Leo Trotzki

 

Mein Leben


Nachbarn, erste Schule

Eine Werst oder noch weniger von Janowka entfernt befand sich das Gut der Dembowskis. Der Vater hatte von ihnen Land gepachtet und war mit ihnen durch langjährige geschäftliche Beziehungen verbunden. Die Besitzerin des Gutes war Feodoßja Antonowna, eine alte polnische Gutsbesitzerin, eine frühere Gouvernante. Nach dem Tode ihres ersten Mannes, der reich gewesen war, erheiratete sie sich ihren Verwalter, Kasimir Antonowitsch, der um zwanzig Jahre jünger als sie war. Feodoßja Antonowna lebte schon seit langem nicht mehr mit ihrem zweiten Mann, der aber das Gut in alter Weise weiter verwaltete. Kasimir Antonowitsch war ein hochgewachsener, lustiger, lärmender Pole mit einem großen Schnurrbart. Er hatte nicht selten an unserem großen ovalen Tisch Tee getrunken, polternd nichtssagende Geschichten erzählt, immer wieder dieselben, wobei er einzelne Worte mehrmals wiederholte und mit den Fingern knallte.

Kasimir Antonowitsch besaß eine ausgedehnte Bienenzucht, die von den Pferde- und Kuhställen ziemlich entfernt lag, weil Bienen den Pferdegeruch nicht vertragen. Die Bienen sammelten den Honig von den Obstbäumen, den weißen Akazien, vom Raps, dem Buchweizen, kurz – sie konnten sich tummeln. Von Zeit zu Zeit brachte uns Kasimir Antonowitsch selbst in einer Serviette zwei gegeneinandergedrückte Teller, in denen in durchsichtigem Gold eine Wabenhonigschnitte lag.

Iwan Wassiljewitsch begab sich einmal mit mir zu Kasimir Antonowitsch, um von ihm Zuchttauben zu holen. In einem Eckzimmer des geräumigen, leeren Hauses bewirtete uns Kasimir Antonowitsch mit Tee. In großen, sich feucht anfühlenden Tellern stand Butter, Quark und Honig. Ich trank Tee aus der Untertasse und lauschte den langsamen Gesprächen. „Werden wir uns nicht verspäten?“ fragte ich leise Iwan Wassiljewitsch. „Nein, warte“, antwortete Kasimir Antonowitsch, „man muß ihnen Zeit lassen, sich unter dem Dach zu beruhigen. Dort gibt es unzählige.“ Ich sehnte mich wegzugehen. Schließlich krochen wir mit der Laterne in der Hand auf den Boden des Speichers. „Nun, jetzt gibt acht“, sagte Kasimir Antonowitsch. Der Boden war lang, dunkel, kreuz und quer von Balken durchzogen. Es roch nach Mäusen, Staub, Spinngeweben und Vogelmist. Die Laterne wurde ausgelöscht „Hier sind sie, jetzt fassen Sie zu“, sagte leise Kasimir Antonowitsch. Nach diesen Worten entstand etwas Unbeschreibliches. In tiefster Dunkelheit begann ein höllisches Treiben: der Boden belebte sich und drehte sich wie in einem Wirbel. Einen Augenblick war es mir, als stürze die Welt ein, als sei alles verloren. Nur allmählich kam ich wieder zu mir, ich vernahm verhaltene Stimmen: „Es gibt noch mehr, hierher, hierher ... stecken Sie sie in den Sack ... jetzt haben wir sie.“ Iwan Wassiljewitsch trug den Sack, und während des ganzen Heimwegs ging das Getriebe vom Speicher auf Iwan Wassiljewitschs Rücken weiter. Der Taubenschlag wurde unter das Dach der Werkstatt gebaut: ich kroch zehnmal am Tage die Treppe hinauf, brachte den Tauben Wasser, Hirse, Weizen, Krümel. Nach einer Woche tauchten in einem Nest zwei Eierchen auf. Aber noch ehe alle über diese Tatsache Genugtuung fühlen konnten, kehrten die Tauben paarweise zu ihrer alten Stätte zurück. Es blieben nur drei Paare mit beschnittenen Flügeln übrig, und nach weiteren acht Tagen, als ihre Federn nachgewachsen waren, verließen auch sie den schönen, nach dem Korridorsystem erbauten Taubenschlag. Damit endete der Versuch, Tauben zu züchten.

Bei Jelissawetgrad pachtete der Vater Land von der Gutsbesitzerin T-zkaja. Sie war Witwe, vierzigjährig, charaktervoll. Bei ihr lebte ein Pope, ebenfalls Witwer, Liebhaber von Musik, Karten und manchem anderen. Die Frau T-zkaja kommt mit dem verwitweten Väterchen nach Janowka, die Pachtbedingungen nachzuprüfen. Man überläßt ihnen den Saal und das Nebenzimmer. Zu Tisch gibt es ein Huhn in Butter, Kirschlikör und Kirschkuchen. Nach dem Essen bleibe ich im Saal und sehe, wie das Väterchen sich zu Frau T-zkaja setzt und ihr etwas Komisches ins Ohr sagt. Er schlägt den Schoß des Popenrocks zurück, zieht aus der Tasche seiner gestreiften Hose ein silbernes Etui mit Monogramm heraus; Väterchen steckt sich eine Zigarette an, und geschickt Ringe blasend, erzählt er, eine kurze Abwesenheit der Madame T-zkaja ausnutzend, daß sie in Romanen nur die Gespräche lese. Alle lächeln aus Höflichkeit, enthalten sich aber einer Meinungsäußerung, da sie wissen, daß Väterchen der Frau T-zkaja alles wiedererzählen und noch was hinzudichten würde.

Von der T-zkaja pachtete mein Vater zusammen mit Kasimir Antonowitsch Land. Zu dieser Zeit war Kasimir Antonowitsch bereits Witwer und hatte sich auf einmal ganz verändert: das Grau aus dem Bart verschwand, gestärkte Kragen tauchten auf, ein Schlips, eine Krawattennadel, und in der Tasche steckte das Bild einer Dame. Kasimir Antonowitsch machte sich zwar, wie alle, über Onkel Grigorij etwas lustig, aber gerade ihm beichtete er seine Herzensangelegenheiten und zeigte ihm auch die Photographie, die er einem Kuvert entnahm. „Sehen Sie“, sagte er dem vor Begeisterung hinschmelzenden Onkel Grigorij, „ich sagte der Dame: „Gnädigste, Ihre Lippen sind zum Küssen geschaffen.“ Diese Person heiratete Kasimir Antonowitsch, aber ein bis anderthalb Jahre nach der Hochzeit kam er plötzlich ums Leben: auf dem Gutshof der T-zkaja hatte ihn ein Ochse mit den Hörnern aufgespießt ... Etwa acht Werst entfernt lag das Gut der Brüder F-ser. Ihr Boden zählte nach Tausenden Deßjatinen. Das Haus ähnelte einem Schloß, war kostbar eingerichtet mit vielen Fremdenzimmern, einem Billardzimmer und allem übrigen. Die Brüder – Lew und Iwan – hatten das alles vom Vater Tomofei geerbt und wirtschafteten es allmählich herunter. Das Gut war ganz in den Händen eines Verwalters und brachte, trotz doppelter Buchführung, nur Verluste. „Wenn auch David Leontjewitsch nur in einer Lehmhütte wohnt, er ist reicher als ich“, sagte manchmal der ältere F-ser über meinen Vater, der, wenn man es ihm wiedererzählte, sichtlich zufrieden war. Der jüngere der Brüder, Iwan, kam einmal begleitet von zwei Jägern mit Gewehren auf dem Rücken und einem Rudel weißer Windhunde durch Janowka geritten. So etwas hatte Janowka noch nie gesehen. „Bald, bald werden sie die Erbschaft durchgejagt haben“, sagte mißbilligend mein Vater.

Diese gutsherrlichen Familien des Gouvernements Cherson waren vom Schicksal gezeichnet. Sie machten alle eine äußerst schnelle Entwicklung durch und immer in gleicher Richtung – dem Niedergang zu, wenn sie auch dem Stande nach sehr verschieden waren: erblicher Adel, Beamte, die für ihren Dienst belohnt worden waren, Polen, Deutsche und Juden, denen es gelungen war, vor 1881 Boden zu kaufen. Die Begründer vieler dieser Steppendynastien waren in ihrer Art besondere Menschen, Glücksritter und ihrer Natur nach Räuber. Ich habe übrigens persönlich keinen von ihnen kennengelernt; zu Beginn der achtziger Jahre hatten sie schon alle Zeit gefunden auszusterben. Viele von ihnen hatten mit Kopeken begonnen, aber durch kühne Griffe, nicht selten krimineller Art war es ihnen gelungen, Riesenstücke an sich zu reißen. Die zweite Generation wuchs schon unter den Verhältnissen eines frischgebackenen Herrentums heran, mit französischer Sprache, mit Billard und allerhand Ausschweifungen. Die Agrarkrise der achtziger Jahre, hervorgerufen durch die Konkurrenz jenseits des Ozeans, hatte sie erbarmungslos getroffen. Sie fielen, – wie dürres Laub vom Baum fällt. Die dritte Generation hatte eine Menge halbruinierter Schwindler erzeugt, nichtsnutzige, charakterschwache Menschen und vorzeitige Invaliden.

Die Reinkultur eines adligen Ruins war die Familie Gertopanow. Nach ihrem Gute Gertopanowka hieß eine große Pfarrei und ein großer Bezirk. Früher hatte die ganze Gegend dieser Familie gehört. Jetzt waren dem Alten nur 400 Deßjatinen geblieben, und auch diese waren überverschuldet. Mein Vater pachtete dieses Land, und der Pachtzins ging an eine Bank. Jimofei Issajewitsch lebte davon, daß er für die Bauern Eingaben, Beschwerden und Briefe schrieb. Kam er zu uns zu Besuch, dann steckte er sich Tabak und Zucker in den Ärmel. Genau so machte es seine Frau. Speichelspritzend erzählte sie von ihrer Jugend, von Sklavinnen, Klavieren, Seide und Parfüms. Zwei ihrer Söhne wuchsen beinah als Analphabeten auf, der jüngere, Viktor, war Lehrling in unserer Werkstatt.

Fünf bis sechs Werst von Janowka entfernt wohnte der jüdische Gutsbesitzer M-ski. Das war eine phantastische, tolle Familie. Der alte, sechzigjährige Moissej Charitonowitsch hatte eine Erziehung nach dem Vorbild der Adligen genossen: er sprach fließend französisch, spielte Klavier, kannte einiges aus der Literatur. Seine linke Hand war unentwickelt, die rechte aber genügte, nach seinen Worten, sogar für Konzerte. Er schlug die Tasten des alten Klaviers mit den verwahrlosten Nägeln wie Kastagnetten. Mit einer Polonaise von Oginski beginnend, ging er unmerklich auf eine Rhapsodie von Liszt über, um dann auf das Gebet einer Jungfrau zu rutschen. Ähnliche Sprünge kamen auch in seiner Unterhaltung vor. Plötzlich brach er das Spiel ab, ging zum Spiegel und sengte sich, war niemand in der Nähe, mit einer Zigarette den Bart von allen Seiten ab, ihn so in Form bringend. Er rauchte unaufhörlich, keuchend und gleichsam mit Ekel. Mit seiner Frau, einer umfangreichen Alten, sprach er schon seit fünfzehn Jahren nicht mehr. Sein fünfunddreißigjähriger Sohn David, mit einem ewigen weißen Verband am Gesicht und einem roten zuckenden Auge über dem Verband, war ein mißglückter Selbstmörder. Beim Militärdienst hatte er dem Offizier vor der Front eine Grobheit gesagt. Dieser versetzte ihm einen Schlag. David gab dem Offizier eine Ohrfeige, lief in die Kaseme und versuchte, sich mit dem Gewehr zu erschießen. Die Kugel kam aus der Backe heraus, – seitdem der unvermeidliche weiße Verband. Dem Soldaten drohte strenge Bestrafung. Aber damals lebte noch der Stammvater der Dynastie, der alte Chariton, ein reicher, mächtiger, despotischer Halbanalphabet. Er brachte fast das ganze Gouvernement auf die Beine und erreichte, daß sein Enkel für unzurechnungsfähig erklärt wurde. Vielleicht war das übrigens nicht so weit von der Wahrheit entfernt. David lebte seitdem mit einer durchschossenen Backe und mit dem Paß eines Geisteskranken.

Der Verfall der M-skis setzte sich in der Zeit fort, an die ich mich erinnere. In meinen ersten Kinderjahren kam Moissej Charitonowitsch noch im Phaeton mit gut eingefahrenen Luxuspferden an. Als kleiner Junge von vier bis fünf Jahren war ich mit meinem älteren Bruder bei M-skis. Der Garten war groß und gut gepflegt, sogar Pfauen waren darin. Diese wunderlichen Wesen, mit Kronen auf dem launischen Kopf, mit herrlichen Spiegelchen auf dem märchenhaften Schwanze und mit Sporen an den Füßen, sah ich hier zum erstenmal. Später verschwanden die Pfauen und mit ihnen noch vieles andere. Der Zaun um den Garten verfiel. Das Vieh grub Obstbäume und Blumen aus. Moissej Charitonowitsch kam nun nach Janowka in einem Wagen mit Bauempferden. Die Söhne versuchten jetzt, das Gut nicht mehr auf herrschaftliche, sondern auf bäuerliche Art wiederhochzubringen. „Wir kaufen Klepper, werden morgens selbst aufs Feld fahren wie die Bronsteins.“ „Es wird bei ihnen nichts herauskommen“, sagte mein Vater. Um „Klepper“ zu kaufen, wurde David nach Jelissawetgrad zum Jahrmarkt geschickt. Er ging auf dem Jahrmarkt herum, prüfte die Pferde mit dem Auge eines Kavalleristen und wählte drei aus. Am späten Abend kehrte er ins Dorf zurück. Das Haus war voller Gäste in leichter sommerlicher Kleidung. Abram trat mit der Lampe in der Hand auf die Treppe hinaus, die Pferde zu besichtigen. Mit ihm zusammen erschienen Damen, Studenten, Jugendliche. David fühlte sich gleich in seinem Element und begann die Vorzüge jedes einzelnen Pferdes zu erklären, besonders des einen, das seiner Meinung nach einem Fräulein glich. Abram kratzte sich am Bart und wiederholte: „Die Pferde sind gut ...“ Das Ganze endete mit einem Picknick. David zog einer lieblichen Besucherin den Schuh aus, goß Bier hinein und brachte ihn an seine Lippen.

„Wollen Sie es wirklich trinken?“ fragte diese, halb erschrocken, halb begeistert.

„Wo ich doch keine Angst hatte, auf mich zu schießen ...“, antwortete der Held und trank den Schuh leer.

„Du solltest lieber mit deinen Heldentaten nicht prahlen“, fiel unerwartet die sonst stets schweigsame Mutter ein, eine große, schlaffe Frau, auf der die gesamte Wirtschaft lastete.

„Ist das Winterweizen?“ fragte Abram M-ski meinen Vater, um Fachinteresse zu beweisen.

„Na, sicher doch kein Sommerweizen.“

„Nikopolka?“

„Das ist doch Wintergetreide.“

„Ich weiß, daß es Wintergetreide ist, ich meine nur, welche Sorte: Nikopolka oder Girka?“

„Ich hab’ noch nie gehört, daß Nikopolka ein Wintergetreide ist. Vielleicht kommt es anderswo vor; bei mir nicht. Bei mir gibt es Sandomirka.“

So wurde aus M-skis Bemühung nichts. Nach einem Jahr war das Land, wieder an meinen Vater verpachtet.

Eine besondere Gruppe bildeten die deutschen Kolonisten. Unter ihnen gab es steinreiche Leute. Die hielten sich fest. Ihre Familiensitten waren härter, ihre Söhne wurden nur selten in die Stadt geschickt, die Töchter arbeiteten im Feld. lhre Häuser waren aus Ziegel, mit grünem oder rotem Eisenblechdach, ihre Pferde rassig, die Geschirre in Ordnung, die Federwagen wurden geradezu deutsche Wagen genannt. Der uns nächste deutsche Kolonist war Iwan Iwanowitsch Dorn, ein lebhafter Dicker, der ohne Strümpfe in Halbschuhen herumlief, mit gegerbten Backen voller Borsten, graumeliert. Zum Ausfahren benutzte er stets einen tadellosen, mit grellen Blumen bemalten Wagen, vor den rabenschwarze Rappen gespannt waren, die mit den Hufen die Erde stampften. Solcher Dorne gab es viele. Sie alle überragte die Figur Falzfeins, des Schafkönigs, eines „Kannitverstan“ der Steppe.

Endlose Herden ziehen dahin. „Wessen Schafe sind’s?“ „Falzfeins.“ Knechte fahren mit Heu, Stroh, Spreu. „Wessen?“ „Falzfeins.“ Es jagt auf einem Dreigespann im breiten Schlitten eine Pelzpyramide dahin. Das ist Falzfeins Verwalter. Oder es zieht eine durch ihr Aussehen und Heulen furchterregende Karawane Kamele vorbei. Nur Falzfein besaß eine solche. Falzfein hatte Fohlen aus Amerika, Stiere aus der Schweiz.

Der Ahnherr dieser Familie, erst nur ein Falz, ohne Fein, diente als Schafmeister bei einem Herzog von Oldenburg, dem die Regierung große Mittel zur Zucht von Merinoschafen überlassen hatte. Der Herzog hatte fast eine Million Rubel Schulden gemacht, aber aus der Sache war nichts geworden. Falz kaufte den Betrieb und bewirtschaftete ihn nicht auf Herzog-, sondern auf Schafmeisterart. Seine Schafherden wuchsen, wie die Weiden und der Gutshof. Seine Tochter heiratete den Schafzüchter Fein. So vereinigten sich die zwei Schafzüchterdynastien. Der Name Falz-Fein klang wie das Getrampel von tausend und aber tausend Schafshufen, wie das Blöken zahlloser Schafstimmen, wie das Schreien und Pfeifen der Steppenhirten mit ihren langen Stäben, wie das Geheul zahlloser Schäferhunde. Die Steppe selbst atmete diesen Namen bei Hitze und grimmigem Frost aus.

 

Ich habe das erste Jahrfünft hinter mir. Meine Erfahrung erweitert sich. Das Leben ist furchtbar reich an Erfindungen und beschäftigt sich mit seinen Kombinationen ebenso fleißig im kleinsten Krähwinkel wie in der Weltarena. Die Ereignisse stürzen eins nach dem andern auf mich ein.

Man brachte eine Arbeiterin vom Felde, die von einer Schlangegebissen worden war. Das Mädchen weinte jämmerlich. Man hatte den angeschwollenen Fuß über dem Knie abgebunden und in ein Faß mit Sauermilch gesteckt. Das Mädchen wurde nach Bobrinez ins Krankenhaus gebracht, von wo sie später zur Arbeit zurückkehrte. Auf dem verletzten Bein trug sie einen Strump, einen schmutzigen und zerrissenen Strumpf, und die Arbeiter nannten sie nun nicht anders als Fräulein.

Ein Eber hatte Stirn, Schultern und Arm eines Burschen, der ihn gefüttert hatte, angenagt. Es war der neue Rieseneber, der bestimmt war, die ganze Schweineherde zu regenerieren. Der Bursche bekam Todesangst und schluchzte wie ein Kind. Auch ihn brachte man ins Krankenhaus.

Zwei junge Arbeiter, jeder auf einem Wagen stehend, warfen sich eiserne Heugabeln zu. Ich verschlang dies Schauspiel mit den Augen. Dem einen von ihnen drang eine Gabel in die Seite, er stürzte heulend herunter.

Das alles geschah im Laufe eines Sommers. Und kein Sommer verging ohne Ereignisse.

In einer Herbstnacht wurde der ganze Holzbau der Mühle in den Teich gespült. Die Pfähle waren schon längst verfault, eine Sturm wehte die Holzwände wie Segel hinweg. Die Dampfmaschine, die Gänge, die Graupenmühle, der Kornsortierer schauten nackt aus den Ruinen hervor. Aus den Brettern sprangen jeden Augenklick riesige Mühlratten.

Ich stahl mich mit dem Wasserführer ins Feld weg, um auf Zieselratten Jagd zu machen. Man mußte gleichmäßig, nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam, Wasser in das Rattenloch gießen und mit dem Stock in der Hand abwarten, bis in der Lochöffnung das Rattenschnäuzchen mit dem nassen, glatt angeklatschten Fell erschien. Eine alte Zieselratte leistet, das Loch mit dem Hintern zustopfend, lange Widerstand, aber bei dem zweiten Eimer ergibt sie sich und springt in den Tod hinein. Den Hingemordeten mußte man die Pfötchen abschneiden und diese auf einen Faden aufziehen: das Semstwo zahlte für jede Ratte eine Kopeke. Früher brauchte man nur das Schwänzchen vorzuzeigen, aber geschickte Hände pflegten aus einem Fellchen ein Dutzend Schwänzchen zu schneiden; darum verfiel das Semstwo auf die Pfötchen. Ich komme naß und mit Erde verschmiert nach Hause. Von der Familie wurden solche Abenteuer nicht gefördert; man sah es lieber, wenn ich auf dem Sofa im Eßzimmer saß und den blinden Ödipus und die Antigone abmalte.

Einmal kehrte ich mit der Mutter aus Bobrinez, der uns nächstgelegenen Stadt, zurück. Vom Schnee geblendet, eingewiegt von der Fahrt, schlummerte ich ein. An einer Biegung kippt der Schlitten um, und ich falle, mit dem Gesicht nach unten. Ich werde von einem Teppich und von Heu zugedeckt. Höre die ängstlichen Rufe der Mutter, aber ich bin nicht imstande zu antworten. Der Kutscher – es ist ein neuer – jung, groß, rotblond, hebt den Teppich hoch und entdeckt meinen Aufenthaltsort. Wieder steigen wir ein und fahren weiter. Da beginne ich darüber zu klagen, daß über meinen Rücken die Kälte wie Ameisen laufe. „Ameisen?“ Der junge rotbärtige Kutscher dreht sich um und zeigt seine festen, weißen Zähne. Ich blicke ihm in den Mund und sage: „Ja, wissen Sie, als ob’s Ameisen wären.“ Der Kutscher lacht. „Das macht nichts, wir werden bald ankommen!“ Und er treibt den Falben vorwärts. In der nächsten Nacht ist der Kutscher samt Falben verschwunden. Auf dem Gut ist Alarm. Es sammelt sich zum Einfangen eine berittene Expedition mit dem älteren Bruder an der Spitze. Er sattelt Muz und droht wild, mit dem Dieb grausam abzurechnen. „Hol ihn erst einmal ein“, sagt ihm finster der Vater. Zwei Tage gehen hin, bevor die Verfolger zurückkehren. Der Bruder klagt über den Nebel, der das Einfangen des Pferdediebes verhindert hätte. Also dieser hübsche, lustige Bursche, das ist ein Pferdedieb? Mit so weißen Zähnen?

Mich quält Fieber und ich wälze mich herum. Arme, Beine und Kopf werden lästig, sie schwellen an und stoßen an die Decke, an die Wand, und all diesen Hindernissen ist nicht auszuweichen, denn die Hindernisse kommen von innen. Mir schmerzt der Hals, ich brenne ganz. Die Muttter schaut mir in den Rachen, dann der Vater, sie sehen sich bcunruhigt an und beschließen, mir den Hals mit Höllenstein auszupinseln. „Ich fürchte“, sagt die Mutter, „daß Ljowa die Diphtheritis hat“ „wenn es Diphtheritis wäre, läg er schon längst auf der Bank.“ Dunkel errate ich, daß auf der Bank liegen tot sein bedeutet, so wie die jüngere Schwester Rosotschka tot war. Aber ich glaube nicht, daß es sich auf mich beziehen kann, und höre dem Gespräch ruhig zu. Nach langen Überlegungen entscheidet man, mich nach Bobrinez zu bringen. Die Mutter ist nicht sehr gottesfürchtig, dennoch entschließt sie sich nicht, sonnabends in die Stadt zu fähren. Mit mir fährt deshalb Iwan Wassiljewitsch. Wir steigen ab bei der kleinen Tatjana, unserem früheren Dienstmädchen, das jetzt in Bobrinez verheiratet ist. Sie hat keine Kinder, und darum besteht keine Ansteckungsgefahr. Der Doktor Schatunowski sieht mir in den Hals, mißt die Temperatur und erklärt wie immer, man könne noch nichts feststellen. Die Wirtin Tanja gibt mir eine leere Bierflasche, in der aus Stäbchen und Brettchen eine ganze Kirche gebaut ist. Beine und Arme hören auf, mich zu belästigen. Ich werde gesund. Wann geschah das? Kurz vor der Entdeckung der Zeitrechnung.

Die Sache war so Onkel Abram, ein alter Egoist, der gewöhnlich wochenlang an den Kindern achtlos vorbeiging, rief mich in einem guten Augenblick plötzlich zu sich und fragte: „Sage mir nachgerade, welches Jahr haben wir? Weißt du es nicht? 1885! Wiederhole es und merk es dir. Ich werde dich später prüfen.“ Was das bedeutete, konnte ich nicht begreifen. „Ja, wir haben jetzt das Jahr 1885“, sagte meine Kusine, die stille Olga, „und dann kommt das Jahr 1886.“ Ich glaubte das nicht. Nimmt man schon an, daß die Zeit einen Namen hat, dann wird das Jahr 1885 ewig existieren, das heißt, sehr, sehr lange, wie der große Stein, der vor der Hausschwelle eine Stufe ersetzt, wie die Mühle, schließlich wie ich selbst. Betja, die jüngere Schwester Olgas, wußte nicht, wem sie glauben sollte. Alle drei empfanden dadurch, daß sie ein neues Gebiet betreten hatten, Beunruhigung, als hätten sie in vollem Lauf hastig eine Tür aufgestoßen, in ein mit Dämmerung gefülltes Zimmer, in dem keine Möbel stehen und nur dumpf Stimmen widerhallen. Schließlich mußte ich nachgeben. Alle stellten sich auf Olgas Seite. Auf diese Weise wurde das erste numerierte Jahr, das in mein Bewußtsein trat – 1885. Es machte der formlosen Zeit, der prähistorischen Epoche meines Daseins, dem Chaos ein Ende: mit diesem Knotenpunkt beginnt meine Zeitrechnung. Ich war damals sechs Jahre alt. Für Rußland war es ein Jahr der Mißernte, der Krise und der ersten großen Arbeiterunruhen. Rastlos versuchte ich, den geheimnisvollen Zusammenhang zwischen Zeit und Zahl zu finden. Dann begann die Ablösung der Jahre, zuerst langsam und dann immer schneller. Jedoch hob sich das Jahr 1885 von allen anderen als das älteste, das Stammjahr, ab. Es wurde der Beginn meiner Ära.

Folgendes Ereignis spielte sich ab. Ich setzte mich in den vor der Treppe stehenden Wagen und nahm in Erwartung des Vaters die Zügel in die Hände. Die jungen Pferde gingen durch, am Haus, am Speicher, am Garten vorbei, weglos, feldein, in die Richtung zum Gute der Dembowskis. Hinter mir hörte ich Schreie. Vorne war ein Graben. Die Pferde jagten wie besessen. Erst dicht vor dem Graben machten sie eine ruckhafte Wendung zur Seite und blieben, den Wagen fast umkippend, plötzlich stehen. Hinterher kam der Kutscher, nach ihm einige Arbeiter, dann der Vater, und noch weiter hinten schrie Mutter, rangen die Schwestern die Hände. Die Mutter fuhr fort zu schreien, auch dann noch, als ich mich ihr entgegenstürzte. Es soll nicht verschwiegen werden, daß ich vom todblassen Vater zwei Klapse bekam. Ich war darüber nicht einmal beleidigt, derart ungewöhnlich war alles.

Wohl im gleichen Jahr machte ich mit Vater eine Reise nach Jelissawetgrad. Wir fuhren beim Morgengrauen ab, fuhren langsam, in Bobrinez fütterte man die Pferde, am Abend erreichten wir das Dorf Wschiwaja – das man aus Höflichkeit Schwiwaja nannte. – und übernachteten dort, weil in der Nähe dieses Städtchens Räuber ihr Unwesen trieben. Keine Hauptstadt der Welt – weder Paris noch New York – hat später auf mich einen ähnlichen Eindruck gemacht wie Jelissawetgrad mit seinen Trottoirs, mit seinen grünen Dächern, Balkonen, Läden, seinen Schutzleuten und roten Luftballons an Fäden. Mehrere Stunden lang blickte ich mit weitgeöffneten Augen der Zivilisation ins Gesicht.

Ein Jahr nach der Entdeckung der Zeitrechnung begann mein Studium. Eines Morgens, nachdem ich mich ausgeschlafen und in aller Eile gewaschen hatte (man wusch sich in Janowka stets in aller Eile), den neuen Tag im voraus genießend, besonders den Tee mit Milch, das Weißbrot mit Butter, trat ich ins Eßzimmer. Dort saß die Mutter mit einem Unbekannten, einem mageren, matt lächelnden und sichtlich diensteifrigen Menschen. Die Mutter und der Unbekannte sahen mich so an, daß es klar wurde: das Gespräch betraf mich irgendwie.

„Wünsch doch guten Tag, Ljowa“, sagte die Mutter, „das ist dein künftiger Lehrer.“ Ich sah den Lehrer ängstlich, doch nicht ohne an. Der Lehrer begrüßte mich mit jener Milde, mit der jedet Lehrer seinen zukünftigen Schüler in Anwesenheit der Eltern begrüßt. Die Mutter erledigte die geschäftliche Vereinbarung in meiner Gegenwart: für soundsoviel Rubel und soundsoviel Pud Mehl verpflichtete sich der Lehrer, mich in seiner Schule in der Kolonie russische Sprache, Arithmetik und die Bibel in Hebräisch zu lehren. Der Umfang der Wissenschaft wurde allerdings nur ungeführ bestimmt, da Mutter auf diesem Gebiete nicht sehr stark war. Aus dem Tee mit Milch spürte ich schon den Beigeschmack der zukünftigen Veränderung meines Schicksals.

Am nächsten Sonntag fuhr mich Vater in die Kolonie und brachte mich bei Tante Rachil unter. In dem gleichen Wagen brachten wir der Tante Weizen- und Gerstenmehl, Buchweizen, Hirse und andere Produkte.

Von Gromoklej bis Janowka waren vier Werst. Die Kolonie lag zu beiden Seiten eines Grabens: auf der einen Seite befand sich die jüdische, auf der anderen die deutsche Siedlung. Sie unterschieden sich scharf voneinander. In dem deutschen Teil waren die Häuser sauber, teils mit Ziegel, teils mit Schilf gedeckt, große Pferde gab es, glatte Kühe. Im jüdischen Teil verfallene Häuser, durchlöcherte Dächer, klägliches Vieh.

Auf den ersten Blick scheint es seltsam, daß die früheste Schulzeit nur schwache Erinnerungen hinterlassen hat. Eine Schiefertafel, auf die ich die ersten russischen Buchstaben schrieb, des Lehrers gekrümmter Zeigefinger auf dem Federhalter, das Lesen der Bibel im Chor, die Bestrafung eines Knaben wegen Diebstahls – wirre Umrisse, nebelhafte Flecke, kein einziges grelles Bild. Eine Ausnahme machte vielleicht die Frau des Lehrers, eine große, volle Frau, die von Zeit zu Zeit in unser Schulleben eingriff, jedesmal unerwartet. Einmal beklagte sie sich während des Unterrichts bei ihrem Mann, daß das neue Mehl röche, und als der Lehrer seine spitze Nase auf ihre Hand beugte, streute sie ihm das ganze Mehl ins Gesicht. Das war ein Scherz von ihr. Knaben und Mädchen lachten. Nur der Lehrer war nicht vergnügt. Mir tat er leid, wie er so in der Mitte des Klassenzimmers mit gepudertem Gesicht dastand.

Ich wohnte bei der guten Tante Rachil, ohne sie zu bemerken, Im gleichen Hof, im Hauptgebäude, herrschte Onkel Abram. Gegen seine Neffen und Nichten verhielt er sich völlig gleichgültig. Mich zeichnete er manchmal aus, lud mich zu sich ein und bewirtete mich mit einem Markknochen, wobei er sagte: „Diesen Knochen würde ich nachgerade nicht um zehn Rubel weggeben.“

Onkels Haus stand fast am Anfang der Kolonie. Am entgegengesetzten Ende wohnte ein großer, schwarzer, hagerer Jude, von dem man sagte, daß er sich mit Pferdediebstahl und überhaupt mit dunklen Geschäften abgäbe. Er hatte eine Tochter. Auch von ihr sprach man nichts Gutes. Unweit vom Pferdedieb saß der Mützenmacher an der Maschine, ein junger Jude, mit feurigrotem Bärtchen. Die Frau des Mützenmachers kam zum Regierungsinspektor der Kolonie, der auf seiner Inspektionsreise bei Onkel Abram wohnte, um sich über die Tochter des Pferdediebes zu beklagen, weil diese ihr den Mann abspenstig mache. Der Inspektor hat wohl keinen Rat gewußt. Als ich einmal aus der Schule zurückkehrte, sah ich, wie eine schreiende, heulende, spuckende Menge eine junge Frau, die Tochter des Pferdediebs, über die Straße schleifte. Diese biblische Szene blieb mir für immer im Gedächtnis. Einige Jahre später heiratete Onkel Abram diese Frau. Ihr Vater wurde um diese Zeit, auf Veranlassung der Kolonisten, als schädliches Mitglied der Gesellschaft nach Sibirien ausgewiesen.

Mein früheres Kindermädchen Mascha diente bei Onkel Abram. Ich lief oft zu ihr in die Küche: sie verkörperte für mich den Zusammenhang mit Janowka. Zu Mascha kamen Gäste, manchmal sehr ungeduldige, und dann wurde ich sacht bei den Schultern hinausexpediert. Eines schönen Morgens erfuhr ich, gemeinsam mit der ganzen Kinderbevölkerung des Hauses, daß Mascha ein Kindchen geboren hatte. Wir tuschelten in den Ecken in freudiger Erregung. Nach einigen Tagen kam meine Mutter aus Janowka und ging in die Küche, um Mascha und das Kind zu sehen. Ich stahl mich hinter der Mutter her. Mascha trug ein Tuch, das sie tief über die Augen geschoben hatte, und auf einer breiten Bank lag ein kleines Wesen. Mutter blickte auf Mascha, dann auf das Kind und schüttelte, ohne etwas zu sagen, vorwurfsvoll den Kopf. Schweigsam stand Mascha da, mit gesenkten Augen, dann sah sie das Kind an und sagte: „Schau nur einer, wie es das Händchen unter die Backe gelegt hat, wie ein Erwachsener.“ „Tut dir der Kleine leid?“ fragte die Mutter. „Ach was“, antwortete Mascha, „mir ist alles, gleich.“ „Du lügst ... er tut dir doch leid ...“, erwiderte die Mutter, schon versöhnlich gestimmt. Das Kind starb nach einer Woche ebenso geheimnisvoll, wie es zur Welt gekommen war.

Ich fuhr oft aus der Schule ins Dorf und blieb dort jedesmal etwa acht Tage. Keinem der Schuijungen bin ich nähergekommen, weil ich nicht jüdisch sprach. Dieser Schulbesuch dauerte nur einige Monate. Das alles erklärt wohl die Armut meiner Schulerinnerungen. Doch hat Schuffer – so hieß der Pädagoge aus Gromoklej – mir Lesen und Schreiben beigebracht, und diese beiden Künste haben mir dann im Leben manchen Dienst erwiesen. Ich bewahre deshalb meinem ersten Lehrer dankbare Erinnerungen.

Ich begann mich durch die gedruckten Zeilen hindurchzukämpfen. Ich schrieb Gedichte ab. Machte selbst Gedichte. Später ging ich mit meinem Vetter Senja. Sch. an die Herausgabe einer Zeitschrift. Jedoch war der neue Weg voller Dornen. Kaum hatte, ich die Kunst des Schreibens begriffen, kam ihre Versuchung über mich. Als ich einmal im Eßzimmer allein geblieben war, begann ich in Blockschrift jene sonderbaren Worte einzumalen, die ich in der Werkstatt und in der Küche gehört hatte und die man in der Familie aussprach. Ich ahnte, daß ich etwas tat, was man nicht tun aber die Worte waren gerade durch das Verbotene verlockend. Ich beschloß, das fatale Zettelchen in eine Streichholzschachtel zu legen, und die Schachtel tief in die Erde unter der Scheune zu vergraben. Ich hatte mein Dokument noch lange nicht fertiggeschrieben, als die ältere Schwester, die ins Eßzimmer kam, dafür Interesse zeigte. Ich riß hastig das Papier vom Tisch. Nach der Schwester kam die Mutter herein. Man verlangte, daß ich das Papier zeigen sollte. Brennend vor Scham, warf ich das Papierchen hinter das Sofa. Die Schwester wollte es hervorholen, aber ich schrie hysterisch: „Ich werde es selbst holen.“ Ich kroch unter das Sofa und zerriß dort mein Papierchen in kleine Fetzen. Meine Verzweiflung nahm kein Ende, wie auch meine Tränen.

Zu Weihnachten, wohl des Jahres 1886, denn ich konnte damals schon schreiben, stürmte, als wir beim Tee saßen, ein Trupp verkleideter Gestalten ins Eßzimmer. Das geschah so unerwartet, daß ich vor Schreck auf das Sofa, auf dem ich saß, hinfiel. Man beruhigte mich, und nun hörte ich gierig dem Kaiser Maximilian zu. Es eröffnete sich mir zum erstenmal die Welt der Phantastik, in Theaterwirklichkeit verwandelt. Ich war sehr erstaunt, als ich erfuhr, daß die Hauptrolle vom Arbeiter Prochor, einem früheren Soldaten, gespielt wurde. Am nächsten Tag stahl ich mich, gleich nach dem Essen, mit Papier und Bleistift bewaffnet, in die Gesindestube und bat den Kaiser Maximilian, mir seine Monologe zu diktieren. Prochor machte Ausflüchte, aber ich bat, forderte, flehte, ließ nicht locker. Bis wir uns schließlich ans Fenster setzten und ich auf dem schmutzigen Fensterbrett die gereimte Rede des Kaisers Maximilian aufzuschreiben begann. Kaum waren fünf Minuten verganen, als der Vater in der Tür erschien, die Szene am Fenster erblickte und streng sagte: „Ljowa, geh ins Zimmer.“ Ich habe auf dem Sofa bis zum Abend unaufhörlich geweint.

Ich schrieb Gedichte, die vielleicht meine frühe Liebe zum Wort offenbarten, aber bestimmt keine poetische Entwicklung für die Zukunft prophezeiten. Von meinen Gedichten wußte die ältere Schwester, durch die Schwester wußte es die Mutter und durch die Mutter der Vater. Man forderte mich auf, meine Verse den Gästen vorzulesen. Das war bis zur Qual peinlich. lch weigerte mich. Man redete mir zu, zuerst freundlich dann gereizt und schließlich mit Drohungen. Häufig lief ich davon. Aber die Erwachsenen verstanden es, auf ihrem Wunsch zu bestehen. Mit klopfendem Herzen und mit tränenden Augen las ich meine Gedichte vor, wobei ich mich der übernommenen Zeilen und der schlechten Reime schämte.

Auf jeden Fall hatte ich vom Baum der Erkenntnis gegessen. Das Leben erschloß sich mir nicht täglich, sondern stündlich. Vom zerrissenen Sofa im Eßzimmer wgen sich Fäden zu anderen Wetten. Das Lesen eröffnete eine neue Epoche meines Daseins.


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003