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Im Jahre 1888 begannen in meinem Leben große Ereignisse. Man schickte mich in die Schule nach Odessa. Das kam so: Während des Sommers lebte im Dorf ein Neffe meiner Mutter, der achtundzwanzigjährige Moissej Filippowitsch Spenzer, ein kluger und guter Mensch, der seinerzeit politisch etwas „gelitten“ hatte, wie man damals sagte, und der darum nicht vom Gymnasium auf die Universität hatte kommen können. Er beschäftigte sich jetzt ein wenig mit Journalistik, ein wenig mit Statistik. Ins Dorf war er gekommen, um gegen die ihn bedrohende Tuberkulose anzukämpfen. Monja, wie man ihn nannte, war sowohl seiner Fähigkeiten wie seines Charakters wegen der Stolz seiner Mutter und seiner zahlreichen Schwestern. Auch in unserer Familie zollte man ihm hohe Achtung. Alle hatten sich im voraus auf seinen Besuch gefreut. Zusammen mit den anderen freute auch ich mich im stillen. Als Monja ins Eßzimmer trat, stand ich jenseits der Schwelle der sogenannten Kinderstube, eines danebenliegenden kleinen Eckzimmers, und wagte nicht, mich zu bewegen; denn meine Schuhe zeigten zwei gähnende Schlünde. Dies war kein Zeichen der Armut – zu dieser Zeit war die Familie schon ziemlich wohlhabend –, sondern der ländlichen Gleichgültigkeit, Arbeitsüberlastung und des bescheidenen Niveaus häuslicher Bedürfnisse. „Guten Tag, Junge“, sagte Moissej Filippowitsch, „komm doch her“ ... „Guten Tag“, sagte der Knabe, rührte sich aber nicht vom Fleck. Mit schuldbewußtem Lachen wurde dem Gast erklärt, um was es sich handelte; er brachte mich heiter aus der schwierigen Lage, indem er mich über die Schwelle trug und mich dabei fest umarmte. Bei Tisch war Monja der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: die Mutter legte ihm die besten Stücke auf den Teller, fragte ihn, ob es ihm schmecke und was er gern äße. Abends, als die Herde bereits in der Hürde war, sagte mir Monja: „Los, komm frisch gemolkene Milch trinken, nimm Gläser, ... Fasse sie doch, Teuerster, mit den Fingern von außen, nicht von innen an.“ Von Monja erfuhr ich vieles, was ich früher nicht gewußt hatte: wie man ein Glas festhalten, wie man sich waschen, verschiedene Worte richtig aussprechen muß, und warum die frischgemolkene Milch für die Brust gut ist. Spenzer ging spazieren, schrieb, spielte Kegel, lehrte mich Arithmetik und Russisch, um mich für die erste Schulklasse vorzubereiten. Ich schwärmte für ihn, aber doch mit einem gewissen Angstgefühl; ich spürte bei ihm das Prinzip der anspruchsvollen Disziplin. Das war der Anfang der städtischen Kultur.
Monja war freundlich gegen alle seine Dorfverwandten, scherzte viel und sang mit weichem Tenor. Aber zeitweise verdüsterte sich seine Stimmung, er saß dann beim Mittagessen schweigend und verschlossen. Man betrachtete ihn besorgt, fragte ihn, was er habe, ob er nicht krank sei. Er antwortete kurz und ausweichend. Dunkel und auch erst gegen Ende seines Aufenthaltes im Dorfe erriet ich den Grund seiner bisweiligen Verschlossenheit: Monja war durch irgendeine döffische Grobheit oder Ungerechtigkeit verletzt worden. Nicht, daß Tante oder Onkel besonders strenge Herrschaften gewesen wären, nein, das konnte man keinesfalls behaupten. Ihr Benehmen den Arbeitern und Bauern gegenüber war nicht schlechter als auf anderen Gutshöfen. Aber auch nicht viel besser Und das heißt, daß es ein derbes Benehmen war. Als der Verwalter einmal den Hirten mit einer langen Peitsche züchtigte, weil der die Pferde bis zum Abend an der Tränke gelassen hatte, erblaßte Monja und sagte mit zusammengebissenen Zähnen: „So eine Gemeinheit“ Auch ich fühlte, daß es eine Gemeinheit war. Ich weiß nicht, ob ich es ohne ihn gefühlt haben würde. Wahrscheinlich doch. Auf jeden Fall aber hat er mir dabei geholfen, und das hat mich für mein ganzes Leben mit einem Gefühl der Dankbarkeit an ihn gefesselt.
Spenzer stand kurz vor seiner Heirat mit der Vorsteherin der staatlich konzessionierten Schule für jüdische Mädchen in Odessa. In Janowka kannte sie niemand; aber alle waren im voraus davon überzeugt, daß sie ein hervorragender Mensch sein müsse: sowohl als Schulvorsteherin wie auch als Monjas zukünftige Frau. Es wurde beschlossen, mich im nächsten Frühling nach Odessa zu bringen, wo ich in der Familie Spenzer leben und das Gymnasium besuchen sollte.
Der Schneider aus der Kolonie mußte mich ausstaffieren; in eine große Kiste wurden Töpfe mit Butter, Gläser mit Eingemachtem und andere Geschenke für die städtische Verwandtschaft gepackt. Man nahm lange Abschied, ich weinte bitterlich, die Mutter weinte, die Schwestern weinten, und da fühlte ich zum erstenmal, wie teuer mir Janowka war und alle, die dazugehörten. Mit Pferden führ man zur Bahnstation, durch die Steppe, und ich weinte, bis wir in den großen Weg einbogen. Von Nowij Bug fuhr man mit dem Zug bis Nikolajew, von dort mit dem Dampfer. Das Pfeifen des Dampfers überlief kalt meinen Rücken und klang wie die Ankündigung eines neuen Lebens. Vorläufig aber war es erst der Fluß Bug, das Meer lag noch vor uns. Vieles, vieles lag noch vor uns. Da ist auch der Hafen, die Droschke, die Pokrowskigasse mit dem alten Haus, in dem sich die Mädchenschule und ihre Vorsteherin befinden. Ich werde von allen Seiten betrachtet, man küßt mich, auf die Stirn, auf die Backen, zuerst eine junge Frau, dann eine alte, die Mutter der jungen. Moissej Filippowitsch macht Scherze, wie immer, erkundigt sich nach Janowka, nach dessen Bewohnern und sogar nach einigen ihm bekannten Kühen. Aber mir erscheinen jetzt die Kühe als so unbedeutende Wesen, daß ich mich schäme, in dieser auserwählten Gesellschaft von ihnen sprechen zu müssen. Die Wohnung ist nicht groß. Im Eßzimmer wird mir eine Ecke hinter einem Vorhang zugewiesen. Hier verbrachte ich die ersten vier Jahre meines Schullebens.
Sofort und restlos geriet ich in die Macht jener anziehenden, aber anspruchsvollen Disziplin, die schon im Dorfe von Moissej Filippowitsch ausgegangen war. Das Regime in der Familie war nicht streng, aber geregelt: darum empfand ich es anfangs als streng. Um 9 Uhr mußte ich schlafen gehen. Erst mit meinem Aufrücken in die höheren Klassen verschob sich diese Stunde. Schritt für Schritt brachte man mir bei, daß man morgens grüßen, die Hände und Nägel sauber haben, dem Dienstmädchen, wenn es etwas bringt, danken müsse, nicht mit dem Messer essen, sich nicht verspäten und hinter dem Rücken der Leute nicht schlecht sprechen dürfe. Ich erfuhr, daß Dutzende Worte, die im Dorfe selbstverständlich erschienen, keine russischen, sondern entstellte ukrainische Worte waren. Jeden Tag eröffnete sich mir ein Stückchen eines kultivierteren Milieus als das, in dem ich meine ersten neun Lebensjahre zugebracht hatte. Selbst die Werkstatt begann zu verblassen und ihren Zauber einzubüßen vor der Herrlichkeit der klassischen Literatur und der Märchenhaftigkeit des Theaters. Ich wurde allmählich ein kleiner Städter. Aber manchmal tauchte doch das Dorf grell im Bewußtsein auf und lockte wie ein verlorenes Paradies. Dann sehnte ich mich, fand keine Ruhe, schrieb mit dem Finger auf die Fensterscheiben Grüße an die Mutter und weinte ins Kissen.
Das Leben in der Familie Moissej Filippowitsch war bescheiden, die Mittel reichten kaum aus. Das Familienhaupt hatte keine bestimmte Arbeit. Spenzer übersetzte griechische Tragödien und versah sie mit Anmerkungen, schrieb Erzählungen für Kinder, studierte Schlosser und andere Geschichtsschreiber, da er die Absicht hatte, chronologisch anschauliche Tabellen zusammenzustellen, und half seiner Frau bei der Verwaltung der Schule. Später gründete er einen kleinen Verlag, der sich in den ersten Jahren mit knapper Not hielt, dann aber plötzlich einen großen Aufstieg erlebte. Nach zehn, zwölf Jahren wurde er der angesehenste Verleger im Süden Rußlands, der Besitzer einer großen Druckerei und eines Hauses. Ich verbrachte in dieser Familie sechs Jahre, die in die erste Periode des Verlages fallen. Ich machte mich vertraut mit Satz, Korrektur, Umbruch, Druck, mit Falzen und Heften. Korrekturlesen wurde meine angenehmste Beschäftigung. Meine Liebe für frischbedrucktes Papier datiert von jenen fernen Schuljahren her.
Wie stets in bürgerlichen, besonders in kleinbürgerlichen Familien, spielten die Dienstboten in meinem Leben zwar eine unsichtbare, aber keine unbedeutende Rolle. Das erste Dienstmädchen, Dascha, hatte mit mir eine besondere, verschwiegene Freundschaft und vertraute mir ihre Geheimnisse an. Nach dem Mittagessen, wenn alle ruhten, stahl ich mich in die Küche. Dort erzählte mir Dascha während ihrer Arbeit ihr ganzes Leben und ihre erste Liebe. Nach Dascha kam ein jüdisches Dienstmädchen aus Schitomir, die von ihrem Mann geschieden war, ins Haus. „So ein Bösewicht, so ein Ekel“, klagte sie mir. Ich lehrte sie lesen und schreiben. Jeden Tag verbrachte sie mindestens eine halbe Stunde an meinem Tisch und wurde in die Geheimnisse der Buchstaben und ihrer Zusammenschweißung zu Wörtern eingeweiht. Zu jener Zeit gab es im Hause schon einen Säugling, und man brauchte eine Amme. Ich schrieb für die Amme Briefe. Sie klagte ihrem Manne, der nach Amerika gereist war, ihre Leiden. Auf ihr Bitten hin legte ich die schwärzesten Farben auf und fügte dann hinzu, daß „nur unser Kleines allein ein heller Stern auf dem dunklen Horizont meines Lebens ist“. Die Amme war begeistert. Ich selbst las die Briefe mit Vergnügen laut vor, wenn mich auch der letzte Teil, in dem vom Senden der Dollars die Rede war, peinlich berührte. Dann bat sie:
„Und jetzt noch einen Brief. „ „An wen?“ fragte ich, mich auf die schöpferische Tätigkeit vorbereitend.
„An einen Vetter“, antwortete unsicher die Amme. Dieser Brief sprach ebenfalls vom düsteren Leben, sagte aber nichts vom Stern und endete mit der Erklärung, sie sei bereit, zu ihm zu kommen, wenn er es wünsche. Kaum hatte sich die Amme mit ihren Briefen entfernt, da kam das Dienstmädchen, meine Schülerin, die wohl an der Tür gelauscht hatte. „Er ist gar nicht ihr Vetter“, flüsterte sie mir empört zu. „Was ist er denn?“ fragte ich. „Nichts, so ...“ Das gab mir Anlaß, über die Kompliziertheit der menschlichen Beziehungen nachzudenken.
Beim Mittagessen sagte mir Fanni Solomonowna mit besonderem Lächeln: „Na, du Schriftsteller, möchtest du nicht noch etwas Suppe?“ „Was denn?“ fragte ich beunruhigt. „Nichts Besonderes. Du hast doch für die Amme die Briefe verfaßt, bist also ein SchriftsteIler ... Wie hast du dort gesagt: „der Stern auf dem dunklen Horizont?“ Ein leibhaftiger Dichter!“ Sie brach in Lachen aus.
„Die Briefe sind gut geschrieben“, beruhigte mich Moissej Filippowitsch, „aber weißt du, schreibe für sie keine Briefe mehr; das soll Fanni lieber selbst machen.“
Aber die Verwirrungen der Kehrseite des Lebens, die weder die Familie noch die Schule anerkennen wollten, hörten damit nicht auf zu existieren und erwiesen sich als so allmächtig und lebendig, daß sie die Aufmerksamkeit des zehnjährigen Knaben errangen. Man ließ sie weder durch das Schulzimmer noch durch den Haupteingang herein. Sie nahmen den Weg über die Küche.
Die zehnprozentige Norm für die Zulassung von Juden in die staatlichen Schulen war im Jahre 1887 eingeführt worden. Ins Gymnasium zu kommen war fast aussichtslos: dafür waren Protektionen oder Bestechungsgelder erforderlich. Die Realschulen unterschieden sich von den Gymnasien durch das Fehlen der klassischen Sprachen und durch ein größeres Pensum Mathematik, Naturwissenschaften und neue Sprachen. Die „Norm“ galt auch für die Realschulen. Aber der Ansturm war hier geringer und die Chancen folglich größer. Zeitschriften und Zeitungen führten lange Polemiken über klassische oder Realbildung. Die Konservativen vertraten den Standpunkt, daß der Klassizismus die Disziplin entwickle, richtiger gesagt, sie hofften, ein Bürger, der in seiner Kindheit die griechische Büffelei überstehen mußte, würde in seinem späteren Leben das zaristische Regime geduldiger ertragen. Die Liberalen, die den Klassizismus zwar nicht verwarfen, weil er ja ein Milchbruder des Liberalismus ist und weil beide ihren Ursprung auf die Renaissance zurückführen, förderten dagegen gleichzeitig die Realbildung. Zu der Zeit, als ich in eine Lehranstalt kam, verstummten diese Auseinandersetzungen, da durch ein besonderes Zirkular verboten worden war, über die Vorzüge der verschiedenen Bildungsarten zu diskutieren.
Im Herbst legte ich die Prüfung für die erste Klasse an der Realschule des hl. Paulus ab. Die Aufnahmeprüfung bestand ich mittelmäßig: im Russischen bekam ich eine Drei, im Rechnen eine Vier. [1] Das genügte nicht; denn die „Norm“ führte zu einer strengen Auslese, die durch Bestechungen noch erschwert war. Es wurde deshalb beschlossen, mich in die Vorschule zu schicken, die der staatlichen Lehranstalt als Privatschule angegliedert war, aus der Juden zwar ebenfalls nur unter Einhaltung der „Norm“ versetzt wurden, aber doch mit einem Vorrang vor den Externen.
Die Realschule des hl. Paulus war ihrem Ursprung nach eine deutsche Lehranstalt. Sie war aus der lutherischen Kirchengemeinde entstanden und wurde von den zahlreichen in Odessa und überhaupt im südlichen Bezirk wohnenden Deutschen besucht. Obwohl die Anstalt staatlich anerkannt war, mußte man, da sie nur sechs Klassen hatte, die siebente Klasse in einer anderen Realschule durchmachen, um in eine höhere Lehranstalt zu kommen: man setzte wahrscheinlich voraus, daß man so im letzten Jahre die Überfülle deutschen Geistes austreiben könnte. Im übrigen war dieser Geist in der Schule des hl. Paulus ohnehin von Jahr zu Jahr immer mehr im Schwinden begriffen Die Zahl der deutschen Schüler betrug weniger als die Hälfte, und aus der Schulleitung wurden die Deutschen sorgfältigst verdrängt.
Der erste Schultag war ein Tag der Jammerns, dann aber folgten Tage der Freude. Ich machte den ersten Schulgang in einer nagelneuen Uniform, in einer neuen Mütze mit gelber Einfassung und einer wundervollen Metallkokarde, die zwischen zwei Kleeblättern die Initialen der Schule zeigte. Auf dem Rücken trug ich einen neuen Ranzen, darin lagen neue Schulbücher in glänzenden Umschlägen und ein schönes Pennal mit frisch gespitztem Bleistift, neuem Federhalter und Radiergummi. Begeistert trug ich die prächtige Last, durch die lange Uspenskajastraße und war froh, daß der Schulweg nicht kurz war. Mir schien, als schauten alle Vorübergehenden staunend, manche sogar mit Neid, auf meine wundervolle Ausrüstung. Vertrauensvoll und neugierig betrachtete ich die Gesichter der mir Begegnenden. Aber ganz unerwartet blieb ein langer, schmächtiger Junge von etwa dreizehn Jahren (wahrscheinlich aus einer Werkstatt, denn er trug etwas aus Eisen in den Händen) zwei Schritte vor dem so prachtvoll ausgerüsteten kleinen Realschüler stehen, warf den Kopf zurück, hüstelte laut, spuckte mit vollem Munde auf die Achsel meiner neuen Bluse, sah mich verachtungsvoll an und ging ohne ein Wort zu sagen weiter. Was trieb ihn zu dieser Tat? Heute ist es mir klar. Der vom Schicksal umgangene Junge in zerrissenem Hemd, in verschossenen Hosen, barfüßig, der die schmutzigen Aufträge seiner Herren ausführen mußte, während deren Söhnchen in neuen, schönen Uniformen herumstolzierten – hat an mir seinen sozialen Protest ausgelassen. Aber damals war mir gar nicht so zu Mute, daß ich Verallgemeinerungen hätte anstellen können. Ich rieb mir lange die Schulter mit Kastanienblättern, kochte in ohnmächtiger Wut und legte den Rest des Weges in verdüsterter Stimmung zurück.
Der zweite Schlag erwartete mich im Schulhof. „Pjotr Pawlowitsch, dort ist noch einer“, schrien die Schüler, „auch in Uniform, der armselige Vorschüler.“ Was bedeutet das? Es stellte sich folgendes heraus: da die Vorschule als Privatschule galt, war es den Schülern strengstens verboten, Uniform zu tragen. Pjotr Pawlowitsch, ein Aufseher mit einem schwarzen Bart, setzte mir auseinander, daß die Kokarde, die gelbe Einfassung, die Messingschnalle entfernt, die Knöpfe mit den Adlern durch einfache Hornknöpfe ersetzt werden müßten. So traf mich das zweite Unglück!
An diesem Tage war in der Schule kein Unterricht. Die deutschen Schüler und viele andere versammelten sich in der luiherischen Kirche, deren Namen die Schule trug. Ich geriet gleich in die Obhut eines stämmigen Knaben, der in der Vorschule sitzengeblieben war, die Ordnung gut kannte und mich nun in der Kirche neben sich auf die Bank setzte. Ich hörte zum erstenmal die Orgel: ihre Töne erfüllten mich mit Schauder. Dann trat ein großer glattrasierter Mahn mit weißen Aufschlägen heraus, und seine Stimme rollte so durch die Kirche, daß eine Luftwelle der anderen nachjagte. Die unbekannte Sprache verzehnfachte die Wucht der Predigt „Was spricht er?“ fragte ich voller Aufregung. „Das ist Pastor Binnemann selbst“, erklärte mir Karlson, „er ist ein sehr kluger Mann, der klügste in ganz Odessa. „Und was sagt er?“ „Nun, was sich so gehört“, sagte mit schon kleinerem Enthusiasmus Karlson, „daß man ein guter Schüler sein, fleißig lernen und mit den Kameraden in Frieden leben muß ...“ Dieser breitbackige Verehrer Binnemanns erwies sich als ein hartnäckiger Faulenzer und Prügelheld, der in den Pausen nach rechts und links blaue Flecke aus-teilte.
Der zweite Tag brachte mir Trost. lch hatte mich beim Rechnen hervorgetan und die an der Klassentafel vorgeschriebenen Buchstäben gut abgeschrieben. Der Lehrer, Rudenko, lobte mich vor der ganzen Klasse und gab mir zwei Fünfer. Das versöhnte mich mit den Hornknöpfen. Deutsch unterrichtete in den unteren Klassen der Direktor selbst, Christian Christianowitsch Schwannebach. Das war ein geschniegelter Bürokrat, der nur dadurch diesen hohen Posten erreicht hatte, weil er Binnemanns Schwiegersohn war. Christian Christianowitsch begann damit, daß er die Hände aller Schüler besichtigte und meine in sauberem Zustande fand. Dann, als ich von der Tafel alles genau kopiert hatte, lobte er mich und gab mir eine Fünf. So kehrte ich am zweiten Tag mit drei Fünfern beladen aus der Schule zurück. Ich trug sie im Ranzen wie einen kostbaren Schatz, ich ging nicht, ich rannte durch die Pokrowskigasse, gejagt von der Gier nach Familienanerkennung.
So wurde ich Schüler. Ich stand früh auf, trank hastig meinen Morgentee, steckte das in Papier eingewickelte Frühstück in die Manteltasche und lief in die Schule, um das Morgengebet nicht zu versäumen. Ich verspätete mich niemals. Ich saß ruhig auf meiner Bank, hörte aufmerksam zu und schrieb sorgfältig von der Tafel ab. Zu Haus bereitete ich fleißig meine Aufgaben vor. Ging zur festgelegten Stunde schlafen, um am nächsten Morgen wieder hastig meinen Tee zu trinken, wieder in die Schule zu laufen, in der Angst, das Morgengebet zu versäumen. Ich wurde pünktlich versetzt. Begegnete ich auf der Straße einem Lehrer, grüßte ich höflichst.
Der Prozentsatz der Sonderlinge unter den Menschen ist groß, aber besonders groß ist er unter Lehrern. In der Realschule des hl. Paulus war das Niveau der Lehrer vielleicht höher als üblich. Die Schule hatte einen guten Ruf, und nicht ohne Grund: das Regime war streng und stellte hohe Anförderungen, die Zügel wurden von Jahr zu Jahr strammer angezogen, besonders nachdem die Macht des Direktors von Schwannebach auf Nikolai Antonowitsch Kaminski übergegangen war. Der war Physiker von Fach, Menschenhasser aus Temperament. Nie sah er einen Menschen, mit dem er sprach, an, bewegte sich lautlos auf Gummisohlen durch Korridore und Klassen, als Stimme diente ihm ein dünnes, heiseres Falsett, das, wenn es sich hob, Schrecken einflößte. Äußerlich schien Kaminski ruhig, aber innerlich kam er nie aus dem Zustand einer abgestandenen Gereiztheit heraus. Selbst sein Benehmen gegen die besten Schüler war der Zustand bewaffneter Neutralität So auch sein Verhalten zu mir.
Als Physiker hatte Kaminski einen eigenen Apparat erfunden, um das Boyle-Mariotte-Gesetz von der Elastizität der Gase nachzuweisen. Bei der Demonstrierung des Apparates fanden sich jedesmal zwei oder drei Schüler, die im gut berechneten Flüsterton zueinander sagten: „Ein feines Ding, was!“ Jemand erhob sich und fragte unsicher: „Wer ist der Erfinder dieses Apparates?“ Nachlässig antwortete Kaminski mit heiserem Falsett: „Ich habe ihn gebaut!“ Alle sahen sich an, und die schlechtesten Schüler stießen möglichst laute Seufzer der Bewunderung aus.
Als Schwannebach im Interesse der Russifizierung dem Kaminski Platz machen mußte, wurde Anton Wassiljewitsch Kryschanowski, der Lehrer für Literatur, Inspektor. Er war ein rotbärtiger Schlaukopf, ehemaliger Seminarist, großer Liebhaber von Geschenken, mit einem kaum merklichen Anflug von Liberalismus, und verstand es sehr gut, seine Nebengedanken durch gespielte Harmlosigkeit zu verdecken. Als er die Berufung zum Inspektor bekam, wurde er sofort strenger und konservativer Kryschanowski unterrichtete Russisch von der untersten Klasse an. Mich zeichnete er für meine guten Kenntnisse und für meine Liebe zur Sprache aus. Meine schriftlichen Arbeiten pflegte er regelmäßig der Klasse laut vorzulesen und mir eine Fünf mit einem Lob zu geben.
Der Mathematiker Jurtschenko war ein stämmiger Phlegmatiker, hinterhältig, mit dem Spitznamen Rollkutscher. Jurtschenko duzte alle Schüler, die Kleinen sowohl wie die Primaner, und war in seinen Ausdrücken nicht wählerisch. Durch seine beherrschte Grobheit flößte er einige Achtung ein, die aber mit der Zeit, als die Schüler erfahren hatten, daß er Schmiergelder nahm, viel geringer wurde. Auf verschiedene Weise waren auch die übrigen Lehrer bestechlich. Kam ein auswärtiger Schüler nicht vorwärts, dann gab man ihn in Pension zu dem Lehrer, von dem bei der Versetzung das meiste abhing. War der Schüler aus Odessa, so nahm er bei dem Lehrer, von dem ihm die größten Gefahren drohten, für teures Geld Privatstunden.
Der zweite Mathematiklehrer, Slotschanski, war der direkte Gegensatz zu Jurtschenko: mager, mit stechendem Schnurrbart auf dem grünlichgelben Gesicht; mit stets trüben Augen, müden Bewegungen, als wäre er soeben erwacht, hustete und spuckte er in der Klasse herum. Von ihm war bekannt, daß er einen unglücklichen Roman hatte, bummelte und trank. Er war kein schlechter Mathematiker, interessierte sich jedoch wenig für Schüler, Unterricht und Mathematik an sich. Einige Jahre später durchschnitt er sich die Kehle mit einem Rasiermesser.
Mit beiden Mathematiklehrern waren meine Beziehungen reibungslos, beide waren mir gewogen, da Mathematik meine starke Seite war. Als ich die letzten Klassen besuchte, hatte ich sogar die Absicht, reine Mathematik zu studieren.
Geschichte unterrichtete Ljubimow, ein großer, würdig aussehender Mensch mit goldener Brille auf einer kleinen Nase und einem männlich jugendlichen Vollbärtchen um das runde Gesicht. Nur dann, wenn er lächelte, wurde selbst uns Jungens offenbar, daß das würdige Aussehen dieses Menschen nur vorgetäuscht war, daß er willenlos schüchtern, irgendwie innerlich zerrissen und in steter Angst lebte, man wisse von ihm etwas Schlechtes oder könnte es erfahren.
In die Geschichte arbeitete ich mich mit steigendem, aber sehr verschwommenem Interesse hinein. Ich erweiterte allmählich den Kreis meiner Studien, indem ich die kümmerlichen offiziellen Lehrbücher liegen ließ und zu den Universitätshilfsquellen oder zu den dicken Bänden Schlossers griff. In meiner Hingerissenheit für Geschichte war zweifellos ein Element des Sportes enthalten: ich lernte, um den Lehrer hie und da in eine schwierige Lage zu versetzen, eine Menge überflüssiger Namen und Details, die nur das Gedächtnis belasteten. Den Unterricht zu leiten, war Ljubimow nicht imstande. Während der Stunden konnte er plötzlich auffahren, wobei er sich wutend umsah, als suche er in dem Geflüster ein ihn beleidigendes Wort. Die Klasse verstummte dann lauernd. Ljubimow unterrichtete noch in einem Mädchengymnasium, und auch dort begann man bald, seine seltsamkeiten zu entdecken. Es endete damit, daß Ljubimow in einem Anfall von Wahnsinn sich an einem Fensterkreuz erhängte.
Den Geographielehrer Schukowski fürchtete man wie das Feuer. Er ließ die Schüler automatisch wie eine Maschine durchfallen. Während der Stunden forderte er undurchführbare Stille in der Klasse. Nicht selten unterbrach er die Antwort eines Schülers und spitzte die Ohren wie ein Raubtier, das Gefahr wittert. Alle wußten, was das zu bedeuten hatte: man durfte sich nicht rühren, tunlichst nicht atmen. Soweit ich mich erinnere, hatte Schukowski nur ein einziges Mal die Zügel gelockert; es war, wie ich glaube, an als seinem Geburtstag. Einer der Schüler hatte ihm etwas Halbprivates, das heißt nicht direkt auf den Unterricht Bezügliches mitgeteilt. Schukowski ließ es durchgehen. Das war an sich schon ein Ereignis. Da erhob sich gleich Wacker, ein Kriecher, und sagte mit einschmeichelndem Lächeln: „Es wird bei uns von allen behauptet, daß Ljubimow dem Schukowski das Wasser nicht reichen kann.“ Schukowski wurde plötzlich ganz Spannung. „Was ist los? Setzen Sie sich!“ Es entstand auf einmal jene besondere Stille, die nur in der Geographiestunde möglich war. Wacker setzte sich, wie unter einem Hieb. Von allen Seiten wandten sich ihm vorwurfsvolle oder angewiderte Gesichter zu. „Bei Gott, das ist wahr“, sagte noch flüsternd Wacker; er gab die Hoffnung nicht auf, das Herz des Geographen zu rühren, bei dem er schlecht angeschrieben war.
Der eigentliche Lehrer der deutschen Sprache war Struve, ein Riese von einem Deutschen, mit großem Kopf und einem Bart, der ihm bis an den Gürtel reichte. Auf kleinen, fast kindlichen Füßen watschelte sein schwerer Körper, der ein Gefäß der Gutmütigkeit schien. Struve war der ehrlichste Mann, litt darunter, daß seine Schüler keine Fortschritte machten, regte sich auf, versuchte immer wieder gut zuzureden. Erlebte schmerzlich jede Zwei – zu einer Eins hatte er niemals das Herz –, war bemüht, keinen sitzenbleiben zu lassen. Er hatte den Neffen seiner Köchin in der Anstalt untergebracht, den vorhin erwähnten Wacker, der sich allerdings als ein wenig begabter und noch weniger anziehender Knabe entpuppte. Struve war eine etwas komische, aber im ganzen doch sympathische Gestalt.
Französisch unterrichtete Gustav Samojlowitsch Burnand, ein Schweizer, ein hagerer Mensch mit einem platten, wie aus der Presse gekommenen Profil, mit einer Glatze, dünnen, blauen und bösen Lippen, einer spitzen Nase und einer geheimnisvollen großen Narbe in der Form eines X auf der Stirn. Niemand konnte Burnand ausstehen, und es hatte auch seinen Grund. An einer Verdauungsstörung leidend, kaute er in der Klasse ununterbrochen irgendwelche Bonbons und sah in jedem Schüler einen persönlichen Feind. Die Narbe auf seiner Stirn war die ewige Quelle von allerhand Vermutungen und Hypothesen. Man behauptete, daß Gustav sich in seiner Jugend duelliert hatte, wobei ihm der Gegner mit dem Rapier ein Kreuz auf die Stirn malte. Nach einigen Monaten wurde diese Version widerlegt. Es sei kein Duell, sondern ein chirurgischer Eingriff gewesen, bei dem ein Teil der Stirn zur Ausbesserung der Nase Verwendung gefunden hatte. Die Schüler betrachteten aufmerksam die Nase des Franzosen, und die mutigeren behaupteten, sie könnten deutlich die Spuren der Naht erkennen. Ruhigere Geister neigten dazu, des Rätsels Lösung in einem Unfall während seiner Kindheit zu suchen: er sei eine Treppe hinuntergefallen und habe sich verletzt. Diese Erklärung wurde jedoch als zu prosaisch verworfen. Es war auch unmöglich, sich Burnand als Kind vorzustellen.
Der oberste Schuldiener, der in unserem Leben keine kleine Rolle spielte, war der unerschütterliche Deutsche Anton, mit einem sehr imponierenden grauen Backenbart. Beim Zuspätkommen, Nachsitzen, Karzer übte Anton scheinbar nur eine technische, in Wirklichkeit aber sehr große Macht aus, so daß man mit ihm freundschaftliche Beziehungen unterhalten mußte. Ich verhielt mich allerdings ziemlich gleichgültig gegen ihn – wie auch er gegen mich –, da ich nicht zu seinen Klienten zählte: ich kam pünktlich in die Schule, mein Ranzen war in Ordnung, die Schülerkarte ruhte sicher in der linken Tasche meiner Unif6rmjacke. Aber Dutzende von Schülern gerieten täglich in Abhängigkeit von Anton und erkauften sich auf verschiedenen Wegen sein Wohlwollen. Er erschien auf jeden Fall als wichtiger Pfeile; der Realschule zum hl. Paulus. Wie groß war unsere Verwunderung, als wir nach einer Rückkehr aus den Ferien erfuhren, daß der alte Anton auf die achtzehnjährige Tochter eines anderen Dieners aus Eifersucht geschossen hatte und jetzt im Gefängnis saß.
So drangen in das gleichmäßige Dasein der Schule und des ganzen damaligen unterdrückten, nach innen geflüchteten öffentlichen Lebens einzelne persönliche Katastrophen, die jedesmal einen übertriebenen Eindruck hervorriefen, wie der Aufschrei in einem leeren Gewölbe.
Zu der Kirche des hl. Paulus gehörte ein Waisenhaus; diesem war eine Ecke unseres Schulhofes zugewiesen. In blauen, verwaschenen Leinenkitteln erschienen die Jungens mit freudlosen Gesichtern im Hofe, gingen traurig in ihrer Ecke umher und stiegen düster die Treppen zum Waisenhaus wieder hinauf. Obwohl der Hof gemeinsam und die Waisenecke nicht eingezäunt war, bildeten die Realschüler und die „Zöglinge“, wie sie hießen, zwei voneinander scharf getrennte Welten. Ich versuchte, mit den Knaben in den blauen Leinenkitteln zu sprechen; aber sie antworteten finster, unwillig und beeilten sich, davonzugehen: es war ihnen streng untersagt, sich in die Angelegenheiten der Realschüler zu mischen. So ging ich sieben Jahre lang im Hofe herum, ohne auch nur von einem der Waisen den Namen zu kennen. Der Pastor Binnemann erteilte ihnen bei Beginn des neuen Jahres sicherlich auf eine gekürzte Weise den Segen.
In dem Teil des Hofes, der an die Waisenhausecke stieß, standen seltsame Turngeräte: Ringe, Stangen, vertikale und abschüssige Leitern, Trapeze, Barren und so weiter. Bald nach dem Eintritt in die Anstalt wollte ich eine Übung wiederholen, die ein Junge aus dem Waisenhause vor meinen Augen gemacht hatte. Ich bestieg die vertikale Leiter, klammerte mich mit den Fußspitzen an den Oberbalken, hing mit dem Kopf nach unten, faßte mit den Händen die Sprosse der Leiter möglichst tief, stieß mich mit den Fußspitzen ab, um, in der Luft einen Bogen von 180 Grad beschreibend, nach einem elastischen Sprung auf der Erde stehenzubleiben. Aber ich ließ die Sprosse nicht rechtzeitig los und schlug mit dem ganzen Körper gegen die Leiter. Die Brust wurde mir wie mit Zangen zusammengedrückt, der Atem stockte, ich wand mich wie ein Wurm auf der Erde, faßte die herumstehenden Knaben bei den Beinen und verlor das Bewußtsein. Danach lernte ich Vorsicht beim Turnen.
Ich kannte fast nichts vom Leben der Straße, der Plätze; Sport und Zerstreuungen in freier Luft fehlten fast gänzlich. Das holte ich während der Ferien im Dorfe nach. Die Stadt schien mir zum Lernen und Lesen geschaffen. Die Straßenprügeleien der Knaben kamen mir schändlich vor, obwohl es niemals an Anlässen fehlte.
Die Gymnasiasten wurden wegen ihrer silbern glänzenden Knöpfe und Kokarden Heringe genannt, die kupfergelben Realschüler hießen Bücklinge. Als ich aus der Schule kommend durch die Jamskajastraße ging, verfolgte mich einmal ein langer Gymnasiast hartnäckig mit der Frage: „Was kosten bei Ihnen Bücklinge?“ Da, er keine Antwort bekam, stieß er mich mit der Schulter an. „Was wünschen Sie von mir?“ sagte ich mit keuchender Höflichkeit. Der Gymnasiast blieb verdutzt stehen, überlegte einen Augenblick und fragte:
„Haben Sie eine Schleuder?“
„Eine Schleuder?“ wiederholte ich, „was ist das?“
Der lange Gymnasiast nahm schweigend aus der Tasche ein kleines Gerät heraus: eine Holzgabel mit einem Gummi und einem Stück Blei. „Ich schieße mir damit vom Fenster aus die Tauben vom Dach und brate sie dann.“ Ich sah meinen neuen Bekannten verwundert an. Eine solche Beschäftigung schien mir nicht uninteressant, aber doch innerhalb der Stadt unangebracht und sogar unanständig. Viele der Jungens fuhren mit einem Boot aufs Meer und fingen Fische mit einer Angel. Ich kannte solche Vergnügungen nicht. Seltsamerweise hatte das Meer zu dieser Zeit in meinem Leben überhaupt keine Rolle gespielt, obwohl ich sieben Jahre an seinem Ufer verlebte. Während dieser ganzen Zeit bin ich nicht Boot gefahren, habe auch nicht geangelt, begegnete dem Meer überhaupt nur, wenn ich aus der Stadt ins Dorf und umgekehrt in die Stadt fuhr. Als Karlson montags mit sonnenverbrannter Nase kam, an der sich die Haut schälte, und prahlte, wie er gestern geangelt habe, schienen mir diese Freuden sehr fernliegend und ohne Beziehung zu mir. Damals war in mir der leidenschaftliche Jäger und Fischer noch nicht erwacht.
In der Vorschule hatte ich mich mit Kostja R., dem Sohn eines Arztes, sehr angefreundet. Kostja war ein Jahr jünger als ich, kleiner von Wuchs, still, aber ein Schelm und Spitzbube, mit scharfen Äuglein. Er kannte die Stadt gut und war mir dadurch überlegen. Durch Fleiß zeichnete er sich nicht aus, während ich vom ersten Schultage an stets nur die besten Noten erhielt. Zu Hause erzählte Kostja viel von seinem neuen Freund. Es endete damit, daß seine Mutter, eine magere, kleine Frau, zu Fanni Solomonowna mit der Bitte kam, die Knaben zusammen die Schulaufgaben machen zu lassen. Nach einer Beratung, zu der auch ich hinzugezogen wurde, beschloß man, zuzusagen. Zwei bis drei Jahre saßen wir auf der gleichen Bank, bis Kostja sitzenblieb und wir uns trennten. Wir hielten allerdings unsere Beziehungen auch noch später aufrecht.
Kostja hatte eine Schwester, sie war Gymnasiastin und zwei Jahre älter als ich. Die Schwester hatte Freundinnen. Die Freundinnen Brüder. Die Schwestern lernten Musik, die Brüder machten den Freundinnen ihrer Schwestern den Hof. An Geburtstagen luden die Eltern Besuch ein. Es bildete sich eine kleine Welt mit Sympathien, Nebenbuhlereien, Walzern, Spielen, Neid und Feindschaft. Der Mittelpunkt dieser Welt war die Familie des reichen Kaufmanns A., die im selben Hause wohnte wie die Familie Kostjas, sogar auf derselben Etage, so daß die Wohnungen im Hof auf dieselbe Hängegalerie gingen, wo zufällige und nicht zufällige Begegnungen stattfanden. In der Familie A. herrschte eine ganz andere Atmosphäre als die, die ich im Hause Spenzer gewöhnt war. Dort verkehrten immer viele Gymnasiasten und Gymnasiastinnen und flirteten unter dem wohlwollenden Lächeln der Frau A. In den Unterhaltungen war oft von Liebe die Rede. Ich zeigte für diese Frage stets die größte Verachtung, übrigens eine recht heuchlerische. „Wenn Sie sich einmal verlieben sollten“, sagte mir belehrend die vierzehnjährige Schülerin, die ältere der Schwestern A., „so müssen Sie es mir sagen.“ „Da ich nichts dabei riskiere, so kann ich es versprechen“, antwortete ich mit der hochmütigen Würde eines Menschen, der sich seines Wertes bewußt ist: ich war schon in der zweiten Klasse. Nach etwa zwei Wochen veranstalteten die Mädchen eine Vorführung lebender Bilder. Die jüngere der Schwestern stellte vor dem Hintergrunde eines großen schwarzen Tuches, das mit Sternen aus Silberpapier besät war, mit hocherhobenem Arm die Nacht dar. „Sehen Sie, wie hübsch sie ist“, sagte die ältere Schwester, mich anstoßend. Ich schaute hin, stimmte innerlich zu und beschloß plötzlich: die Stunde ist gekommen, um das Versprechen zu halten. Bald unterwarf mich die ältere Schwester einem Verhör: „Haben Sie mir nichts zu sagen ?“ Mit gesenkten Augen antwortete ich: „Doch.“
„Wer ist sie? ...“
Aber meine Zunge wollte mir nicht gehorchen. Das Mädchen schlug mir vor, den ersten Buchstaben zu nennen. Das war leichter. Die ältere Schwester hieß Anna, die jüngere Berta. Ich nannte den zweiten Buchstaben des Alphabets, nicht den ersten.
„Be?“ wiederholte sie offensichtlich enttäuscht; damit brach das Gespräch ab.
Am nächsten Tag ging ich, die Aufgaben zu machen, zu Kostja, durch den langen Korridor der dritten Etage wie immer vom Hofe aus. Schon auf der Treppe bemerkte ich, daß beide Schwestern mit der Mutter vor ihrer Tür auf der Galerie saßen. Als mich nur noch einige Schritte von der weiblichen Gruppe trennten, spürte ich ihre ironischen Blicke wie stechende Nadeln, die mich durchbohrten. Die Jüngere lächelte nicht, im Gegenteil, sie wandte die Augen mit dem Ausdruck schrecklicher Gleichgültigkeit ab. Das hatte mich davon überzeugt, daß ich verraten worden war. Die Mutter und die ältere Tochter begrüßten mich mit Mienen die sagen sollten: „Warte nur, Kerl, jetzt wissen wir, was sich unter diesem Ernst verbirgt.“ Die Jüngere streckte mir die Hand wie ein Brettchen hin, ohne mich anzusehen und ohne meinen Handdruck zu erwidern. Mir stand nun bevor, ein Stück der Galerie entlang weiterzugehen, einzubiegen und vor den Augen meiner Quälgeister die lange Querseite zu durchschreiten. Die ganze Zeit fühlte ich die vernichtenden Nadeln in meinem Rücken. Nach diesem unerhörten Vcrrat beschloß ich, mit diesem treubrüchigen Volk völlig zu brechen, sie nicht mehr zu besuchen, sie zu vergessen, sie für immer aus meinem Herzen zu reißen. Die bald eintretenden Ferien erleichterten meinen Vorsatz.
Ganz unerwartet für mich stellte sich heraus, daß ich kurzsichtig war. Man ging mit mir zu einem Augenarzt, und dieser verschrieb mir eine Brille. Man kann nicht behaupten, daß mich das besonders betrübte: Die Brille verlieh mir immerhin ein bedeutendes Aussehen. Nicht ohne Vergnügen kosrete ich im voraus den Eindruck aus, den mein Erscheinen mit der Brille in Janowka hervorrufen würde. Für den Vater aber war meine Brille ein unerträglicher Schlag. Er betrachtete das als Verstellung und Großtuerei und verlangte kategorisch, daß ich die Brille abnähme. Vergeblich versuchte ich, ihn zu überzeugen, daß ich in der Klasse die Buchstaben auf der Tafel nicht unterscheiden und auf der Straße die Schilder nicht lesen könne. Die Brille durfte ich in Janowka nur heimlich tragen.
lmmerhin war ich im Dorfe viel mutiger, schwungvoller und unternehmender. Ich warf gleichsam die Disziplin der Stadt von meinen Schultern ab. Ich ritt häufig morgens allein nach Bobrinez und kehrte am Abend zurück. Das waren fünfzig Kilometer. In Bobrinez trug ich auf der Straße offen meine Brille und zweifelte an dem Eindruck nicht. In Bobrinez gab es nur eine städtische Knabenschule. Das nächste Gymnasium war in Jelissawetgrad, fünfzig Kilometer entfernt. Aber in Bobrinez war ein vierklassiges Mädchengymnasium. Die Partner der Gymnasiastinnen waren die Schüler der Mittelschule. Im Sommer jedoch veränderte sich das Bild. Aus Jelissawetgrad kehrten die Gymnasiasten und die Realschüler zurück und verdrängten durch die Pracht ihrer Uniformen und die Gewähltheit ihrer Manieren die heimischen Schüler. Es herrschte ein grausamer Antagonismus. Die beleidigten Bobrinezer Schüler taten sich zu kleinen Kampfgruppen zusammen und wandten gelegentlich nicht nur Stöcke und Steine, sondern auch Messer an. lch saß einmal, ohne an etwas Böses zu denken, auf dem Ast eines Maulbeerbaumes im Garten einer bekannten Familie und aß Beeren, als mich jemand über den Zaun mit einem tüchtigen Stein an den Kopf traf. Das war eine kleine Episode aus einem langen und nicht unblutigen Kampfe, der nur unterbrochen wurde, wenn die Privilegierten nach den Ferien wieder abreisten, In Jelissawetgrad verhielt es sich anders: dort beherrschten die Gymnasiasten und Realschüler die Straßen und die Herzen das ganze Lehrjahr hindurch. Aber im Sommer kehrten aus Charkow, Odessa und aus den entfernteren Universitätsstädten die Studenten zurück und verdrängten die Gymnasiasten und die Realschüler. Der Antagonismus war auch hier stark. Der Treubruch der Gymnasiastinnen war unbeschreiblich. Der Kampf aber wurde nach einer allgemeinen Regel nur mit geistigem Rüstzeug geführt.
Im Dorfe spielte ich Krocket und Kegel, leitete die Pfänderspiele und sagte den jungen Mädchen Grobheiten. Hier lernte ich auch das Zweirad fahren, das Iwan Wassiljewitsch konstruiert hatte. Nur deshalb wagte ich mich später in Odessa auf ein Treck hinauf. Mehr noch, im Dorfe kutschierte ich selbständig einen vor einen Traberwagen gespannten Vollbluthengst. Zu jener Zeit gab es in Janowka schon gute Luxuspferde. Ich machte Onkel Brodski, dem Bierbrauer, den Vorschlag, ihn auszufahren. „Wirst du mich aber auch nicht umwerfen?“ fragt er, der seinem ganzen Charakter nach nicht zu waghalsigen Unternehmungen neigt. „Aber Onkel“, sage ich in so entrüstetem Tone, daß Onkel, zwar mit einem Seufzer, aber ohne zu murren, hinter mir auf dem Wagen Platz nimmt Ich fahre über den Graben, an der Mühle vorbei, auf den Weg, den soeben der Sommerregen glattgepreßt hat. Der braune Hengst möchte in Schwung kommen, es ärgert ihn, daß man bergauf fährt, und er versucht gleich durchzugehen. Ich ziehe die Zügel stramm, stemme mich mit den Füßen gegen die Deichseln und hebe mich gerade so viel hoch, daß der Onkel nicht gewahr wird, wie ich an der Leine hänge. Aber der Hengst hat seinen Ehrgeiz. Er ist um mehr als das Dreifache jünger als ich, er ist vier Jahre alt. Der Braune zieht den Wagen gereizt wie eine Katze, die von dem an ihrem Schwanz festgebundenen Blech wegrennen möchte. Ich fühle, daß der Onkel hinter meinem Rücken das Rauchen eingestellt hat, schneller atmet und sich vorbereitet, mir ein Ultimatum zu stellen. Ich setze mich fester, lasse die Zügel nach und schnalze, um mir mehr Ansehen zu geben, mit der Zunge im Takt der Milz, die auf dem Braunen herrlich spielt „Keinen Unsinn machen, Kleiner“, sage ich gönnerhaft zu dem Hengst, als er Miene macht, in Galopp überzugehen. Ich spreize die Ellenbogen auseinander. Ich fühle, wie der Onkel sich beruhigt und wieder an seiner Zigarette zieht. Das Spiel ist gewonnen, obwohl mein Herz wie die Milz des Braunen hüpft.
In die Stadt zurückgekehrt, stecke ich den Kopf wieder unter das Joch der Disziplin. Ich tue es ohne große Mühe. Spiele und Sport machen den Büchern und zum Teil dem Theater Platz. Ich unterwerfe mich der Stadt, fast ohne mit ihr in Berührung zu kommen. Das Leben der Stadt geht an mir unmerklich vorbei. Übrigens nicht nur an mir. Auch die erwachsenen Bewohner steckten den Kopf nicht weit aus dem Fenster hinaus.
Odessa war vielleicht die berüchtigste Polizeistadt im Polizeirußland. Die Hauptperson war der Stadthauptmann, ein früherer Konteradmiral Selenoj II. Die unbeschränkte Macht vereinigte sich bei ihm mit einem zügellosen Temperament. Über ihn waren unzählige Anekdoten im Umlauf, die die Bewohner Odessas einander zuflüsterten. Im Auslande erschien in jenen Jahren in einer freien Druckerei ein ganzes Sammelbuch über die Heldentaten des Konteradmirals Selenoj II. Ich habe ihn nur einmal gesehen; und auch nur seinen Rücken. Aber das hatte mir genügt. Der Stadthauptmann stand in voller Größe in seinem Wagen, stieß mit heiserer Stimme Schimpfworte über die ganze Straße und drohte mit der Faust. Vor ihm standen Polizisten mit den Händen an den Mützen und Hausportiers mit den Mützen in den Händen stramm, während hinter den Gardinen verängstigte Gesichter schauten. Ich zog die Riemen meines Ranzens strammer und ging mit beschleunigten Schritten nach Hause.
Will ich in meinem Gedächtnis ein Bild des offiziellen Rußlands aus den Jahren meiner frühen Jugend mir zurückrufen, dann sehe ich den Rücken des Stadthauptmanns, seine ausgestreckte Faust und höre die heiseren Schimpfworte, die man in Lexika nicht anzuführen pflegt.
1. Im alten Rußland galt die Fünf als die beste, die Eins als die schlechteste Note. Auch zählten die Schulklassen von der ersten aufwärts bis zur achten.
Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008