Leo Trotzki

 

Mein Leben


Der Parteikongreß und die Spaltung

Lenin reiste ins Ausland als schon fertiger dreißigjähriger Mensch. In Rußland – in Studentenzirkeln, in den ersten sozialdemokratischen Gruppen und in den Verbannungskolonien – hatte er den ersten Platz eingenommen. Er durfte sich seiner Macht schon deshalb bewußt sein, weil alle, mit denen er zusammenkam und mit denen er arbeitete, sie anerkannten. Er reiste ins Ausland bereits mit großem theoretischen Gepäck und mit einem ernsten Vorrat an revolutionärer Erfahrung. Ihn erwartete die Arbeit mit der „Gruppe der Befreiung der Arbeit“ und vor allem mit Plechanow, dem glänzenden Interpreten von Marx, dem Lehrer einiger Generationen, einem Theoretiker, Politiker, Publizisten, Redner von europäischem Ruf, einem Sozialisten mit europäischen Verbindungen. Neben Plechanow standen zwei große Autoritäten: Sassulitsch und Axelrod. Wera Iwanowna Sassulitsch stand nicht nur durch ihre heroische Vergangenheit in der vordersten Reihe. Sie besaß eine scharfsfnnige Art zu denken, große, hauptsächlich historische Kenntnisse und eine seltene psychologische Intuition. Durch Wera Sassulitsch unterhielt seinerzeit die „Gruppe“ die Verbindung mit dem alten Engels. Zum Unterschiede von Plechanow und Sassulitsch, die aufs engste mit dem romanischen Sozialismus verbunden waren, vertrat Axelrod in der „Gruppe“ die Ideen und Erfahrungen der deutschen Sozialdemokratie. Für Plechanow begann allerdings in jenen Jahren bereits die Zeit seines Niederganges. Ihn untergrub gerade das, was Lenin stark machte: das Nahen der Revolution. Die gesamte Tätigkeit Plechanows trug einen ideologisch vorbereitenden Charakter. Er war Propagandist und Polemiker des Marxismus, aber nicht revolutionärer Politiker des Proletariats. Je unmittelbarer die Revolution herannahte, um so sichtlicher verlor Plechanow den Boden unter den Füßen. Er mußte es selbst fühlen, und das war der Grund seiner Gereiztheit gegen die Jungen.

Der politische Führer der Iskra war Lenin. Die wichtigste publizistische Kraft der Zeitung war Martow. Dieser schrieb so leicht und unaufhörlich, wie er sprach. An der Seite Lenins fühlte sich Martow, damals Lenins nächster Mitarbeiter, nicht ganz wohl. Sie standen zwar noch auf „du“, aber in ihren Beziehungen war bereits eine gewisse Kälte. Martow lebte viel stärker im laufenden Tag; seine Bosheiten, aktuelle literarische Arbeiten, Publizistik, Neuigkeiten und Gespräche füllten ihn aus. Lenin stand mit den Füßen fest im Heute, bohrte sich aber in das Morgen mit dem Gedanken hinein. Martow hatte zahllose, nicht selten geistreiche Einfälle, Hypothesen, Vorschläge, an die er häufig bald selbst nicht mehr dachte; Lenin dagegen nahm nur das auf, was er brauchte, und dann, wann er es brauchte. Die durchsichtige Zerbrechlichkeit der Martowschen Gedanken veranlaßte Lenin nicht selten, besorgt den Kopf zu schütteln. Die verschiedenen politischen Linien hatten sich damals nicht nur noch nicht herausgebildet, sondern auch nicht gezeigt. Später, bei der Spaltung auf dem 2. Kongreß, sind die Anhänger der Iskra in „harte“ und „weiche“ zerfallen. Diese ezeichnungen waren anfangs sehr gebräuchlich. Sie legten Zeugnis dafür ab, daß, wenn es auch noch keine ausgesprochene Trennungslinie gab, dennoch ein Unterschied in der Einstellung, in der Entschlossenheit, in der Bereitschaft, bis zu Ende zu gehen, vorhanden war. In bezug auf Lenin und Martow kann man behaupten, daß auch vor der Spaltung und vor dem Kongreß Lenin der „harte“ war und Martow der „weiche“. Beide wußten das. Kritisch und etwas leicht mißtrauisch blickte Lenin auf Martow, den er sehr schätzte, während Martow, der diesen Blick fühlte, bedrückt war und mit seiner mageren Schulter nervös zuckte. Unterhielten sie sich bei Begegnungen, so gab es keine freundlichen Tonschwingungen mehr, keine Scherze, wenigstens nicht in meiner Anwesenheit. Lenin sprach an Martow vorbei, während Martows Augen unter dem schiefhängenden, niemals geputzten Zwicker verglasten. Sprach Lenin mit mir über Martow, so war in seinen Stimme eine besondere Nuance: „Was, das hat Julij gesagt?“, wobei er den Namen Julij auf besondere Art aussprach, mit leichter Betonung, gleichsam als wollte er warnen: „Gut ist er, gut, ausgezeichnet, aber sehr weich.“ Martow war sicherlich auch durch Wera Iwanowna Sassulitsch gegen Lenin beeinflußt, wenn nicht politisch, so doch psychologisch.

Die Verbindungen mit Rußland hatte Lenin in seinen Händen konzentriert. Redaktionssekretär war Lenins Frau, Nadeschda Konstantinowna Krupskaja. Sie bildete den Mittelpunkt der gesamten Organisationsarbeit, empfing die ankommenden Genossen, unterwies und entließ die Abreisenden, stellte die Verbindungen her, schrieb Briefe, chiffnerte und dechiffrierte sie. in ihrem Zimmer konnte man fast stets den Geruch von gesengtem Papier wahrnehmen, vom Anwärmen der konspirativen Korrespondenz. Nicht selten klagte sie mit ihrer milden, aber beharrlichen Stimme, daß man zu wenig schreibe oder die Chiffre verwechsele oder mit der chemischen Tinte derart umgehe, daß die Zeilen ineinander liefen und so weiter.

Lenin war bestrebt, bei der laufenden organisatorisch-politischen Arbeit die größtmögliche Unabhängigkeit von den Alten zu erreichen, vor allem von Plechanow, mit dem er schon scharfe Konflikte aus verschiedenen Anlässen hatte, insbesondere bei der Ausarbeitung des Programmentwurfs der Partei. Der ursprüngliche Entwurf Lenins, der dem Entwurf Plechanows gegenübergestellt war, wurde von dem letzteren sehr scharf kritisiert, und zwar in dem hochmütig-höhnischen Ton, der in solchen Fällen Georgij Valentinowitsch auszeichnete. Lenin aber konnte man damit weder entmutigen noch schrecken. Der Kampf nahm einen sehr dramatischen Charakter an. Als Vermittler traten Sassulitsch und Martow auf: Sassulitsch für Plechanow, Martow für Lenin. Beide Vermittler waren sehr versöhnlich gestimmt und außerdem miteinander befreundet. Wera Iwanowna sagte, nach ihrer eigenen Erzählung, zu Lenin: „George [Plechanow] ist ein Windhund: er zerrt, zerrt und läßt ab, Sie aber sind eine Bulldogge: Sie haben einen tödlichen Griff.“ Als Wera Iwanowna mir später diesen Dialog mitteilte, fügte sie hinzu: „Ihm[Lenin] hat das sehr gefallen. „Ein tödlicher Griff“, hat er mit Behagen wiederholt.“ Gutmütig ahmte sie die Intonation der Worte und das schnarrende R Lenins nach.

Alle diese scharfen Zusammenstöße hatten sich vor meiner Ankunft abgespielt. Ich hatte davon nichts geahnt. Ich wußte auch nicht, daß die Beziehungen der Redaktionsmitglieder sich meiner Person wegen zuspitzten. Vier Monate nach meiner Ankunft im Auslande schrieb Lenin an Plechanow:

2.III.03. Paris. Ich schlage allen Redaktionsmitgliedern vor, die ‚Feder‘ als gleichberechtigtes Mitglied der Redaktion zu kooptieren. (Ich meine, für die Kooptation ist nicht eine Mehrheit, sondern ein einstimmiger Beschluß nötig.) Wir brauchen dringend sowohl zur Erleichterung der Abstimmung (6 ist eine gerade Zahl) wie zur Ergänzung der Kräfte ein siebentes Mitglied. Die „Feder“ schreibt nicht erst seit einem Monat in jeder Nummer. Er arbeitet für die Iskra mit höchster Energie, hält Referate (mit großem Erfolg). Für Artikel und Notizen über aktuelle Fragen ist er uns nicht nur sehr nützlich, sondern geradezu unentbehrlich. Er ist zweifellos ein überzeugter und energischer Mensch von außerordentlichen Fähigkeiten, der es noch weit bringen kann. Auch auf dem Gebiet der Übersetzungen und der populären Literatur vermag er viel zu tun. Eventuelle Argumente dagegen: 1) die Jugend, 2) die (vielleicht) nahe bevorstehende Abreise nach Rußland, 3) die Feder (ohne Anführungsstriche) mit den Spuren feuilletonistischen Stils, mit übermäßiger Geziertheit usw.

Ad 1) Die ‚Feder‘ wird nicht für einen selbständigen Posten, sondern für das Kollegium vorgeschlagen. Dort wird er eben Erfahrungen sammeln. Den ‚Instinkt‘ eines Parteimenschen, eines Fraktionsmenschen besitzt er zweifellos, Wissen und Erfahrung sind Sachen, die man sich aneignen kann. Daß er studiert und arbeitet, ist ebenfalls zweifellos. Die Kooptation ist nötig, um ihn endgültig zu fesseln und zu fördern.

Ad 2) Wenn die ‚Feder‘ in die Arbeit hineinkommt, so wird er vielleicht nicht so schnell abreisen, Falls er aber abreist, so ist auch dann die organisatorische Verbindung mit dem Kollegium, dem er untergeordnet wäre, kein Minus, sondern ein gewaltiges Plus.

Ad 3) Die Mängel des Stils sind kein wichtiger Fehler. Wird sich ausgleichen. Jetzt nimmt er ‚Korrekturen‘ schweigend (und nicht sehr gern) an. Im Kollegium werden Auseinandersetzungen und Abstimmungen stattfinden, und die ‚Anweisungen‘ werden Form und Charakter des Notwendigen erhalten.

Ich schlage also vor: 1. allen sechs Mitgliedern der Redaktion, über die Frage der vollständigen Kooptation der ‚Feder‘ abzustimmen; 2. falls er aufgenommen wird, an die endgültige Gestaltung der innerredaktionellen Beziehungen und Abstimmungen sowie an die Ausarbeitung eines genauen Statuts zu gehen. Das brauchen wir, und das ist auch für den Kongreß von Wichtigkeit.

P.S. Eine Vertagung der Kooptation würde ich als im höchsten Maße verfehlt und ungeschickt ansehen, denn ich bemerkte schon reichlich viel Unzufriedenheit bei der „Feder“ (die er natürlich nicht offen zeigt) darüber, daß er noch in der Luft hänge und daß man ihn noch immer (wie ihm scheint) als ‚Jüngling‘ mißachte. Wenn wir die ‚Feder‘ nicht aufnehmen und er, sagen wir in einem Monat, nach Rußland abreist, so wird er es als offenes Mißtrauen betrachten. Wir könnten ‚versäumen‘, und das wäre recht schlimm.“

Diesen Brief, von dem ich selbst erst vor kurzem Kenntnis erhielt, führe ich fast vollständig an (unter Auslassung einiger technischer Details), weil er äußerst charakteristisch ist sowohl für die Verhältnisse innerhalb der Redaktion wie für Lenin und seine Stellung zu mir. Von dem Kampfe, der hinter meinem Rücken über meine Aufnahme in die Redaktion geführt wurde, habe ich, wie gesagt, nichts gewußt. Unrichtig und meiner damaligen Stimmung nicht im geringsten entsprechend sind die Worte Lenins über meine „reichliche Unzufriedenheit“ darüber, daß man mich nicht in die Redaktion aufnähme. In Wirklichkeit war das mir gar nicht in den Sinn gekommen. Mein Verhalten zu der Redaktion war das Verhalten eines Schülers zu Lehrern. Ich war dreiundzwanzig Jahre alt. Das jüngste der Redaktionsmitglieder, Martow, war sieben Jahre, Lenin zehn Jahre älter. Ich war mit dem Schicksal, das mich dieser hervorragenden Gruppe Menschen so nahegebracht hatte, im höchsten Grade zufrieden. Von jedem von ihnen konnte ich etwas lernen und lernte ich eifrig. Woher stammt Lenins Berufung auf meine Unzufriedenheit? Ich denke, es war einfach ein taktischer Schachzug. Der ganze Brief Lenins ist erfüllt von dem Bestreben, zu beweisen, zu überzeugen und seinen Wunsch durchzusetzen. Lenin schreckt die anderen Mitglieder des Kollegiums absichtlich mit meiner angeblichen Unzufriedenheit und mit der Möglichkeit, daß ich mich von der Iskra zurückziehen könnte. Das ist bei ihm ein Argument mehr, nichts weiten Einen ähnlichen Charakter hat auch der Hinweis auf den „Jüngling“. So nannte mich häufig der alte Deutsch und nur er allein. Aber gerade mit Deutsch, der auf mich politisch keinen Einfluß hatte und haben konnte, verbanden mich sehr freundschaftliche Beziehungen. Lenin benutzt das Argument vom „Jüngling“ nur, um den Alten die Notwendigkeit zu suggerieren, mit mir als mit einem politisch erwachsenen Menschen zu rechnen. Zehn Tage nach Lenins Brief schreibt Martow an Axelrod: „10. März 1903, London. Wladimir lljitsch schlägt uns vor, die ‚Feder‘ als vollberechtigtes Mitglied in das Redaktionskollegium aufzunehmen. Seine literarischen Arbeiten bezeugen zweifellos eine Begabung, er ist der Richtung nach absolut ‚unser‘, geht völlig in den Interessen der Iskra auf und hat hier (im Auslande) großen Einfluß dank seiner nicht unbeträchtlichen rednerischen Fähigkeiten. Er spricht großartig – wie man es besser nicht wünschen kann. Davon habe ich mich überzeugt wie auch Wladimir Iljitsch. Er besitzt Kenntnisse und arbeitet an ihrer Vervollständigung. Ich schließe mich dem Vorschlag Wladirnir Iljitschs bedingungslos an.“ In diesem Brief erscheint Martow nur als treues Echo von Lenin, Aber er wiederholt das Argument betreffs meiner Unzufriedenheit nicht. Wir lebten mit Martow in der gleichen Wohnung, Seite an Seite, er hatte mich zu gut beobachten können, um mich nicht der ungeduldigen Absicht, Redaktionsmitglied zu werden, zu verdächtigen.

Weshalb bestand Lenin so dringend darauf, mich dem Kollegium anzuschließen? Er wollte eine feste Mehrheit erreichen. In einer Reihe wichtiger Fragen spaltete sich die Redaktion in zwei Teile: die Alten (Plechanow, Sassulitsch und Axelrod) und die Jungen (Lenin, Martow und Potressow). Lenin hat nicht gezweifelt, daß ich in den wichtigsten Fragen mit ihm sein würde. Einmal, als man gegen Plechanow auftreten mußte, rief mich Lenin beiseite und sagte mit einem schlauen Lächeln: „Soll doch lieber Martow auftreten, er verwischt, Sie aber hauen.“ Als er auf meinem Gesicht wahrscheinlich einen Ausdruck der Verwunderunng entdeckte, fügte er hinzu: „Ich ziehe sonst das Hauen vor, aber Plechanow gegenüber ist es diesmal besser, zu verwischen.“

Der Vorschlag Lenins, mich in die Redaktion aufzunehmen, ist an dem Widerstand Plechanows gescheitert. Mehr noch: dieser Vorschlag wurde die Hauptursache der scharfen Abneigung, die Plechanow gegen mich empfand, da er begriffen hatte, daß Lenin eine sichere Mehrheit gegen ihn anstrebte. Die Frage nach der Umgestaltung der Redaktion wurde bis zum Kongreß vertagt Die Redaktion beschloß jedoch, mich vor dem Kongreß mit beratender Stimme zu den Sitzungen hinzuzuziehen. Plechanow widersprach dem kategorisch. Aber Wera Iwanowna sagte: „Und ich werde ihn doch bringen.“ Und sie „brachte“ mich zur nächsten Sitzung tatsächlich. In Unkenntnis dessen, was sich hinter den Kulissen abspielte, war ich nicht wenig erstaunt, als Georgij Valentinowitsch mich mit ausgesuchter Kühle begrüßte, worin er ein besonderer Meister war. Die unfreundliche Haltung Plechanows gegen mich hat lange angehalten, sie ist eigentlich niemals völlig gewichen. Im April 1904 schreibt Martow in einem Brief an Axelrod von dem „persönlichen, ihn [Plechanow] erniedrigenden und unedlen Haß gegen die betreffende Person“ (es handelte sich um mich).

Interessant ist die Bemerkung in Lenins Brief über meinen damaligen Stil. Sie ist richtig in beiden Fällen: sowohl was eine gewisse Geziertheit betrifft wie auch was meine starke Abneigung angeht, fremde Korrekturen hinzunehmen. Meine Schrifistellerei zählte damals kaum zwei Jahre, und die Fragen des Stils nahmen einen großen und selbständigen Platz in meiner Arbeit ein. Ich fand erst Geschmack an dem Wortmaterial. Wie Kinder, die zahnen, das Bedürfnis verspüren, den Gaumen zu reiben, selbst mit Hilfe wenig dafür geeigneter Gegenstände, so entsprach die mir so wichtig erschienene Jagd nach einem Wort, nach einer Formel, nach einem Bild der Periode des Wachstums meiner schriftstellerischen Zähne. Die Säuberung des Stils konnte erst mit der Zeit sich vollziehen. Und da mein Kampf um die Form kein zufälliger, äußerlicher war, sondern inneren geistigen Prozessen entsprach, so ist es nicht verwunderlich, daß ich trotz aller meiner Achtung für die Redaktion meine sich herausbildende schriftstellerische Individualität gegen den Einbruch seitens zwar vollendeter, aber doch anders gearteter Schriftsteller instinktiv verteidigte.

Der Termin des Kongresses rückte unterdessen immer näher heran, und es wurde endlich beschlossen, die Redaktion in die Schweiz, nach Genf, zu verlegen: dort war das Leben unvergleichlich billiger, und die Verbindung mit Rußland leichten Nur schweren Herzens stimmte Lenin dem zu. „In Genf richteten wir uns in zwei kleinen Mansardenzimmern ein“, schreibt Sedowa, „L.D. war mit der Arbeit für den Kongreß beschäftigt. Ich bereitete mich zur Abreise nach Rußland für Parteiarbeit vor.“ Es trafen die ersten Delegierten zum Kongreß ein, mit denen endlose Beratungen geführt wurden. In dieser Vorbereitungsarbeit hatte Lenin die unbestrittene, wenn auch nicht immer sichtbare Führung. Ein Teil der Delegierten kam mit Zweifeln und Einwänden an. Die vorbereitende Arbeit nahm viel Zeit in Anspruch. Bei den Beratungen war ein großer Platz den Statuten eingeräumt, wobei den wichtigsten Punkt des organisatorischen Schemas die gegenseitigen Beziehungen zwischen dem Zentralorgan (der Iskra) und dem Zentralkomitee in Rußland bildeten. Ich war ins Ausland gekommen mit dem Gedanken, die Redaktion müsse sich dem Zentralkomitee „unterordnen“. So war die Stimmung der meisten Iskra-Anhänger in Rußland.

„Das wird nicht gehen“, erwiderte mir Lenin, „es besteht kein entsprechendes Kräfteverhältnis. Wie wollen sie von Rußland aus uns leiten? Es wird nicht gehen. ... Wir sind ein festes Zentrum, wir sind ideologisch stärker, und wir werden von hier aus leiten.“

„Da entsteht aber doch eine völlige Diktatur der Redaktion?“ fragte ich. „Nun und was ist daran so schlimm?“ erwiderte Lenin. „So muß es bei der gegenwärtigen Lage auch sein.“

Die organisatorischen Pläne Lenins riefen in mir einige Zweifel hervor. Aber wie weit war ich damals von dem Gedanken entfernt, daß der Parteikongreß über diese Frage auffliegen könnte ...

Ich bekam das Mandat von dem Sibirischen Bund, zu dem ich während meiner Verbannung in engster Beziehung stand. Zusammen mit dem Delegierten aus Tula, dem Arzt Uljanow, dem jüngeren Bruder Lenins, fuhr ich zum Kongreß; um keinen „Schwanz“ anzuziehen, nicht von Genf, sondern von der nächsten kleinen und stillen Station Nion aus, wo der Schnellzug nur eine halbe Minute hielt. Als gute russische Provinzler erwarteten wir den Zug nicht auf dem Perron, wo er einlief, und als der Expreß stand, stürzten wir uns über die Puffer hinweg zum Waggon. Bevor wir das Trittbrett erreicht hatten, setzte sich der Zug in Bewegung. Als der Bahnhofsvorsteher zwischen den Puffern zwei Passagiere erblickte, gab er ein Alarmsignal. Der Zug hielt. Kaum daß wir im Waggon waren, gab uns der Schaffner zu verstehen, daß er zum erstenmal in seinem Leben solch tölpelhafte Subjekte sähe und daß wir für das Anhalten des Zuges fünfzig Franken zu entrichten hätten. Wir unsererseits gaben ihm zu verstehen, daß wir kein Wort Französisch sprechen könnten. Das war zwar nicht ganz richtig, aber sehr zweckmäßig: der dicke Schweizer schimpfte noch drei Minuten und ließ uns dann in Ruh. Er handelte um so vernünftiger als wir keine fünfzig Franken besaßen. Nur später, bei der Billettkontrolle, äußerte er den anderen Fahrgästen gegenüber nochmals seine höchst absprechende Meinung über die beiden Herren, die man vom Puffer hatte herunterholen müssen. Der Ärmste wußte nicht, daß wir unterwegs waren, eine Partei zu schaffen.

Die Sitzungen des Kongresses begannen in Brüssel, im Gebäude der Arbeitergenossenschaft, im Maison du Peuple. In dem uns zugewiesenen Raum, der vor fremden Augen genügend verborgen war, lagerten Ballen mit Wolle, und wir mußten eine Attacke unzähliger Flöhe aushalten. Wir nannten sie die Kriegerschar Anseeles, die für den Sturm auf die bürgerliche Gesellschaft mobilisiert war. Die Sitzungen stellten eine wahre physische Folter dar. Noch schlimmer war, daß die Delegierten gleich in den ersten Tagen entdeckten, daß sie von Spitzeln verfolgt wurden. Ich lebte auf den Paß eines mir unbekannten Bulgaren Samokowljew. In der zweiten Woche kam ich spät in der Nacht mit Wera Sassulitsch aus einem kleinen Restaurant, Goldener Fasan, heraus. Unseren Weg kreuzte der Delegierte aus Odessa, S., der, ohne uns anzusehen, vor sich hin zischte: „Hinter euch ist ein Spitzel, geht in verschiedene Richtungen auseinander, der Spitzel wird dem Manne folgen.“ S. war ein großer Spezialist in bezug auf Spitzel, er hatte dafür Augen, präzis wie ein astronomisches Instrument. Er wohnte in einem oberen Stockwerk neben dem Fasan und hatte sein Fenster in einen Beobachtungsposten verwandelt. Ich nahm sofort Abschied von Sassulitsch und ging geradeaus. In der Tasche hatte ich den bulgarischen Paß und fünf Franken. Der Spitzel, ein langer, hagerer Flame mit Lippen, die einem Entenschnabel ähnelten, folgte mir. Es war nach Mitternacht und die Straße völlig leer. Ich machte schroff kehrt. „M’sieu, wie heißt diese Straße?“ Der Flame erschrak und drückte sich mit dem Rücken an die Wand. „Je ne sais pas.“ Er hatte zweifellos einen Revolverschuß erwartet. Ich ging weiter, immer den Boulevard geradeaus. Irgendwo schlug eine Uhr eins. Als ich zu einer Quergasse kam, bog ich ein und begann aus aller Kraft zu rennen. Der Flame folgte mir. So jagten zwei Menschen, die sich nicht kannten, tief in der Nacht durch die Straßen Brüssels hintereinander her. Ich höre noch jetzt das Stampfen ihrer Füße. Ich umlief das Karree auf drei Seiten und brachte den Flamen wieder auf den Boulevard zurück. Wir waren beide müde, erbost und gingen finster weiter. In der Straße standen einige Droschken. Eine zu mieten wäre zwecklos gewesen, der Spitzel hätte eine andere genommen. Wir gingen weiter. Der endlose Boulevard schien aufzuhören, wir waren am Ende der Stadt. Neben einer kleinen Nachtkneipe stand eine einsame Droschke. Ich machte einen Anlauf und stieg ein. „Fahren Sie schnell, ich habe es sehr eilig!“ „Wohin?“ Der Spitzel lauschte. Ich nannte einen Park, fünf Minuten von meiner Wohnung entfernt. „Hundert Sous!“ „Fahren Sie!“ Der Kutscher nahm die Leine. Der Spitzel stürzte in die Kneipe, kam mit einem Kellner heraus und zeigte auf seinen Feind. Nach einer halben Stunde war ich in meinem Zimmer. Als ich die Kerze angezündet hatte, entdeckte ich auf meinem Nachttischchen einen Brief, adressiert an meinen bulgarischen Namen. Wer konnte mir hierher schreiben? Es war eine Vorladung für Herrn Samokowljew, morgen um zehn Uhr mit dem Paß zur Polizei zu kommen. Also hatte mich wohl ein anderer Spitzel schon am Tage zuvor entdeckt, und die ganze nächtliche Jagd durch den Boulevard war für beide Teilnehmer eine überflüssige Übung gewesen. Eine ähnliche Ehrung wurde in dieser Nacht auch den anderen Delegierten zuteil. Denen, die zur Polizei gingen, wurde befohlen, in vierundzwanzig Stunden die Grenzen Belgiens zu verlassen. Ich ging nicht zum Polizeirevier, sondern reiste nach London ab, wohin der Kongreß verlegt wurde.

Harting, der die russische Spitzelabteilung in Berlin leitete, berichtete an das Polizeidepartement, daß „die Brüsseler Polizei über einen beträchtlichen Zustrom von Ausländern erstaunt war, wobei sie zehn Mann anarchistischer Umtriebe verdächtigte“. Die Brüsseler Polizei war „erstaunt“ gemacht worden durch Harting selbst, der in Wirklichkeit Hekkelmann hieß und Provokateur-Terrorist war; vom französischen Gericht in contumaciam zu Zuchthaus verurteilt, wurde er später Ochrana-General des Zarismus und schließlich, unter falschem Namen, Ritter der französischen Ehrenlegion. Harting seinerseits war durch den Agent-Provokateur Doktor Schitomirski informiert worden, der von Berlin aus sich an der Organisierung des Kongresses aktiv beteiligt hatte. Das alles wurde erst nach einer Reihe von Jahren bekannt. Es könnte scheinen, daß alle Fäden in den Händen des Zarismus gewesen waren. Dennoch hat es ihm nichts genützt. ...

Während des Kongresses zeigten sich die Gegensätze in den Grundkadern der Iskra; es offenbarten sich die „Weichen“ und die „Harten“. Die Meinungsverschiedenheiten gingen anfangs um den Punkt des Statuts: wer ist als Mitglied der Partei zu betrachten? Lenin bestand darauf, die Partei mit der illegalen Organisation zu identifizieren. Martow wollte, daß auch jene als Parteimitglieder gelten sollten, die unter der Leitung der illegalen Organisation arbeiteten. Unmittelbare praktische Bedeutung hatte dieser Gegensatz nicht, da das Recht der beschließenden Stimme nach beiden Formeln nur den Mitgliedern der illegalen Organisation zustehen sollte. Und doch waren zwei auseinandergehende Tendenzen offensichtlich. Lenin wollte eine geschlossene Form und scharfe Klarheit in den Parteibeziehungen. Martow neigte zur Verschwommenheit. Die Gruppierung in dieser Frage bestimmte den ganzen weiteren Verlauf des Kongresses, insbesondere die Zusammensetzung der führenden Parteiinstitutionen. Hinter den Kulissen ging ein Kampf um jeden einzelnen Delegierten. Lenin sparte keine Mühe, mich auf seine Seite zu ziehen. Er machte mit mir und mit Krassikow einen langen Spaziergang, wobei beide mich davon zu überzeugen suchten, daß Martow nicht mein Weg sei, denn Martow sei ein „Weicher“. Die Charakteristiken, die Krassikow von den Mitgliedern der Iskra gab, waren so ungeniert, daß Lenin die Stirn runzelte und ich erschauerte. In meinem Verhalten zu der Redaktion war noch viel Jugendlich-Sentimentales. Diese Unterhaltung hatte mich eher abgestoßen als angezogen. Die Differenzen waren noch unklar, man tappte im Dunkeln und operierte mit unwägbaren Größen. Es wurde beschlossen, eine Beratung der Kerngruppe der Iskra einzuberufen, um sich zu verständigen. Aber schon die Wahl des Vorsitzenden bereitete Schwierigkeiten. „Ich schlage vor, unseren Benjamin zu wählen“, sagte Deutsch, nach einem Ausweg suchend. So fiel es mir zu, den Vorsitz in jener Versammlung der Iskra zu führen, in der die spätere Spaltung in Bolschewiki und Menschewiki sich anzeigte. Die Nerven waren bei allen aufs äußerste gespannt. Lenin ging, die Tür laut hinter sich zuschlagend, aus der Versammlung. Das ist der einzige Fall, wo er in meiner Gegenwart im scharfen innerparteilichen Kampf die Selbstbeherrschung verlor. Die Lage spitzte sich noch mehr zu. Die Meinungsverschiedenheiten traten auf dem Kongreß offen zutage. Lenin machte noch einen Versuch, mich auf die Seite der „Harten“ hinüberzuziehen, indem er die Delegierte S. und seinen jüngeren Bruder Dmitrij zu mir schickte. Die Aussprache mit diesen in einem Park dauerte einige Stunden. Die Abgesandten wollten mich nicht weglassen. „Wir haben den Befehl, Sie auf alle Fälle mitzubringen.“ Schließlich weigerte ich mich resolut, mit ihnen zu gehen.

Die Spaltung kam für alle Kongreßteilnehmer unerwartet. Auch Lenin, die aktivste Figur des Kampfes, hatte sie nicht vorausgesehen und nicht gewollt. Beide Parteien empfanden die hereingebrochenen Ereignisse sehr schwer. Lenin litt nach dem Kongreß einige Wochen an einer Nervenerkrankung. „Aus London schrieb L.D. fast täglich“, sagt Sedowa in ihren Aufzeichnungen, „die Briefe wurden immer besorgter, und schließlich berichtete ein Brief über die Spaltung der Iskra verzweifelt: die Iskra gibt es nicht mehr, sie ist gestorben ... Die Spaltung in der Iskra wurde von uns allen sehr schmerzlich empfunden. Nach der Rückkehr L.D.s vom Kongreß reiste ich bald nach Petersburg ab und nahm das Material über den Kongreß mit, das in ganz winziger Schrift auf dünnem Papier geschrieben im Einbanddeckel des französischen Wörterbuchs Larousse untergebracht war.“

Wie kam es, daß ich auf dem Kongreß mit den „Weichen“ war? Mit den Redaktionsmitgliedern Martow, Sassulitsch und Axelrod war ich am engsten verbunden. Ihr Einfluß auf mich war unbestreitbar. In der Redaktion gab es vor dem Kongreß Schattierungen, es gab aber keine ausgesprochenen Differenzen. Plechanow stand ich am femsten; nach den ersten, eigentlich nebensächlichen Zusammenstößen konnte Plechanow mich nicht leiden. Lenin stand zu mir sehr gut. Aber gerade er war es, der in meinen Augen jetzt ein Attentat unternahm auf die Redaktion, die für mich eine Gesamtheit darstellte und den bezaubernden Namen Iskra trug. Der Gedanke an eine Spaltung des Kollegiums erschien mir wie Gotteslästerung. Der revolutionäre Zentralismus ist ein hartes, gebieterisches und anspruchsvolles Prinzip. Es nimmt nicht selten gegen einzelne und ganze Gruppen gestriger Gesinnungsgenossen unbarmherzige Formen an. Nicht umsonst sind in Lenins Wortschatz die Worte so häufig: unversöhnlich und erbarmungslos. Nur die höhere revolutionäre Zielsetzung, frei von allem Niedrig-Persönlichen, kann eine solche Erbarmungslosigkeit rechtfertigen. Im Jahre 1903 ging es nur darum, Axelrod und Sassulitsch außerhalb der Redaktion der Iskra zu stellen. Ich empfand für die beiden nicht nur Achtung, sondern auch persönliche Zuneigung. Auch Lenin hatte sie wegen ihrer Vergangenheit hochgeschätzt. Aber er kam zu der Erkenntnis, daß sie immer mehr ein Hindernis auf dem Wege zur Zukunft würden, und er zog die organisatorische Schlußfolgerung: sie aus den führenden Stellungen zu entfernen. Damit konnte ich mich nicht abfinden. Mein ganzes Wesen lehnte sich gegen diese erbarmungslose Absägung der Alten auf, die endlich bis an die Schwelle der Partei gekommen waren. Aus dieser meiner Empörung ergab sich der Bruch mit Lenin auf dem zweiten Kongreß. Sein Verhalten schien mir unzulässig, schrecklich, empörend. Es war aber dennoch politisch richtig, folglich auch organisatorisch notwendig. Der Bruch mit den Alten, die in der vorbereitenden Epoche verharrten, war auf jeden Fall unvermeidlich. Lenin hatte dies früher als die anderen erkannt. Er machte noch den Versuch, Plechanow zu behalten, indem er ihn von Axelrod und Sassulitsch trennte. Aber auch dieser Versuch war, wie die Ereignisse bald zeigten, mißglückt.

Meine Trennung von Lenin erfolgte also gleichsam auf „moralischem“, ja sogar auf persönlichem Gebiet. Doch schien es nur äußerlich so. Im Grunde hatte unser Auseinandergehen einen politischen Charakter, der nur auf organisatorischem Gebiet nach außen durchbrach.

Ich zählte mich zu den Zentralisten. Aber es ist außer Zweifel, daß ich mir in jener Periode keine klare Rechenschaft darüber abzugeben vermochte, welch strenger und gebieterischer Zentralismus für eine revolutionäre Partei erforderlich sein würde, um eine Millionenmasse in den Kampf gegen die alte Gesellschaft zu führen. Meine frühe Jugend verlief in der dämmerigen Atmosphäre der Reaktion, die sich in Odessa um ein Jahrfünft verspätet hatte. Die Jugend Lenins führt zur Narodnaja Wolja. Jene, die um einige Jahre jünger waren als ich, wuchsen schon in der Umgebung eines neuen politischen Aufstiegs heran. Zur Zeit des Londoner Kongresses im Jahre 1903 war für mich die Revolution zur Hälfte noch immer eine theoretische Abstraktion. Der Leninsche Zentralismus ergab sich für mich noch nicht aus einer klaren, selbständig durchdachten revolutionären Konzeption. Das Bedürfnis aber, ein Problem selbständig zu erfassen und aus ihm alle notwendigen Schlußfolgerungen zu ziehen, war für mich, wie mir scheint, stets das gebieterischste Bedürfnis meines geistigen Lebens.

Die Zuspitzung des auf dem Kongreß entbrannten Konfliktes hatte ihren Grund sowohl in den sich bereits herauskristallisierenden prinzipiellen Fragen, wie in dem falschen Augenmaß der Alten bei der Einschätzung der Größe und der Bedeutung Lenins. Während des Kongresses und gleich danach gesellte sich zu der Empörung Axelrods und der anderen Redaktionsmitglieder über das Verhalten Lenins das Erstaunen: wie durfte er es wagen? „Es ist nicht so lange her, daß er ins Ausland kam, als Schüler“, dachten die Alten, „er hat sich auch wie ein Schüler benommen. Woher diese Selbstsicherheit? Wie konnte er es wagen?“

Aber Lenin konnte es wagen und hatte es gewagt. Er brauchte sich dabei nur von der Unfähigkeit der Alten, die unmittelbare Führung der Kampforganisation der proletarischen Avantgarde unter den Bedingungen der herannahenden Revolution in ihre Hände zu nehmen, zu überzeugen. Die Alten, und die Alten nicht allein, hatten sich geirrt; das war nicht nur ein hervorragender Arbeiter, das war auch ein Führer, der durch und durch zielgerichtet war und der, wie wohl anzunehmen ist, gerade dann, als er Seite an Seite mit den Älteren, den Lehrern, stand, sich endgültig als Führer zu fühlen und die Überzeugung zu gewinnen begann, daß er stärker und nötiger sei als diese. In jenen noch ziemlich unklaren Stimmungen, die sich um die Fahne der Iskra gruppierten, vertrat allein Lenin voll und restlos den morgigen Tag mit all seinen ernsten Aufgaben, grausamen Zusammenstößen und unzähligen Opfern.

Auf dem Kongreß hatte Lenin sich Plechanow erobert; aber nicht verläßlich; gleichzeitig hatte er Martow verloren, und zwar für immer. Plechanow hatte auf dem Kongreß wohl so etwas wie eine Ahnung gehabt. Mindestens sagte er damals zu Axelrod über Lenin: „Aus einem solchen Teig werden Robespierres gemacht.“ Plechanow selbst spielte auf dem Kongreß keine beneidenswerte Rolle. Nur einmal hatte ich Gelegenheit ihn in seiner ganzen Macht zu sehen und zu hören: das war in der Programmkommission des Kongresses. Mit einem klaren, wissenschaftlich geschliffenen Prorammschema im Kopfe, seiner selbst, seiner Kenntnisse, seiner Überlegenheit sicher, mit munterem, ironischern Feuer in den Augen, mit Grau im stacheligen lustigen Schnurrbart, mit etwas theatralischen, aber lebendigen und ausdrucksvollen Gesten beleuchtete Plechanow, der den Vorsitz innehatte, die gesamte vielköpfige Sektion, wie mit einem lebendigen Feuerwerk von Wissen und Witz.

Der Führer der Menschewiki, Martow, stellt eine der tragischsten Figuren der revolutionären Bewegung dar. Ein außerordentlich begabter Schriftsteller, ein Politiker mit reichen Einfällen, ein scharfsinniger Geist, stand Martow hoch über jener ideologischen Strömung, die er vertrat Aber seinen Gedanken fehlte die Kühnheit, seinem Scharfsinn der Wille. Anklammerungsfähigkeit konnte da nicht Ersatz sein. Martows erste Reaktion auf Ereignisse bewegte sich stets in revolutionärer Richtung. Aber seign Gedanke, nicht unterstützt von der Triebfeder des Willens, sank bald zusammen. Unsere guten Beziehungen überstanden die Prüfung der ersten großen Ereignisse der heranrückenden Revolution nicht.

Wie dem auch sei, der zweite Kongreß bedeutet in meinem Leben einen großen Markstein schon allein deshalb, weil er mich für viele Jahre von Lenin getrennt hat. Die Vergangenheit als Ganzes erfassend, beklage ich das nicht. Ich bin zum zweitenmal zu Lenin gekommen, später als viele andere, aber ich bin gekommen auf eigenen Wegen, nachdem ich die Erfahrung der Revolution, der Konterrevolution und des imperialistischen Krieges durchgemacht und durchgedacht hatte. Ich bin zu ihm sicherer und ernster gekommen als jene „Schüler“, die, zu seinen Lebzeiten, nicht immer an rechter Stelle des Lehrers Worte wiederholten und seine Gesten nachahmten und die nach seinem Tode sich als hilflose Epigonen und als unbewußte Werkzeuge in der Hand feindlicher Mächte erwiesen haben.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008