menschikow, verbannt war. In Beresow gab man uns zwei Tage Rast. Es standen uns bis Obdorsk noch 500 Werst bevor. Wir gingen im Freien spazieren. Eine Flucht befürchteten die Behörden hier nicht Zurück gab es nur einen einzigen Weg – auf dem Ob, an der Telegraphenlinie entlang; jeder Flüchtling wäre da leicht zu ergreifen gewesen. In Beresow lebte in Verbannung der Feldmesser Roschkowski. Mit ihm beriet ich die Frage der Flucht. Er sagte mir, man könnte versuchen, den Weg direkt nach dem Westen zu nehmen, auf dem Fluß Sooswa, in der Richtung zum Ural, dann mit Rentieren bis zu den bergwerken; vom Bogslowski-Werk aus könne man mit der Schmalspurbahn bis Kuschwa kommen, wo diese sich mit der Linie Perm trifft. Und dann – Perm, Wjatka, Wologda, Petersburg, Helsingfors ...! Wege gibt es auf der Sossjwa allerdings nicht. Hinter Beresow beginnt gleich die Einöde, die Wildnis. Keine Polizei auf einer Strecke von tausend Werst, keine russische Siedlung, nur zerstreute Jurten der Ostjaken, vom Telegraph keine Rede, nicht einmal Pferde gibt es unterwegs, nur Renntiere. Die Polizei kann einen da nicht einholen. Dafür aber kann man sich in der Wüste verirren, im Schnee umkommen. Jetzt ist Februar, der Monat der Schneegestöber ...

Doktor Veit, ein alter Revolutionär aus unserer Verbanntengruppe, lehrte mich Ischias simulieren, damit ich einige Tage in Beresow bleiben könnte. Ich erfüllte erfolgreich diesen bescheidenen Teil des gefaßten Planes. Bekanntlich läßt sich Ischias nicht kontrollieren. Man brachte mich ins Krankenhaus. Das Regime dort war ganz frei. Ich entfernte mich oft für viele Stunden, sobald es mir „besser“ ging. Der Arzt begünstigte meine Spaziergänge. Niemand, wie gesagt, befürchtete in dieser Jahreszeit eine Flucht. Man mußte sich entschließen. Ich entschied mich für die westliche Richtung, direkt zum Ural.

Roschkowski zog einen einheimischen Bauern mit dem Spitznamen Ziegenfuß zu Rate. Dieses kleine, dürre, besonnene Männlein wurde der Organisator der Flucht, Er handelte völlig uneigennützig. Als seine Rolle bekannt wurde, mußte er es schwer büßen. Nach der Oktoberrevolution hatte der Ziegenfuß es nicht sehr bald erfahren, daß ich es war, dem er vor zehn Jahren zur Flucht verholfen hatte. Erst im Jahre 1923 kam er zu mir nach Moskau; unsere Begegnung war sehr herzlich. Man steckte ihn in die Paradeuniform eines Rotarmisten, führte ihn in die Theater, schenkte ihm ein Grammophon und anderes mehr. Bald danach starb der Alte in seinem fernen Norden.

Man mußte von Beresow aus mit Renntieren fahren. Die Hauptsache war, einen Führer zu finden, der es wagte, in dieser Jahreszeit sich auf den unsicheren Weg zu begeben. Ziegenfuß fand einen Zyrier, der, wie so viele seines Stamm es, geschickt und erfahren war. „Ist er aber auch kein Säufer?“ „Was heißt, kein Säufer? Ein furchtbarer Säufer. Dafür aber spricht er Russisch, Zyrianisch und zwei ostjakische Mundarten; die man oben und die man in der Ebene spricht und die sich gar nicht ähneln. Einen besseren Fuhrmann gibt es nicht; ein Schelm.“ Gerade dieser Schelm hat später den Ziegenfuß verraten. Mich aber hat er glücklich hinausgebracht. [1]

Die Abfahrt war auf Sonntagmitternacht festgesetzt. An diesem Tage wurde von den Ortsbehörden eine Liebhaberaufführung veranstaltet. Ich zeigte mich in der Kaserne, die als Theater diente, und als ich dem Kreischef begegnete, sagte ich ihm, ich fühlte mich bedeutend besser und würde bald nach Obdorsk fahren können. Das war recht hinterlistig, aber unbedingt zweckmäßig gehandelt.

Als die Uhr vom Turm zwölf schlug, stahl ich mich in den Hof des Ziegenfuß. Der Bauernschlitten stand bereit Ich legte mich auf den Boden, auf einen ausgebreiteten zweiten Pelz. Ziegenfuß bedeckte mich mit kaltem, gefrorenem Stroh, band es kreuzweise fest, und wir fuhren ab. Das Stroh taute, und das Wasser rann mir in kleinen kalten Strahlen übers Gesicht. Nachdem wir einige Werst gefahren waren, hielten wir. Ziegenfuß band den Wagen auf. Ich kroch aus dem Stroh heraus. Mein Fuhrmann pfiff. Als Antwort ertönten Stimmen, aber ach, keine nüchternen. Der Zyrier war betrunken und kam außerdem noch mit einem Freund. Das war ein schlechter Anfang. Aber es gab keine Wahl. Ich stieg mit meinem kleinen Gepäck in einen Renntierschlitten um. Ich hatte zwei Pelze an, einen mit dem Fell nach außen und einen mit dem Fell nach innen, Pelzstrümpfe, Pelzstiefel, aus doppeltem Pelz eine Mütze und Fausthandschuhe, kurz die winterliche Ausrüstung eines Ostjaken. Im Gepäck hatte ich einige Flaschen Alkohol, das heißt das zuverlässigste Zahlungsmittel in der Schneewüste.

„Vom Feuerwehrturm in Beresow“, erzählt Swertschkow in seinen Erinnerungen, „konnte man mindestens auf eine Werst im Umkreise alles, was sich auf der weißen Schneedecke in die Stadt oder aus der Stadt bewegte, übersehen. Roschkowski, der mit Recht vermutete, daß die Polizei den Turmwächter befragen würde, ob nicht jemand in dieser Nacht aus der Stadt weggefahren sei, richtete es so ein, daß ein Einwohner aus Beresow zu dieser Zeit auf dem Tobolsker Weg ein geschlachtetes Kalb davonfuhr. Dieser Transport wurde, wie Roschkowski vorausgesehen hatte, bemerkt, und die Polizet die nach zwei Tagen die Flucht Trotzkis entdeckte, stürzte sich hinter dem geschlachteten Kalb her, wodurch sie weitere zwei Tage verlor ...“ Das aber erfuhr ich erst lange Zeit später.

Wir nahmen den Weg über die Sossjwa. Es waren herrliche Renntiere, die mein Führer aus einer Herde von einigen hundert Stück ausgewählt hatte. Der betrunkene Kutscher schlief anfangs häufig ein, und die Renntiere blieben dann stehen. Uns beiden drohte Gefahr. Allmählich hörte er überhaupt auf, meine Puffe zu beachten. Da nahm ich ihm die Mütze vom Kopfe, sein Haar wurde schnell von Reif durchzogen, und sein Rausch begann zu weichen. Wir fuhren weiter. Es war eine wirklich zauberhafte Reise über die jungfräuliche Schneewüste, zwischen Tannen und Tierfährten. Die Renntiere liefen munter, die Zungen hingen ihnen seitwärts zum Munde heraus, und sie atmeten oft: tschu-tschu-tschutschu ... Der Weg war schmal, die Tiere drängten sich auf einen Haufen zusammen, und man mußte sich nur wundern, daß sie einander beim Laufen nicht behinderten. Seltsame Geschöpfe, – ohne Hunger und Müdigkeit. Sie hatten vierundzwanzig Stunden vor unserer Abfahrt nichts mehr gefressen, und nun waren es bald vierundzwanzig Stunden, daß wir ohne Fütterungspause fuhren. Nach der Erklärung meines Führers waren sie erst jetzt „in Zug“ gekommen. Sie liefen gleichmäßig, unermüdlich, 8 bis 10 Werst dieStunde. Futter suchten sich die Renntiere selbst Man band ihnen ein Scheit Holz um den Hals und ließ sie frei. Sie fanden dann einen Platz, wo sie unter dem Schnee Moos witterten, gruben mit den Hufen ein tiefes Loch, versanken darin fast über den Kopf und fraßen. Ich hatte für diese Tiere ungefähr ein ähnliches Gefühl wie ein Flieger für seinen Motor einige hundert Meter über dem Ozean. Das Haupt der drei Renntiere, das Leittier, begann zu hinken. Welche Sorge! Man mußte es auswechseln. Wir schauten nach einem Ostjakenlager aus. Sie waren auf einer Strecke von vielen Dutzend Werst voneinander zerstreut. Mein Führer fand die Lager nach ganz unmerklichen Anzeichen. Er roch den Rauch auf viele WerstEntfernung. Mit dem Auswechseln der Renntiere verloren wir über vierundzwanzig Stunden. Dafür war ich im Morgengrauen Zeuge eines herrlichen Bildes: im vollen Lauf fingen drei Ostjaken mit Hilfe des Lassos drei vorgemerkte Renntiere aus einer Herde von mehreren hundert Stück heraus, die die Hunde den Jägern zutrieben. Wieder fuhren wir bald durch Wald, bald über schneebedeckte Sümpfe, bald an riesigen Waldbrandstätten vorbei. Im Schnee kochten wir Wasser aus dem Schnee und machten uns Tee. Mein Führer zog allerdings Alkohol vor, ich überwachte aber sorgfältigst, daß er die Norm nicht überschreite.

Der Weg, der sich stets gleichzubleiben scheint, ist doch immer verschieden. Das entdeckt man an den Renntieren. Jetzt fahren wir durch eine offene Stelle, zwischen einem Birkenhain und einem Flußbett. D er Weg ist mörderisch. Der Wind verschüttet vor unseren Augen die schmale Spur, die unser Schlitten hinterläßt. Das dritte Renntier kommt fortwährend aus der Bahn. Es versinkt im Schnee bis zum Bauch und noch tiefer, macht einige verzweifelte Sprünge, kommt wieder auf den Weg, bedrängt das mittlere Tier und stößt das Leittier zur Seite. In einem späteren Revier wird der von der Sonne erwärmte Weg so beschwerlich, daß an dem vorderen Schlitten zweimal die Strangriemen reißen: bei jedem Halten frieren die Kufen auf dem Wege fest, und es kostet Mühe, die Schlitten vom Fleck zu bringen. Nach den zwei ersten Läufen ermüden die Renntiere sichtbar ... Aber die Sonne geht unter, der Weg gefriert, und alles wird wieder besser. Ein weicher, aber nicht ein sinkender Weg – ein sachlicher Weg –, sagt der Fahrer. Die Renntiere laufen kaum hörbar und ziehen spielend die Schlitten. Schließlich muß man das dritte Tier ausspannen und hinten anbinden, weil die Renntiere vor Übermut Reißaus zu nehmen versuchen und dabei leicht das Gefährt zertrümmern können. Die Schlitten gleiten ruhig, lautlos, wie ein Boot über einen spiegelglatten Teich. In der dichten Dämmerung wirkt der Wald noch gigantischer. Ich sehe den Weg nicht, ich verspüre die Bewegung des Schlittens kaum. Die verzauberten Bäume eilen uns hastig entgegen, die Sträucher stürzen flüchtend zur Seite, alte, schneebedeckte Baumstümpfe laufen neben den schlanken Birken an unsvorbei. Alles scheint voller Geheimnisse. Tschu-tschu-tschu ... hört man das schnelle und gleichmäßige Schnaufen der Renntiere in der lautlosen Stille des Waldesnacht.

Die Reise dauerte acht Tage. Wir hatten siebenhundert Kilometer zurückgelegt und näherten uns dem Ural. Immer häufiger kamen uns Gefährte entgegen. lch gab mich für einen Ingenieur der Polarexpedition des Barons Toll aus. Nicht weit vom Ural begegneten wir einem Kaufmannsangestellten, der früher bei dieser Expedition tätig gewesen war und ihre Teilnehmer kannte. Er überschüttete mich mit Fragen. Zum Glück war er nicht ganz nüchtern. Ich beeilte mich, mit Hilfe einer Flasche Rum, die ich für alle Fälle mitgenommen hatte, der schwierigen Situation zu entkommen. Alles verlief glimpflich. Den Ural entlang konnte man schon mit Pferden fahren. Jetzt war ich bereits Beamter und fuhr zusammen mit einem Steuereinnehmen der sein Revier bereiste, bis zur Schmalspurbahn. Der Stationsgendarm sah teilnahmslos zu, wie ich mich aus meinen Ostjakenpelzen befreite.

Auf der Uraler Zweigbahn war meine Lage noch längst nicht sicher: hier, wo alle „fremden“ Menschen auffielen, konnte man mich jeden Augenblick auf eine telegraphische Meldung aus Tobolsk hin verhaften. Ich war in Unruhe. Als ich aber nach vierundzwanzig Stunden im bequemen Wagen der Permer Bahn saß, fühlte ich plötzlich, daß meine Sache gewonnen war. Der Zug passierte die gleichen Stationen, auf denen uns noch vor kurzem Gendarmen, Wachen und Polizei mit so viel Feierlichkeit empfangen hatten. Jetzt aber lag mein Ziel in einer anderen Richtung, und ich reiste mit anderen Gefühlen. In den ersten Minuten schien es mir eng und schwül zu sein in dem geräumigen fast leeren Wagen. Ich ging auf die Plattform hinaus, wo der Wind wehte und wo es dunkel war, und meiner Brust entrang sich unwillkürlich ein lauter Schrei – der Freude und der Freiheit!

Bei dem nächsten Halten des Zuges bestellte ich meine Frau telegraphisch zu einer Station, wo die Züge aus beiden Richtungen sich trafen. Sie hatte dieses Telegramm nicht erwartet, jedenfalls nicht so schnell. Das war auch nicht verwunderlich. Unser Weg bis Beresow hatte über einen Monat gedauert. Die Petersburger Zeitungen waren voll von Schilderungen über unsere Fahrt nach dem Norden. Die Korrespondenz begann erst anzukommen. Alle glaubten mich unterwegs nach Obdorsk. Währenddessen hatte ich den ganzen Rückweg in elf Tagen gemacht. Es war klar, daß meiner Frau eine Begegnung mit mir in der Nähe von Petersburg ganz unwahrscheinlich vorkommen mußte. Um so besser: die Begegnung fand doch statt.

Folgendes ist darüber in den Erinnerungen von N.I. Sedowa enthalten: „Als ich in Terioki, einem finnländischen Dorf bei Petersburg, wo ich ganz allein mit meinem kleinen Sohn war, das Telegramm bekam, war ich außer mir vor Freude und Aufregung. Amselben Tage hatte ich von L.D. einen langen Brief von unterwegs erhalten, in dem außer einer Beschreibung der Reise die Bitte enthalten war ihm, wenn ich nach Obdorsk reisen würde, bestimmte Bücher und verschiedene im Norden nötige Gegenstände mitzubringen. Es sah so aus, als habe er sich die Sache plötzlich überlegt, rase auf einem phantastischen Wege zurück und bestelle mich sogar zu einem Rendesvous auf eine Station, wo die Züge sich treffen. Seltsamerweise fehlte in dem Telegramm der Name der Station. Am nächsten Morgen fuhr ich nach Petersburg ab und versuchte nach dem Fahrplan festzustellen, bis zu welcher Station ich eine Fahrkarte nehmen müßte. Ich wagte es nicht, eine Auskunft einzuholen, und begab mich auf den Weg, ohne den Namen der Station festgestellt zu haben. Ich nahm ein Billett bis Wjatka und fuhr abends ab. Der Wagen war voll von Gutsbesitzern, die aus Petersburg mit Paketen aus Delikatessengeschäften auf ihre Güter zurücktuhren, die Butterwoche zu feiern; die Gespräche drehten sich um Blini, [2] Kaviar, Stör, Weine und so weiter. Ich konnte diese Gespräche kaum ertragen, durch das bevorstehende Zusammentreffen aufgeregt, von den Gedanken an die möglichen Zwischenfälle gepeinigt ... und doch lebte in meiner Seele die Gewißheit: das Zusammentreffen wird statfinden. Mit Mühe wartete ich den Morgen ab, da dann der Gegenzug die Station Samino erreichen sollte: erst unterwegs hatte ich ihren Namen erfahren und habe ihn für mein ganzes Leben behalten. Die Züge hielten, sowohl unser, wie der entgegenkommende. Ich lief auf den Bahnsteig hinaus – niemand. Ich sprang in den anderen Zug hinein, lief in schrecklicher Unruhe durch die Waggons; nein, niemand. Plötzlich erblickte ich in einem Abteil L.D.’s Pelz – also ist er hier, aber wo, wo? Ich sprang aus dem Zug und stieß mit L.D. zusammen, der aus dem Wartesaal kam, wo er mich gesucht hatte. Er war empört über die Verstümmelung des Telegramms und wollte hier gleich Krach schlagen. Es gelang mir kaum, ihn davon abzuhalten. Als er das Telegramm aufgab, hatte er natürlich mit der Möglichkeit gerechnet, daß ihn statt meiner Gendarmen empfangen könnten; er aber dachte, daß es ihm in Petersburg mit mir zusammen leichter sein werde, sich zu verbergen, und im übrigen verließ er sich auf einen glücklichen Stern. Wir gingen ins Coupé und setzten den Weg gemeinsam fort. Ich war verblüfft über die Freiheit und Ungezwungenheit, mit der L.D. sich benahm, er lachte und sprach laut im Waggon und auf dem Bahnhof. Ich hätte ihn am liebsten ganz unsichtbar machen mögen, gut verstecken: für die Flucht drohte ihm Katorga. Er jedoch zeigte sich offen allen Menschen und behauptete, das gerade sei der beste Schutz.“

Vom Bahnhof begaben wir uns direkt in die Artillerieschule, zu unseren treuen Freunden. Niemals in meinem Leben habe ich Menschen gesehen, die derart erstaunt waren wie die Familie des Doktors Litkens. Ich stand im großen Eßzimmer, und alle blickten auf mich, atemlos wie auf ein Gespenst. Nachdem wir uns abgeküßt hatten, begannen wieder alle zu staunen und es abermals unfaßbar zu finden. Schließlich überzeugten sie sich doch, daß ich es war. Ich fühle es noch heute: das waren glückliche Stunden. Die Gefahr aber war noch lange nicht vorüber. Daran erinnerte als erster der Doktor. In gewissem Sinne begann die Gefahr erst jetzt. Aus Beresow waren sicherlich schon Telegramme angekommen die mein Verschwinden meldeten. In Petersburg kannten mich zu viele aus dem Sowjet der Deputierten. Wir beschlossen deshalb, nach Finnland zu gehen, wo die von der Revolution eroberten Freiheiten viel länger erhalten geblieben waren als in Petersburg. Der gefährlichste Punkt war der finnische Bahnhof Kurz vor Abgang des Zuges kamen einige Gendarmeneoffiziere, die den Zug kontrollierten, in unseren Waggon. An den Augen meiner Frau, die mit dem Gesicht zur Eingangstür saß, erkannte ich, in welcher Gefahr wir uns befanden. Wir erlebten einen Augenblick starker Nervenbelastung. Die Gendarmen sahen uns gleichgültig an und gingen weiter. Das war das beste, was sie tun konnten.

Sowohl Lenin wie Martow hatten schon lange vorher Petersburg verlassen und lebten in Finnland. Die Vereinigung der Fraktionen, die im April 1906 in Stockholm stattgefunden hatte, zeigte schon wieder einen tiefen Riß. Das Abflauen der Revolution setzte sich fort. Die Menschewiki bereuten ihre Torheiten von 1905. Die Bolschewiki hatten nichts zu bereuen, sondern nahmen den Kurs auf eine neue Revolution. Ich besuchte Lenin und Martow, die in benachbarten Dörfern wohnten. In Martows Zimmer herrschte wie immer eine tolle Unordnung. in einer Ecke auf dem Fußboden lagerten Zeitungen mannshoch herum. Während der Unterhaltung tauchte Martow von Zeit zu Zeit in diesem Haufen unter und holte den Aufsatz, den er brauchte, hervor. Auf dem Tisch lagen mit Zigarettenasche bedeckte Manuskripte. Der ungeputzte Zwicker hing schief auf der dünnen Nase, Martow war, wie immer, voller feiner, glänzender Gedanken, es fehlte ihm nur der eine Gedanke, der wichtigste: Martow wußte nicht, was zu tun war. In Lenins Zimmer herrschte wie stets mustergültige Ordnung. Lenin rauchte nicht. Die nötigen Zeitungen mit den Notizen waren zur Hand. Und die Hauptsache es lag eine unerschütterliche, wenn auch abwartende Sicherheit auf diesem prosaischen, aber ungewöhnlichen Gesicht. Es war noch unklar: ist es ein endgültiges Verebben der Revolution oder nur eine Stockung vor einem neuen Aufstieg. In dem einen wie in dem anderen Falle aber war ein Kampf gegen die Skeptiker im gleichen Maße erforderlich, eine theoretische Nachprüfung der Erfahrungen von 1905, die Erziehung der Kader für die neuaufsteigende Welle oder für die kommende Revolution. Lenin stimmte im Gespräch meinen Arbeitenaus dem Gefängnis zu, machte mir jedoch Vorwürfe, daß ich die notwendigen organisatorischen Schlußfolgerungen nicht zöge, das heißt, nicht in die Reihen der Bolschewiki eintrete. Er hatte recht. Zum Abschied gab er mir Adressen für Helsingfors, die sich für mich als unschätzbar wichtig erwiesen. Die von Lenin genannten Freunde halfen mir, mit meiner Familie Unterkunft zu finden in dem versteckt gelegenen Oglbü, bei Helsingsfors, wo nach uns auch Lenin einige Zeit gelebt hat Der Helsingforser Polizeimeister war Aktivist, daß heißt ein revolutionärer finnischer Nationalist. Er versprach, im Falle einer aus Petersburg drohenden Gefahr mich zu warnen. In Oglbü verbrachte ich einige Wochen mit meiner Frau und meinem kleinen Sohn, der geboren worden war, als ich im Gefängnis saß. Hier, in der Einsamkeit, eschrieb ich meine Reise in dem Büchlein Hin und Zurück, und für das Honorar, das ich dafür erhielt, fuhr ich über Stockholm ins Ausland. Meine Frau blieb mit dem Sohne vorläufig in Rußland. Bis zur Grenze begleitete mich eine junge finnische Aktivistin. In jener Periode waren das unsere Freunde. Im Jahre 1917 wurden sie Faschisten und geschworene Feinde der Oktoberrevolution.

Auf einem skandinavischen Dampfer fuhr ich in die neue Emigration, die zehn Jahre währte.

 


Anmerkungen

1. In meinem Buch 1905 ist dieser Teil der Flucht absichtlich anders geschildert. Zu jenen zeiten alles wahrheitsgetreu wiederzugeben hätte bedeutet, die zaristische Polizei auf die Spuren meiner Helfer zu lenken. Jetzt hoffe ich, daß Stalin sie nicht verfolgen wird, um so mehr als ja für ihr Verbrechen alle Verjährungsfristen abgelaufen sind. Außerdem hat mir, wie man später sehen wird, auf der letzten Etappe meiner Flucht auch Lenin geholfen.

2. Eine Art Plinsen; eine russische Nationalspeise, die besonders in der Butterwoche gegessen wird.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008