Leo Trotzki

 

Mein Leben


Janowka

Die Kindheit gilt als die glücklichste Periode des Lebens. Ist das immer so? Nein, die Kindheit der wenigsten ist glücklich. Die Idealisierung der Kindheit leitet ihren Ursprung von der alten Literatur der Privilegierten ab. Die gesicherte, üppige, wolkenlose Kinderzeit in den erblich begüterten und gebildeten Familien, zwischen Liebkosungen und Spielen, pflegt im Gedächtnis wie eine sonnige Wiese am Anfang des Lebensweges zu bleiben. Die Grandseigneure der Literatur oder die Plebejer, die die Grandseigneure besangen, kanonisierten diese durch und durch aristokratische Bewertung der Kindheit. Die erdrückende Mehrheit der Menschen blickt dagegen, soweit sie überhaupt Rückschau hält, auf eine dunkle, hungrige, abhängige Kindheit zurück. Das Leben schlägt die Schwachen, wer aber ist schwächer als Kinder?

Meine Kindheit war nicht eine Kindheit des Hungers und der Kälte. Zur Zeit meiner Geburt kannte meine elterliche Familie schon Wohlstand. Doch war es ein herber Wohlstand von Menschen, die sich aus der Not erheben und den Wunsch haben, nicht auf halbem Wege stehenzubleiben. Alle Muskeln waren gespannt, alle Gedanken auf Arbeit und Anhäufung gerichtet. In dieser Häuslichkeit war den Kindern nur ein bescheidener Platz zugewiesen. Wir kannten keine Not, wir kannten aber auch nicht die Freigebigkeit des Lebens, seine Liebkosungen. Meine Kindheit erscheint mir weder als die sonnige Wiese der kleinen Minderheit noch als die düstere Hölle des Hungers, des Zwanges und der Beleidigungen, wie die Kindheit der Vielen, wie die Kindheit der Mehrheit. Es war eine farblose Kindheit in einer kleinbürgerlichen Familie, in einem Dorfe, in einem finsteren Winkel, wo die Natur reich ist, die Sitten, Ansichten und Interessen aber dürftig und eng.

Die geistige Atmosphäre, die meine frühesten Jahre umgab, und die, in der mein späteres bewußtes Leben verlief, sind zwei verschiedene Welten, die voneinander nicht nur durch Jahrzehnte und Länder getrennt sind, sondern sowohl durch Gebirgsketten großer Ereignisse wie auch durch weniger auffallende, für den Einzelmenschen jedoch nicht minder bedeutsame innere Erschütterungen. Bei der ersten Skizzierung dieser Erinnerungen kam es mir wiederbolt vor, als beschriebe ich nicht meine eigene Kindheit, sondern eine alte Reise durch ein fernes Land. Ich versuchte sogar, die Erzählung von mir in dritter Person zuführen. Doch diese konventionelle Form schlägt leicht in Belletristik um, das heißt in etwas, was ich vor allem vermeiden möchte.

Trotz dem Gegensatz der zwei Welten geht die Einheit der Person auf irgendwelchen verborgenen Wegen aus der einen in die andere über. Das erklärt im allgemeinen das Interesse an Biographien und Autobiographien von Menschen, die aus dem einen oder dem anderen Grund einen etwas breiteren Platz im Leben der Gesellschaft eingenommen haben. ich will deshalb versuchen, einigermaßen ausführlich über meine Kindheit und meine Schuljahre zu erzählen, ohne etwas vorauszuraten oder vorauszubestimmen, das heißt, ohne die Tatsachen auf vorgefaßte Verallgemeinerungen hin einzureihen – einfach so, wie es war und wie mein Gedächtnis die Vergangenheit behalten hat.

 

Manchmal kam es mir vor, als erinnerte ich mich, wie ich an der Brust meiner Mutter gesogen habe. Es ist jedoch anzunehmen, daß ich auf mich übertrug, was ich bei den jüngeren Geschwistern gesehen. Ich habe wirre Erinnerungen an irgendeine Szene unter einem Apfelbaum in einem Garten, die sich abspielte, als ich etwa eineinhalb Jahr alt war. Aber auch diese Erinnerung ist nicht zuverlässig. Fester blieb mir folgender Vorfall im Gedächtnis: ich bin mit meiner Mutter in Bobrinez bei der Familie Z., wo ein Mädchen von zwei oder drei Jahren ist. Mich nennt man Bräutigam, das Mädchen Braut. Die Kinder spielen in einem Saal, auf einem gestrichenen Fußboden, dann verschwindet das Mädchen, und der kleine Junge steht allein an einer Kommode; er durchlebt einen Augenblick der Erstarrung, wie in einem Traum. Meine Mutter kommt mit der Frau des Hauses herein. Die Mutter schaut auf den

Jungen, dann auf die Lache neben ihm, dann wieder auf den Jungen, schüttelt vorwurfsvoll den Kopf und sagt: „Schämst du dich nicht?“ ... Der Junge schaut auf die Mutter, auf sich und dann auf die Lache als auf etwas ihm völlig Fremdes.

„Macht nichts, macht nichts“, sagt die Frau des Hauses, „die Kinder waren mit dem Spiel so beschäftigt.“

Der kleine Junge empfindet weder Scham noch Reue. Wie alt war er damals? Wohl zwei Jahre, vielleicht auch drei.

Um die gleiche Zeit stieß ich, während ich mit dem Kindermädchen im Garten spazierenging, auf eine Schlange. „Schau, Ljowa“, sagte das Kindermädchen und zeigte dabei auf etwas Glänzendes im Gras, „eine Tabakdose ist in der Erde vergraben.“ Das Kindermädchen nahm ein Stöckchen und begann zu buddeln. Das Kindermädchen war selbst kaum mehr als sechzehn Jahre alt. Die Tabakdose rollte sich auf, streckte sich zur Schlange aus und kroch zischend durchs Gras. „Ai! Ai!“, schrie das Kindermädchen, packte mich am Arm und lief hastig davon. Mir war es schwer, die Beine schnell fortzubewegen. Keuchend erzählte ich dann, wie wir geglaubt hatten, im Grase eine Tabaksdose zu finden, und wie es sich herausstellte, daß es eine Schlange war.

Ich erinnere mich noch an eine frühe Szene in der „weißen“ Küche. Weder Vater noch Mutter sind zu Hause. In derKüche ist außer dem Dienstmädchen und der Köchin noch deren Besuch. Der ältere Bruder, Alexander, der die Ferien über nach Hause gekommen ist, hält sich hier ebenfalls auf. Er stellt sich mit beiden Füßen, wie auf Stelzen, auf eine Holzschaufel und hopst damit lange auf dem Lehmfußboden der Küche herum. Ich bitte den Bruder, mir die Schaufel zu überlassen, mache einen Versuch, sie zu besteigen, falle hin und heule. Der Bruder hebt mich auf, küßt mich und trägt mich auf den Armen aus der Küche.

Ich war wahrscheinlich schon vier Jahre alt, als mich jemand auf eine große graue, lammfromme Stute setzte; sie war ohne Sattel und Zaum, hatte nur eine Kordel als Halfter um. Mit weit auseinandergespreizten Beinen hielt ich mich mit beiden Händen an der Mähne fest. Die Stute trug mich sanft zu einem Bimbaum, unter einen Zweig, der mir bis zum Bauche reichte. Ohne zu begreifen, was das bedeutete, rutschte ich den Pferderücken hinunter, bis ich ins Gras fiel. Es schmerzte nicht, aber es war unbegreiflich.

Gekauftes Spielzeug besaß ich in meiner Jugend fast nicht. Nur einmal brachte mir meine Mutter aus Charkow ein Pferdchen aus Pappe und einen Ball mit. Ich und die jüngere Schwester spielten mit selbstangefertigten Puppen. Tante Fenja und Tante Raissa, Vaters Schwestern, verfertigten sie uns aus einigen Lappen, und Tante Fenja malte ihnen mit dem Bleistift Augen, Mund und Nase an. Die Puppen kamen mir außerordentlich vor, ich erinnere mich ihrer noch jetzt. An einem Winterabend schnitt Iwan Wassiljewitsch, unser Maschinist, aus Karton einen Waggon mit Fenstern aus und klebte ihn auf Räder. Der ältere Bruder, der zu Weihnachten nach Hause gekommen war, erklärte, man könne so einen Waggon im Nu anfertigen. Er begann damit, daß er meinen Waggon auseinandernahm, sich mit Lineal, Bleistift und Schere bewaffnete, dann lange zeichnete, aber als er die Zeichnungen auseinanderschnitt, konnte er den Waggon nicht zusammenstellen.

Die in die Stadt reisenden Verwandten und Bekannten fragten mich häufig: „Was sollen wir dir aus Jelissawetgrad oder Nikolajew mitbringen?“ Meine Augen brannten. Was sollte ich mir wünsehen? Man kam mir zu Hilfe. Jemand schlug vor: ein Pferdchen, Bücher, Buntstifte oder Schlittschuhe. „Schlittschuhe, Halbhalifax“, sagte ich, da ich diese Bezeichnung von meinem Bruder gehört hatte. Aber die es versprachen, vergaßen, kaum daß sie über die Schwelle waren, ihr Versprechen. Ich aber lebte wochenlang mit meiner Hoffnung, und dann quälte mich lange Enttäuschung.

Im Vorgärtchen setzte sich eine Biene auf eine Sonnenblume. Da die Bienen stechen, ist Vorsicht notwendig; ich pflücke von einer Salbei ein Blatt und fasse mit dem Blatt die Biene. Ein plötzlicher, unerträglicher Schmerz durchdringt mich. Heulend laufe ich durch den Hof in die Werkstatt, zu Iwan Wassiljewitsch. Er zieht den Stachel heraus und bestreicht den Finger mit einer rettenden Flüssigkeit.

Iwan Wassiljewitsch besaß ein Glas, in dem in Sonnenblumenöl Taranteln schwammen. Das galt als sicherstes Mittel gegen Stiche. Ich fing die Taranteln zusammen mit Witja Gertopanow. Zu diesem Zweck wurde an einem Faden ein Stückchen Wachs befestigt und in das Erdloch hinabgelassen. Die Tarantel klammerte sich mit den Beinchen an das Wachs und blieb kleben. Dann war nur nötig, sie in eine leere Streichholzschachtel hineinzutun. Übrigens fällt wohl die Jagd auf die Tarantel in eine spätere Zeit.

Ich erinnere mich einer Unterhaltung der Erwachsenen an einem langen winterlichen Teeabend: wie und wann Janowka gekauft wurde, wie alt damals die Kinder waren und wann Iwan Wassiljewitsch den Dienst angetreten hatte. Die Mutter sagt: „Ljowa haben wir aus dem Vorwerk fix und fertig gebracht“, und sieht mich dabei schelmisch an. Ich mache im stillen Schlußfolgerungen und sage dann laut: „Dann bin ich also auf dem Vorwerk geboren?“ „Nein“, sagt man mir, „du wurdest hier in Janowka geboren.“

„Aber Mama sagt doch, daß man mich fix und ffertig hierher gebracht hat?““Das hat Mutter nur so gesagt, sie hat einen Scherz gemacht“ ... Ich bin unbefriedigt und denke, daß es e in seltsamer Scherz sei, aber ich schweige, weil ich auf den Gesichtern der Erwachsenen jenes besondere Lächeln der Eingeweihten entdecke, das ich nicht ausstehen kann. Aus diesen Erinnerungen beim winterlichen Tee, wo niemand Eile hat, entsteht die Chronologie. Ich bin im Oktober, am 26., geboren. Also sind meine Eltern aus dem Vorwerk im Frühling oder im Sommer 1879 nach Janowka übergesiedelt. Das Jahr meiner Geburt war das Jahr der ersten Dynamitanschläge gegen den Zarismus. Die kurz vorher entstandene terroristische Partei der „Narodnaja Wolja“ beschloß am 26. August 1879 – zwei Monate bevor ich zur Welt kam – das Todesurteil gegen Alexander II. Am 19. November war schon das Dynamitattentat auf den Zarenzug ausgeführt. Es begann der schreckliche Kampf, der am 1. März 1881 zur Ermordung Alexanders II., aber gleichzeitig auch zur Vernichtung der „Narodnaja Wolja“ selbst führte. Ein Jahr vorher war der russisch-türkische Krieg beendet worden. Im August 1879 legte Bismarck den Grundstein zum deutsch-österreichischen Bündnis. Zola veröffentlichte in diesem Jahre einen Roman, in dem der zukünftige Organisator der Entente, der damalige Prinz von Wales, als ein feiner Kenner der Operettensängerinnen gezeichnet wird (Nana). Der Sturm der Reaktion, der sich in der europäischen Politik seit dem preußisch-französischen Krieg und der Niederwerfung der Pariser Kommune verstärkt hatte, nahm noch nicht ab. In Deutschland fiel die Sozialdemokratie bereits unter die Bismarckschen Ausnahmegesetze. Victor und Louis Blanc brachten im Jahre 1879 in der französischen Kammer die Amnestieforderung für die Kommunarden ein.

Aber weder der Widerhall der parlamentarischen Debatten noch diplomatischen Akte, sogar nicht der Dynamitexplosionen erreichte das Dorf Janowka, wo ich das Licht der Welt erblickte und die ersten neun Jahre meines Lebens zubrachte. In den unermeßlichen Steppen des Gouvernements Cherson und der gesamten Noworoßja führte das Reich des Weizens und der Schafe sein eigenes Leben nach besonderen Gesetzen. Es war gegen das Eindringen der Politik durch seine Ausdehnung und das Fehlen der Wege sicher geschützt. Unzählige Steppenhügel blieben hier als Wahrzeichen der großen Völkerwanderung erhalten.

Mein Vater war Gutsherr, zuerst ein kleinerer, dann ein größerer. Als Knabe hatte er mit seiner Familie den jüdischen Flecken im Gouvernement Poltawa verlassen, um in den freien Steppen des Südens das Glück zu suchen. In den Gouvernements Cherson und Jekaterinoslaw gab es damals etwa vierzig jüdische landwirtschaftliche Kolonien mit einer Bevölkerung von annähernd 25.000 Seelen. Die jüdischen Landwirte waren den Bauern nicht nur in den Rechten, sondern auch in der Armut gleichgestellt (bis zum Jahre 1881). Durch unermüdliche, harte, unerbittliche eigene und de Arbeit am Anfang der ersten Besitzanhäufung kam mein Vater allmählich hoch.

Das Standesamtsregister wurde in der Kolonie Gromoklej nicht besonders sorgfältig geführt. Vieles würde nachträglich eingetragen. Als ich in eine Mittelschule kommen sollte und es sich herausstellte, daß ich zu jung war, verlegte man meine Geburt in der Urkunde aus dem Jahre 1879 auf das Jahr 1878. Deshalb wurde über Alter stets eine doppelte Rechnung geführt: eine offizielle und eine private.

Die ersten neun Jahre meines Lebens habe ich die Nase fast nicht aus dem väterlichen Dorfe hinausgesteckt. Es hieß Janowka nach dem Namen des Gutsbesitzers Janowski, von dem das Land gekauft worden war. Der alte Janowski hatte es vom einfachen Soldaten bis zum Obersten gebracht; er kam unter Alexander II. in die Gunst der Vorgesetzten und erhielt zur Auswahl 500 Deßjatinen Land in den noch nicht besiedelten Steppen des Gouvernements Cherson. Er hatte sich in der Steppe eine strohgedeckte Lehmhütte und ebenso primitive Hofgebäude erbaut. Mit der Wirtschaft ging es bei ihm nicht vorwärts. Nach dem Tode des Obersten siedelte die Familie nach Poltawa über. Mein Vater kaufte von Janowski über 100 Deßjatinen und pachtete etwa 200 Delßjatinen hinzu. An die Frau Oberst, eine ausgetrocknete Alte, erinnere ich mich noch lebhaft: sie pflegte ein- oder zweimal im Jahre zu kommen, um das Pachtgeld in Empfang zu nehmen und nachzusehen, ob alles auf seinem Platz war. Man schickte Pferde zum Bahnhof, sie abzuholen, und stellte einen Stuhl vor die Anfahrt, damit sie aus dem gefederten Planwagen leichter herauskommen könnte. Einen Phaethon schaffte sich der Vater erst viel später an, als er sich auch Hengste zum Ausfahren zulegte. Der alten Frau Oberst kochte man Bouillon aus Huhn und weichen Eierchen. Während sie mit meiner Schwester im Garten spazierenging, kratzte die Oberstin mit den trockenen Nägeln erstarrtes Harz vom Baumstamm ab und versicherte, das sei die schönste Nascherei.

Die Anbauflächen erweiterten sich, die Zahl der Pferde und des Viehs nahm zu. Man versuchte Merinoschafe einzuführen, doch glückte die Sache nicht. Dafür gab es viele Schweine. Sie bewegten sich im Hof frei herum, durchwühlten die ganze Umgegend und vernichteten völlig den Garten. Die Wirtschaft wurde sorgsamst geführt, aber nach alter Art. Welcher Landwirtschaftszweig gewinnbringend, welcher verlustreich war, konnte man nur durch Augenschein feststellen. Aus demselben Grund war es auch schwer, das Vermögen abzuschätzen. Alle Mittel waren in der Erde, in den Ähren, im Korn, das Korn lag in den Kammern oder war nach den Häfen unterwegs. Manchmal erinnerte sich plötzlich der Vater beim Tee oder beim Abendbrot: „Schreibt mal aut, ich habe heute vom Kommissionär 1.300 Rubel bekommen: der Oberstin schickte ich davon 660, 400 gab ich Dembowski, ja und dann schreibt noch auf, daß ich Feodoßja Antonowna 100 Rubel gegeben habe, als ich im Frühling in Jelissawetgrad war ...“ So ungefähr wurde die Buchhaltung geführt. Aber trotzdem arbeitete sich der Vater langsam und beharrlich hoch.

Wir wohnten in der gleichen Lehmhütte, die der alte Oberst erbaut hatte. Das Dach war aus Stroh mit unzähligen Sperlingsnestern unter dem Sims. Die Wände zeigten von außen tiefe Risse, in denen Nattern nisteten. Man hielt sie manchmal für Schlangen und goß heißes Wasser aus dem Samowar in die Risse, aber vergeblich. Bei starkem Regen drang das Wasser durch die niedrigen Dächer, besonders im Flur: man stellte auf den Erdfußboden Schüsseln und Becken. Die Zimmer waren klein, die Fensterscheiben trübe, in den zwei Schlafzimmern und im Kinderzimmer waren die Fußboden aus Lehm, in dem die Flöhe gut gediehen. Das Eßzimmer hatte man mit einem Bretterfußboden ausgelegt, den man einmal in der Woche mit gelbem Sand abrieb. Im Hauptzimmer, das acht Schritte lang war und feierlich Saal genannt wurde, war der Fußboden gestrichen. Dort wurde die Frau Oberst untergebracht Im Gärtchen vor dem Hause wuchsen gelbe Akazien, weiße und rote Rosen, im Sommer rankten sich Feuerbohnen hoch. Der Hof war nicht umzäunt. Das große Lehmgebäude mit dem Ziegeldach, das schon Vater gebaut atte, enthielt: Werkstatt, Wirtschaftsküche und Gesindestube. Dann folgte der „kleine“ Holzspeicher, dahinter der „große“ Holzspeicher, ferner der „neue“ Speicher, alles mit Schilf gedeckt. Damit das Wasser nicht eindringen und das Getreide nicht stockig werden konnte, wurden die Speicher auf Steine gestellt. In Hitze und Frost hielten sich hier, zwischen dem Erdboden und den Brettern, die Hunde, die Schweine und das Hausgeflü-gel auf. Die Hühner fanden dort verborgene Winkel, um Eier zu legen. Ich habe nicht selten, auf dem Bauche zwischen den Steinen kriechend, Hühnereier herausgeholt: ein Erwachsener konnte sich da nicht durchzwängen. Auf dem Dache des großen Speichers nisteten alljährlich die Störche. Ihre roten Schnäbel zum Himmel erhebend, schluckten sie Nattern und Frösche. Das ist unheimlich! Der Körper der Ringelnatter windet sich aus dem Schnabel, und es scheint, als fresse die Schlange den Storch von innen auf.

Im Speicher, der in Kornkammern eingeteilt ist, liegen frischer, duftender Weizen, rauhstachelige Gerste, flacher, glitschiger, fast flüssiger Flachssamen, schwarze, bläulich schimmernde Rapsperlen, dünner, leichter Hafer.

Wenn die Kinder Versteck spielen, ist es erlaubt – nicht immer, sondern nur, wenn hoher Besuch da ist –, sich in den Speichern zu verstecken. Ich steige über den Verschlag der Kornkammer, klettere auf einen Weizenhügel und krieche auf der anderen Seite hinunter. Die Arme verschwinden bis zu den Ellenbogen, die Beine bis zu den Knien in der auseinanderfließenden Masse, die häufig löcherigen Schuhe und das Hemd an der Brust füllen sich mit Körnern. Die Tür des Speichers wird zugemacht; um zu täuschen, hängt jemand ein Schloß vor, das allerdings nicht abgeschlossen wird, – so erfordern es die Spielregeln. Ich liege in der Kühle des Speichers, im Getreide vergraben, atme den Pflanzenstaub ein und höre, wie Senja W. oder Senja Sch. oder Senja S. oder die Schwester Lisa oder sonst irgendwer im Hofe herumirrt, diejenigen, die sich versteckt haben, findet, mich aber, der ich im frischen Weizen untergetaucht bin, nicht entdeckt.

Pferde-, Kuh- und Schweineställe, der Geflügelverschlag befanden sich auf der anderen Seite des Hauses. Das alles war primitiv aus Lehm, Reisig und Stroh zusammengeleimt. Hundert Schritt vom Hause entfernt streckte sich ein hoher Ziehbrunnen zum Himmel. Dahinter lag ein Teich, der die bäuerlichen Gärten umspülte. Der Damm wurde in jedem Frühling vom Wasser niedergerissen, und man mußte ihn immer wieder befestigen: mit Stroh, Erde und Dünger. Auf einer Anhöhe bei dem Teich stand die Mühle. Eine Holzbaracke barg eine Dampfmaschine von zehn Pferdekräften und zwei Gängen. Hier verbrachte die Mutter in den ersten Jahren meiner Kindheit den größten Teil ihres mühevollen Lebens. Die Mühle arbeitete nicht nur für das Gut, sondern für die ganze Umgegend. Die Bauern brachten das Getreide aus Entfernungen von 10 bis 15 Werst heran und bezahlten für das Mahlen ein Zehntel. In der heißen Zeit, vor dem Dreschen, arbeitete die Mühle vierundzwanzig Stunden am Tage, und als ich rechnen und schreiben gelernt hatte, mußte ich manchmal das Bauemgetreide wiegen und ausrechnen, wieviel für das Mahlen zu entrichten war. Hatte man die Ernte eingebracht, dann wurde die Mühle geschlossen; die Dampfmaschine wurde jetzt zum Dreschen verwendet. Später allerdings stellte man einen unbeweglichen Motor auf. Das neue Gebäude der Mühle war aus Stein und hatte ein Ziegeldach. Auch die herrschaftliche Hütte wurde durch ein großes Backsteinhaus mit Wellblechdach ersetzt. Doch das alles geschah, als ich beinah schon siebzehn Jahre alt war. Während meiner letzten Ferien versuchte ich, den Abstand zwischen den Fenstern und die Maße der Türen zu berechnen, doch konnte ich damit nicht fertig werden. Bei meinem nächsten Aufenthalt im Dorf sah ich schon das steinerne Fundament Im Hause zu leben, hatte ich nicht mehr Gelegenheit. Jetzt befindet sich darin eine Sowjetschule ...

Auf das Mahlen mußten die Bauern manchmal wochenlang warten. Wer näher wohnte, stellte die Säcke in der Reihe auf und fuhr nach Hause. Die entfernter Wohnenden lebten auf den Wagen und schliefen bei Regen auf den Säcken in der Mühle.

Einem der Bauern, der zum Mahlen gekommen war, verschwand einmal ein kleiner Zaum. Jemand hatte gesehen, wie ein Bengel von außerhalb sich an dem fremden Pferde zu schaffen gemacht hatte. Man stürzte hin, untersuchte den Wagen seines Vaters und fand im Heu das Zäumchen. Der Vater des Jungen, ein bärtiger, düsterer Bauer, bekreuzigte sich mit dem Gesicht gegen Osten und schwur, daß der verfluchte Bengel, dieser Sträfling, es selbst auseheckt hätte und daß er ihm dafür die Gedärme aus dem Leibe reißen werde. Man glaubte aber dem Vater nicht. Der Bauer faßte den Sohn am Kragen, warf ihn auf die Erde und schlug mit dem gestohlenen Zaum auf ihn ein. Hinter dem Rücken der Erwachsenen beobachtete ich diese Szene. Der Junge schrie und schwur, er werde es nicht wieder tun. Ringsherum standen die Onkelchen, hörten gleichgültig das Heulen des Halbwüchsigen mit an, rauchten selbstgedrehte Zigaretten und brummten in den Bart, daß der Bauer nur aus List, nur zur Ablenkung den Bengel peitsche und daß man gleichzeitig auch den Vater auspeitschen sollte.

Hinter den Speichern und den Ställen standen Schuppen, das heißt, es waren riesige, einige siebzig Fuß lange Schutzdächer – eins aus Schilf, das andere aus Stroh –, die auf Pfählen über der Erde standen und keine Wände hatten. In diesen Schuppen wurden Berge von Korn aufgeschüttet, bei Regen oder Sturm arbeitete man dort mit Worfelmaschine oder mit Sieb. Hinter den Schuppen lag die Tenne, wo das Getreide gedroschen wurde. Weiter, hinter einem Graben, die Hürde für das Vieh, die völlig aus getrocknetem Mist hergestellt war.

Mit der Hütte des Obersten und mit dem alten Sofa im Eßzimmer ist für mich mein ganzes Kindheitsleben verbunden. Auf diesem Sofa, das mit mahagonumitiertem roten Furnierholz belegt war, saß ich beim Tee, beim Mittagessen, beim Abendbrot, spielte mit meiner Schwester mit Puppen, und in späterer Zeit las ich auf dem Sofa. An zwei Stellen war der Bezug zerrissen. Ein kleineres Loch auf der Seite, wo Iwan Wassiljewitschs Sessel stand, und ein größeres Loch, wo ich neben dem Vater saß. „Es ist Zeit, das Sofa mit neuem Tuch zu beziehen“, sagt Iwan Wassiljewitsch. „Schon längst Zeit“, antwortet die Mutter. „Wir haben das Sofa seit dem Jahr, da man den Zaren ermordete, nicht neu bezogen.“ „Ja, wißt ihr“, rechtfertigt sich der Vater, „kommt man in die verfluchte Stadt, läuft da hin und her, ist der Kutscher bärbeißig, dann denkt man nur, wie man am schnellsten wieder heimkommt, und da vergißt man alle Einkäufe.“

Durch das ganze Eßzimmer zog sich unter der niedrigen Decke ein weißgetünchter Balken, auf den man die verschiedensten Gegen-stände stellte und legte: Teller mit Eßsachen, damit sie die Katze nicht fresse, Nägel, Schnüre, Bücher, ein mit Papier zugepfropftes Tintenfaß, einen Federhalter mit einer alten verrosteten Feder. An Federn war kein Überfluß, Es gab Wochen, wo ich mit einem Tischmesser eine Feder aus Holz schnitzte, um damit die Pferdchen aus den alten Nummern der illustrierten 'Niwa' abzuzeichnen. Oben, unter der Decke, wo ein Vorsprung für den Rauchfang war, wohnte die Katze. Dort hatte sie ihre Jungen geworfen, und von dort brachte sie sie zwischen den Zähnen mit einem kühnen Sprung hinunter, wenn es zu heiß wurde. Gäste von hohem Wuchs stießen unvermeidlich mit dem Kopf an den Tragbalken an wenn sie vom Tisch aufstanden, und es war deshalb Sitte, die Gäste zu warnen: „Vorsicht, Vorsicht“, und mit der Hand nach oben, zur Decke zu zeigen.

Der bemerkenswerteste Gegenstand im kleinen Saal war das Klavier, das nicht weniger als ein Viertel des Zimmers einnahm, Dieser Gegenstand kam ins Haus zu einer Zeit, an die ich mich schon erinnere. Eine ruinierte Gutsbesitzerin, die von uns fünfzehn bis zwanzig Werst entfernt wohnte, siedelte in die Stadt über und verkaufte ihre Einrichtung. Bei ihr kaufte man ein Sofa, drei Wiener Stühle und ein altes zerbrochenes Klavier, das schon lange mit zerrissenen Saiten auf dem Speicher gestanden hatte. Für das Klavier bezahlte man sechzehn Rubel und brachte es auf einem Wagen nach Janowka. Als man es in der Werkstatt auseinandernahm, fand man unter dem Resonanzboden zwei tote Mäuse. Mehrere Winterwochen war die Werkstatt mit dem Klavier beschäftigt. Iwan Wassiljewitsch putzte, kleisterte, polierte, holte die Saiten hervor, spannte sie, stimmte sie. Alle Tasten wurden wiederhergestellt, und das Klavier ertönte im Saal mit zwar welken, aber unwiderstehlichem Klang. Iwan Wassiljewitsch verlegte seine wundertätigen Finger vom Blasebalg der Harmonika auf die Tasten des Klaviers und spielte die Kamarinskaja, eine Polka und Mein lieber Augustin. Die ältere Schwester begann Musik zu studieren. Manchmal klimperte der ältere Bruder, der in Jelissawetgrad einige Monate Geige spielen gelernt hatte. Schließlich fing auch ich an, nach den Geigennoten des Bruders mit einem Finger auf dem Klavier zu klimpern. Gehör hatte ich nicht, und meine Liebe zur Musik blieb blind und hilflos für alle Zeiten.

Im Frühling verwandelte sich der Hof in ein Meer von Schmutz. Iwan Wassiljewitsch fertigte sich Holzgaloschen, richtige Kothurne, an, und ich beobachtete entzückt aus dem Fenster, wie er darin fast um einen halben Arschin über sein gewöhnliches Maß höher wurde. Bald erscheint auf dem Gut ein greiser Sattler. Wahrscheinlich kennt niemand seinen Namen. Er ist über achtzig Jahre alt. Ein „Nikolaischer“ (Nikolaus I.) Soldat. Er hat fünfundzwanzig Jahre in der Armee gedient. Riesengroß, breitschultrig, mit weißem Bart und weißen Haaren, geht er, die schweren Beine mit Mühe hebend, zum Speicher, wo er seine bewegliche Werkstatt eingerichtet hat ... „Schwach werden die Beine“, klagt bereits seit zehn Jahren der Alte. Dafür sind seine Hände, die nach Leder riechen, fester als Eisenzangen. Die Fingernägel, wie Tasten aus Elfenbein, sind an den Enden sehr spitz.

„Willst du, dann zeige ich dir Moskau!“ sagt der Alte. Ich will natürlich. Der Alte faßt mit den großen Fingern mir unter die Ohren und hebt mich hoch. Ich spüre die Berührung der schrecklichen Nägel; es schmerzt mich, und ich bin gekränkt. Ich strampele mit den Beinen und verlange, hinuntergelassen zu werden. „Du willst nicht?“ sagte der Alte. „Dann nicht.“ Trotz der erlittenen Kränkung gehe ich nicht von ihm weg.

„Steig mal auf die Leiter zum Speicher und schau, was dort auf dem Boden geschieht.“ Ich ahne eine Falle und zögere. Es stellt sich heraus, auf dem Boden ist der jüngere Müller Konstantin mit der Köchin Katjuscha. Beide sind schön, lustig, beide sind Arbeitskerle. „Wann wirst du dich mit Katjuscha trauen lassen?“ fragt die Gutsfrau den Konstantin.

„Uns geht es auch so gut“, antworet Konstantin. „Trauen lassen – heißt zehn Rubel hinlegen, dafür kaufe ich doch lieber der Katja Schuhe.“

Nach dem heißen, anspannenden Steppensommer mit seinem Höhepunkt, der Einbringung der Ernte, die sich weit vom Hause abspielt, naht der frühe Herbst, mit seinem Fazit aus dem Jahr der Zuchthausarbeit. Das Dreschen ist in vollem Gange. Der Mittelpunkt des Lebens wird auf die Tenne verlegt, die ungefähr 114 Werst vom Hause entfernt liegt. Über der Dreschtenne steht eine Wolke Strohstaub. Die Trommel der Dreschmaschine heult. Der Müller Filipp mit der Brille steht an der Dreschmaschine bei der Trommel. Sein schwarzer Bart ist mit grauem Staub bedeckt. Vom Wagen herab reicht man ihm Garben zu, er nimmt sie, ohne hinzusehen, löst die Bünde, lockert die Garbe und läßt sie in die Trommel gleiten. Schon hat die Trommel eine Handvoll hineingerissen und heult auf wie ein Hund, der einen Knochen erhascht hat. Die Strohschleudern werfen Stroh hinaus, im Lauf damit spielend.

Von der Seite, aus dem Ärmel, rinnt die Spreu. Mit der Winde wird das Stroh zum Schober gebracht, ich stehe auf dem Bretterrand und halte mich an der Leine. „Paß auf, fall nicht!“ ruft der Vater. Ich falle aber schon zum zehntenmal bald in das Stroh, bald in die Spreu. Eine graue Staubwolke verdichtet sich über der Tenne, die Trommel heult, die Spreu dringt unter das Hemd, in die Nase, man muß niesen. „He, Filipp, langsamer!“ warnt unten der Vater, wenn die Trommel plötzlich zu wütend zu dröhnen beginnt. Ich packe die Winde an, sie reißt sich mit ihrem ganzen Gewicht los und schlägt mir auf einen Finger. Der Schmerz ist so stark, daß plötzlich alles vor den Augen verschwindet. Verstohlen krieche ich beiseite, damit man nicht sieht, daß ich weine, dann laufe ich nach Haus. Die Mutter gießt mir kaltes Wasser auf die Hand und verbindet den Finger. Der Schmerz nimmt nicht ab. Der Finger ist mehrere qualvolle Tage lang geschwollen.

Säcke mit Weizen füllen Speicher, Tennen und werden schichtweise unter einer Plane im Hof aufgestapelt. Der Gutsherr stellt sich oft selbst an das Sieb zwischen den Stangen und zeigt, wie das Schwungrad gedreht werden muß, damit die Spreu hinausgeweht, und wie dann durch einen kurzen Stoß das gesäuberte Korn aus dem Sieb restlos auf eine Plane geschüttet wird. In den Tennen und unter dem Speicher, wo es Schutz gegen Wind gibt, drehen sich die Worfelmaschinen und die Kornsortierer. Das Korn wird gereinigt, für den Markt vorbereitet.

Es erscheinen Aufkäufer mit Messinggefäßen und -waagen in sauber lackierten Kisten. Sie prüfen das Getreide, bieten einen Preis und suchen einen Vorschuß aufzudrängen. Man empfängt sie höflich, bewirtet sie mit Tee und Butterzwieback, aber das Korn verkauft man ihnen nicht. Sie schwimmen zu flach. Der Gutsherr ist über diese Wege des Handels hinausgewachsen. Er hat seinen Kommissionär, in Nikolajew. „Mag es noch eine Weile liegen“, antwortete der Vater, „das Korn verlangt kein Essen.“ Nach acht Tagen kommt ein Brief aus Nikolajew, manchmal auch ein Telegramm: der Preis sei um fünf Kopeken für das Pud gestiegen. „Nun haben wir tausend Rubel gefunden“, sagt der Gutsherr, „sie liegen nicht auf der Straße herum.“ Es kam manchmal auch umgekehrt: die Preise fielen. Die geheimnisvollen Kräfte des Weltmarktes fanden den Weg auch nach Janowka. Aus Nikolajew zurückkehrend, pflegte der Vater finster zu sagen: „Man sagt, daß ... wie heißt es doch ... Argentinien viel Getreide in diesem Jahre auf den Markt geworfen hat.“

Im Winter ist es im Dorfe still. In vollem Betrieb sind nur Mühle und Werkstatt. Man heizt mit Stroh, das die Dienstboten in großen Haufen heranbringen, dabei verstreuen sie es auf dem Wege und müssen es hinterher jedesmal zusammenkehren. Es ist lustig, das Stroh in den Ofen zu stecken und zuzuschauen, wie es aufflammt. Eines Tages fand Onkel Grigorij mich und die jüngere Schwester Olja allein im Eßzimmer, das vom Ofendunst blau war. Ich taumelte in der Mitte des Zimmers herum, ohne die Gegenstände zu erkennen, und fiel auf das Anrufen des Onkels in tiefe Ohnmacht.

An Wintertagen blieben wir häufig allein im Haus, besonders während der Reisen des Vaters, wo dann die ganze Wirtschaft auf der Mutter lastete. Manchmal saß ich in der Dämmerung mit dem Schwesterchen eng aneinandergeschmiegt auf dem Sofa mit weit geöffneten Augen; wir hatten Angst, uns zu rühren. Manchmal trat aus der Kälte in das dunkde Eßzimmer ein Riese, in gigantischen Filzstiefeln knarrend, in einem gigantischen Pelz, mit gigantischem Kragen, Mütze und Fausthandschuhen an den Händen, Eiszapfen im Bart und rief mit einer gigantischen Stimme in das Dunkel hinein: „Guten Abend.“ Nebeneinander in der Sofaecke wie erstarrt, fürchteten wir uns, den Gruß zu erwidern. Dann entzündete der Riese ein Streichholz und entdeckte uns in der Ecke. Es stellte sich heraus, daß es unser Nachbar war. Manchmal wurde die Einsamkeit im Eßzimmer völlig unerträglich, dann lief ich trotz der Kälte in deb Außenflur hinaus, öffnete die Türe, sprang auf den Stein – den großen flachen Stein vor der Schwelle – und schrie von dort in die Dunkelheit: „Maschka, Maschka, komm ins Eßzimmer, komm ins Eßzimmer!“ Viele, viele Male, denn Maschka war zu dieser Zeit in der Küche, in der Gesindestube oder irgendwo anders mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Schließlich kam die Mutter aus der Mühle, zündete die Lampe an, und der Samowar tauchte auf.

Am Abend blieben wir gewöhnlich im Eßzimmer, bis wir einschliefen. Man kam und ging, holte und brachte Schlüssel, am Tische wurden Befehle erteilt, man traf Vorbereitungen für den morgigen Tag. Ich, die jüngere Schwester Olja und die ältere, Lisa, teils auch das Stubenmädehen führten in diesen Stunden ein von den Erwachsenen abhängiges und von ihnen unterdrücktes eigenes Leben. Manchmal weckte ein von einem Erwachsenen gesprochenes Wort in uns besondere Erinnerungen. Ich zwinkere dann dem Schwesterchen zu, sie kichert verstohlen; jemand von den Erwachsenen blickt sie zerstreut an. Ich zwinkere ihr wieder zu, sie bemüht sich das Lachen unter dem Wachstuch zu verbergen und stößt mit der Stirn gegen den Tisch. Das steckt mich an, manchmal auch die ältere Schwester, die unter Wahrung ihrer dreizehnjährigen Würde zwischen den Kleinen und den Großen laviert. Wenn das Lachen zu stürmisch durchbrach, mußte ich unter den Tisch gleiten, mich zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurchwinden und, nachdem ich der Katze auf den Schwanz getreten, mich in das Nebenzimmer durchkämpfen, welches Kinderzimmer hieß. Nach wenigen Minuten ging alles von neuem los. Vom Lachen wurden die Finger zittrig, daß man das Glas nicht festhalten konnte. Kopf, Lippen, Arme, Beine, alles löste sich auf und zerfloß im Gelächter. „Was habt ihr?“ fragte die müde Mutter. Zwei Lebenskreise, der obere und der untere, kreuzten sich für einen Augenblick. Die Erwachsenen betrachteten die Kinder, manchmal wohlwollend, häufiger gereizt. Dann platzte das plötzlich überraschte Lachen stürmisch hinaus. Olja versteckte den Kopf wieder unter dem Tisch, ich fiel auf das Sofa, Lisa biß sich die Unterlippe, das Stubenmädchen verschwand hinter der Türe.

„Geht nun schlafen!“ sagten die Erwachsenen.

Aber wir gingen nicht weg, sondern versteckten uns in den Winkeln und fürchteten, einander anzusehen. Das Schwesterchen wurde weggetragen, ich schlief gewöhnlich auf dem Sofa ein. Jemand nahm mich dann auf den Arm. Im Halbschlaf begann ich manchmal laut zu heulen. Mir schien, daß mich Hunde umringten, oder daß aus der Tiefe Schlangen zischten oder Räuber mich in den Wald wegtrugen. Der kindliche Alpdruck drang in das Leben der Erwachsenen ein. Man beruhigte mich unterwegs, streichelte und küßte mich. So glitt ich aus Lachen in Schlaf, aus Schlaf in Alpdruck, aus dem Alpdruck ins Erwachen und dann wieder in Schlaf, jetzt aber schon in den Federbetten des warmgehaltenen Schlafzimmers liegend.

Der Winter war dennoch die Jahreszeit, wo die Familie am engsten zusammenlebte. Es gab Tage, an denen Vater und Mutter das Zimmer fast nicht verließen. Der ältere Bruder und die Schwester kamen zu Weihnachten aus ihren Schulen an. Am Sonntag pflegte der sauber gewaschene und gekämmte Iwan Wassiljewitsch, mit Schere und Kamm bewaffnet, uns das Haar zu schneiden, zuerst dem Vater, dann dem Realschüler Sascha, schließlich mir. Sascha fragt:

„Können Sie, Iwan Wassiljewitsch, das Haar à la Capule schneiden?“ Alle blicken auf Sascha, und dieser erzählt, wie ihn in Jelissawetgrad der Friseur fabelhaft à la Capule geschnitten habe, aber am nächsten Tage habe ihm der Schulinspektor einen strengen Verweis erteilt. Nach dem Haarschneiden setzt man sich zum Mittagessen. Vater und Iwan Wassiljewitsch an den beiden Enden des Tisches in Sesseln, die Kinder auf dem Sofa, die Mutter ihnen gegenüber. Iwan Wassiljewitsch aß gemeinsam mit der Gutsherrschaft, bis er sich verheiratete. Im Winter verlief das Essen langsamer, nach Tisch unterhielt man sich. Iwan Wassiljewitsch rauchte und blies kunstvolle Ringe in die Luft. Manchmal mußte Sascha oder Lisa laut vorlesen. Vater druselte auf der Ofenbank ein und wurde dabei ertappt. Abends setzte man sich manchmal hin, Schwarzen Peter zu spielen, da gab es viel Aufregung und Lachen, mitunter auch kleine Streitereien. Als besonders verlockend galt es, Vater zu bemogeln, der unaufmerksam spielte und lachte, wenn er verloren hatte, zum Unterschiede von der Mutter, diebesser spielte, sich aufregte und eifrig darauf achtete, daß der ältere Bruder sie nicht beschwindelte.

Von Janowka bis zum nächsten Postamt sind 23 Kilometer, bis zur nächsten Eisenbahnstation über 35 Kilometer. Von hier ist es weit bis zu einer Behörde, bis zu den Kaufläden, bis zu den städtischen Zentren, und noch weiter ist's bis zu den großen historischen Ereignissen. Das Leben wird hier ausschließlich vom Rhythmus der Landarbeit reguliert. Alles andere schien gleichgültig. Alles andere, außer den Preisen auf dem Getreideweltmarkt. Zeäungen und Zeitschriften gab es im Dorfe in jenen Jahren nicht: das kam später, als ich schon Realschüler war. Briefe kamen selten an, mit „Okkasionen“. Manches Mal trug ein Nachbar, der in Bobrinez einen für uns bestimmten Brief mitgenommen hatte, ihn eine Woche, auch zwei Wochen in der Tasche herum. Der Empfang eines Briefes war ein Ereignis, der Empfang eines Telegramms eine Katastrophe.

Man hatte mir erklärt, daß ein Telegramm durch einen Draht gehe, aber ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, daß ein berittener Bote aus Bobrinez das Telegramm brachte, dem dafür 2 Rubel 50 Kopeken gezahlt werden mußten. Ein Telegramm ist ein Papierchen wie ein Brief, auf dem mit Bleistift Worte geschrieben stehen. Wie kann das durch einen Draht gehen, vielleicht mit dem Wind? Man antwortete mir: durch Elektrizität. Das war noch schlimmer. Onkel Abram erklärte mir einmal eindringlich: „Durch den Draht geht ein Strom und macht Zeichen auf einem Band. Wiederhole.“ Ich wiederholte: „Strom durch einen Draht und Zeichen auf einem Band.“ „Verstanden?“ „Verstanden.“ „Aber wie entsteht dann ein Brief?“ fragte ich, während ich an das Telegrammformular dachte, das aus Bobrinez angekommen war. „Der Brief geht separat“, antwortete der Onkel. Ich begriff nicht, wozu dann der Strom nötig war, wenn der „Brief“ auf einem Pferd reitet. Der Onkel wurde böse: „Laß den Brief in Ruhe“, schrie er mich an. „Ich erkläre dir das Telegramm, und du kommst mir immer wieder mit dem Brief.“ So blieb die Frage ungeklärt.

Es war bei uns eine junge Dame aus Bobrinez zu Besuch, Polina Petrowna, mit großen Ohrringen und einer Haartolle, die über die Stirn hing. Mama brachte sie später nach Bobrinez zurück, und ich fuhr mit. Als wir den Hügel bei der elften Werst passierten, wurden Telegraphenstangen sichtbar, und der Draht begann zu summen. „Wie geht ein Telegramm?“ wandte ich mich an Mutter. „Bitte Polina Petrowna, sie wird es dir erklären“, antwortete Mutter verlegen. Polina Petrowna erklärte: „Die Zeichen auf dem Band bedeuten Buchstaben, ein Telegraphist schreibt sie auf ein Papier, und das Papier bringt dann ein Reiter.“ Das war verständlich. Und wie ist es mit dem Strom, man sieht doch nichts“ fragte ich, den Draht betrachtend. „Der Strom geht innen“, antwortete Polina Petrowna. „Alle diese Drähte sind wie Röhrchen gemacht, und in ihrem Innern fließt der Strom.“ Das war ebenfalls verständlich. Ich war für lange Zeit beruhigt. Die elektromagnetischen Flüssigkeiten, von denen ich etwa vier Jahre später durch meinen Physiklehrer hörte, erschienen mir viel weniger verständlich.

Vater und Mutter haben ihr arbeitsames Leben nicht ohne Reibungen durchlebt, im großen und ganzen sehr kameradschaftlich, obwohl sie verschiedenartige Menschen waren. Mutter entstammte einer städtischen Kleinbürgerfamihe, die auf Ackerbauer mit schwieligen Händen von oben herabschaute. Vater war in seiner Jugend schön gewesen, gut gewachsen, mit einem männlichen und energischen Gesicht. Es gelang ihm, einiges zu ersparen, was ihm in den folgenden Jahren die Möglichkeit gab, Janowka zu kaufen. Aus der Gouvernementsstadt in das Steppendorf verschlagen, konnte sich die junge Frau anfangs in die harten Verhältnisse der Landwirtschaft nicht einleben, aber einmal hineingefunden, warf sie das Joch der Arbeit im Laufe von fast fünfundvierzig Jahren nicht ab. Von den acht in dieser Ehe geborenen Kindern blieben vier am Leben; Ich war das fünfte in der Geburtenreihe. Vier starben in frühen Jahren, an Diphtherie, an Scharlach, sie starben fast unmerklich, wie die am Leben Gebliebenen unmerklich lebten. Das Land, das Vieh, das Geflügel, die Mühle erforderten restlos die gesamte Aufmerksamkeit. Die Jahreszeiten wechselten sich ab, und die Wellen der landwirtschaftlichen Arbeit gingen über die Familienbeziehungen hinweg. In der Familie gab es keine Zärtlichkeiten, besonders nicht in den weiter zurückliegenden Jahren. Aber es bestand tiefe Arbeitsverbundenheit zwischen Mutter und Vater „Reich der Mutter den Stuhl“, pflegte Vater zu sagen, kaum daß die Mutter, vom weißen Staub der Mühle bedeckt, sich der Hausschwelle näherte. „Stell schnell den Samowar auf, Maschka“, schrie die Gutsfrau, noch ehe sie das Haus erreicht hatte, „bald wird der Herr vom Felde kommen.“ Beide wußten sie nur zu gut, was letzte Körpermüdigkeit bedeutete.

Der Vater stand sicherlich höher als die Mutter, sowohl dem Geist wie dem Charakter nach. Er war tiefer veranlagt, beherrschter, umgänglicher. Er hatte ein selten gutes Auge, nicht nur für Dinge, sondern auch für Menschen. Die Eltern kauften überhaupt wenig, besonders in den frühen Jahren; sowohl Vater wie Mutter wußten die Kopeken zusammenzuhalten – aber Vaterverstand untrüglich, seine Einkäufe zu machen. Tuch, ein Hut, Schuhe, ein Pferd oder eine Maschine – bei allem hatte er Gefühl für Qualität. „Ich liebe das Geld nicht“, pflegte er mir später zu sagen, gleichsam seine Hartherzigkeit entschuldigend: „Ich liebe nur nicht, wenn es fehlt.“ Er sprach falsch, ein Gemisch von Russisch und Ukrainisch, vorherrschend Ukrainisch. Die Menschen schätzte er nach ihren Manieren, ihrem Gesicht, nach ihrem ganzen Auftreten ein und schätzte sie richtig ein.

Nach den vielen Geburten und Mühen begann Mutter zu kränkeln und führ nach Charkow zum Professor Solche Reisen waren große Ereignisse, man bereitete sich lange auf sie vor. Mutter versah sich mit Geld, mit Gläsern voll Butter, mit einem Sack Butterzwieback, gebratenen Hühnern und Ähnlichem. Es standen große Ausgaben bevor. Dem Professor mußte man drei Rubel für den Besuch zahlen. Darüber sprach man untereinander und zum Besuch mit nach oben erhobenen Fingern und besonders bedeutungsvollem Gesichtsausdruck; darin war sowohl Achtung vor der Wissenschaft als Klage darüber, daß sie so teuer zu stehen käme, wie auch Stolz über die Möglichkeit, solche unerhörten Summen zu zahlen. Die Rückkehr der Mutter wurde aufgeregt erwartet. Mutter kam in einem neuen Kleid an, das in dem Janowkaschen Eßzimmer ungemein festlich wirkte.

Als die Kinder noch klein waren, behandelte sie der Vater nachsichtiger und gleichmäßiger. Die Mutter war oft gereizt, manchmal ohne Grund, sie ließ an den Kindern einfach ihre Müdigkeit oder ihre schlechte Laune über wirtschaftliche Mißerfolge aus. In jener Zeit war es ratsamer, den Vater um etwas anzugehen. Mit den Tahren aber wurde auch Vater strenger. Die Gründe lagen in den Schwierigkeiten des Lebens, den Sorgen, die mit dem Wachsen des Geschäfts zunahmen, besonders unter den Verhältnissen der Agrarkrise der achtziger Jahre, um den Enttäuschungen durch die Kinder.

An den langen Wintern, wenn der Steppenschnee Janowka von allen Seiten verwehte und fensterhoch Hügel aufschüttete, liebte die Mutter zu lesen. Sie setzte sich auf die kleine, dreieckige Ofenbank im Eßzimmer, stellte die Beine auf einen Stuhl, oder sie nahm, wenn die frühe Winterdämmerung heranrückte, am kleinen eisbedeckten Fenster in Vaters Sessel Platz und las laut flüsternd einen zerlesenen Roman aus der Bobrinezschen Bibliothek, wobei sie mit ihren abgearbeiteten Fingern über die Zeilen strich. Sie verlor oft die Worte und blieb bei kompliziert gebauten Sätzen stecken. Manchmal zeigte ihr eines der Kinder das Gelesene durch Vorsagen in ganz anderem Lichte. Doch las sie beharrlich, unermüdlich, und in den freien Stunden der stillen Wintertage konnte man schon im Flur ihr rhythmisches Flüstern vernehmen.

Der Vater hat erst als alter Mann Silben lesen gelernt, um die Möglichkeit zu haben, wenigstens die Titel meiner Bücher zu entziffern. Bewegt beobachtete ich ihn im Jahre 1910 in Berlin, als er sich beharrlich abmühte, mein Buch über die deutsche Sozialdemokratie zu verstehen. Die Oktoberrevolution fand meinen Vater als sehr wohlhabenden Menschen vor. Die Mutter war im Jahre 1910 gestorben; der Vater aber hat die Macht der Sowjets erlebt. Auf der Höhe des Bürgerkrieges, der im Süden besonders lange wütete und vom ewigen Wechsel der Regierungen begleitet war, mußte der Fünfundsiebzigjährige Hunderte von Kilometern zu Fuß zurücklegen, um vorübergehend Unterkunft in Odessa zu finden. Die Roten waren ihm, einem größeren Grundbesitzer, gefährlich. Die Weißen verfolgten ihn als meinen Vater. Nach Säuberung des Südens durch die Sowjettruppen erhielt er die Möglichkeit, nach Moskau zu kommen. Die Oktoberrevolution hat ihm natürlich alles, was er erreicht hatte, abgenommen. Über ein Jahr leitete er eine kleine staatliche Mühle bei Moskau. Gern unterhielt sich mit ihm über wirtschaftliche Fragen der damalige Volkskommissar für Ernährung, Zurjupa. Der Vater starb im Frühling 1922 im Typhus, um die Stunde, als ich auf dem IV. Kongreß der Kommunistischen Internationale einen Bericht erstattete.

 

Ein wichtiger Platz, der wichtigste Platz in Janowka, war die Werkstatt, in der Iwan Wassiljewitsch Grebenj arbeitete. Er trat den Dienst an, als er zwanzig Jahre alt war, im Jahr meiner Geburt. Alle Kinder, auch die älteren, duzte er, während wir ihn mit Sie anredeten und Iwan Wassiljewitsch nannten. Als er zum Militär einberufen wurde, fuhr Vater mit ihm hin, jemand wurde bestochen, und Grebenj blieb in Janowka. Er war ein Mensch von großen Fähigkeiten und von schönem Typus; er trug einen dunkelblonden Schnurrbart und ein französisches Bärtchen. Seine Technik war universell: er reparierte Dampfmaschinen, verrichtete Kesselarbeiten, schliff Metall- und Holzkugeln, goß Kupferlager, baute Federwagen, reparierte Uhren, stimmte das Klavier, bezog Möbel, hatte ein vollständiges Zweirad hergestellt, nur ohne Reifen. Zwischen der Vorschule und der untersten Klasse habe ich auf diesem Erzeugnis radfahren gelernt. Die deutschen Kolonisten brachten Sämaschinen und Garbenbindemaschinen zur Reparatur in die Werkstatt und baten Iwan Wassiljewitsch bei Ankäufen einer Dreschmaschine oder Dampfmaschine mitzukommen. Mit dem Vater beriet man. sich über Fragen der Wirtschaft, mit Iwan Wassiljewitsch über Fragen der Technik. In der Werkstatt gab es Gehilfen und Lehrlinge. In manchen Dingen war ich der Lehrling dieser Lehrlinge.

Wiederholt drehte ich in der Werkstatt Winden und Schrauben. Diese Arbeit machte Spaß, denn das sichtbare Resultat zeigte sich unter den Händen. Manchmal versuchte ich auf einer glattgeschliffenen Steinscheibe Farben zu reiben. Aber bald überkam mich Müdigkeit, und ich fragte dauernd, ob es noch nicht fertig wäre. Mit der Fingerspitze die fette Masse berührend, schüttelte Iwan Wassiljewitsch verneinend den Kopf. Ich überließ den Stein einem der Lehrlinge.

Manchmal setzte sich Iwan Wassiljewitsch auf den Werkzeugkasten in der Ecke, hinter dem Werktisch, rauchte und schaute ins Leere, entweder überlegte er etwas, oder er überließ sich Erinnerungen, oder aber er ruhte einfach gedankenlos aus. In solchen Fällen stahl ich mich an ihn von der Seite heran und begann zärtlich eine Hälfte seines prächtigen, dunkelblonden Schnurrbartes zu drehen, oder ich betrachtete aufmerksam seine Hände – diese ungewöhnlichen, besonderen Hände eines Meisters. Die ganze Haut war mit schwarzen Pünktchen besät: das waren die feinen Splitter, die beim Schleifen des Mühlsteins in den Körper dringen und steckenbleiben. Die Finger waren hart wie Wurzeln, aber gar nicht rauh, an den Enden breit, sehr beweglich, der Daumen stand weit ab und bildete einen Bogen. Jeder Finger schien Bewußtsein zu haben, lebte und schaffte auf eige ne Art, und alle zusammen bildeten sie eine außerordentliche Arbeitsgenossenschaft. So jung ich auch war, so sah und fühlte ich doch, daß diese Hand anders als andere Hände Hammer und Zangen hielt. An der Linken war der Daumen schräg von einer Narbe durchzogen. Am Tage meiner Geburt schlug sich Iwan Wassiljewitsch mit dem Beil über die Hand, der Finger blieb nur noch an einer Haut hängen. Der Vater bemerkte gerade noch, wie der junge Maschinist die Hand auf ein Brett legte und sich anschickte, den Finger ganz abzuhauen. „Halten Sie ein“, schrie er, „der Finger wird wieder anwachsen.“ „Wird anwachsen, denken Sie?“ fragte der Maschinist und legte das Beil weg. Der Finger wuchs tatsächlich an, arbeitete zuverlässig, konnte sich nur nicht so tief einbiegen wie der der rechten Hand.

Das alte Berdangewehr hatte Iwan Wassiljewitsch für Schrot umgearbeitet und probierte jetzt die Präzision des Anschlages: alle versuchten der Reihe nach, aus einer Entfernung von einigen Schritten durch einen Schlag auf den Piston eine Kerze auszulöschen. Nicht allen gelang es. Zufällig kam mein Vater hinzu. Als er mit dem Gewehr zielte, zitterten seine Hände, auch das Gewehr hielt er irgendwie unsicher. Nichtsdestoweniger löschte er die Kerze aus. Er hatte für jede Sache ein gutes Auge, das wußte Iwan Wassiljewitsch. Es kam zwischen ihnen niemals zu Meinungsverschiedenheiten, obwohl der Vater anderen gegenüber herrisch auftrat, häufig tadelte und viel beanstandete.

In der Werkstatt war ich niemals ohne Beschäftigung. Ich zog den Blasebalg, den Iwan Wassiljewitsch nach eigenem System eingerichtet hatte: der Ventilator war unsichtbar, da er sich oben auf dem Boden befand, und das rief das Staunen aller Besucher hervor. Ich drehte bis zur Erschöpfung das Rad der Drechselbank, besonders wenn darauf Krocketbälle aus altem Akazienholz gemacht wurden. In der Werkstatt würden meist Gespräche geführt, eins interessanter als das andere. Dabei blieb nicht immer die Schicklichkeit gewahrt. Es wäre richtiger zu sagen, sie wurde überhaupt nicht gewahrt. Mein Horizont aber erweiterte sich nicht nur täglich, sondern stündlich. Foma erzählte von den Gütern, auf denen er gearbeitet hatte, von den verschiedenen Abenteuern der Gutsbesitzer und Gutsbesitzerinnen. Man muß sagen, daß er keine große Sympathie für sie an den Tag legte. Der Müller Filipp reihte diesem Thema Erinnerungen aus seiner Militärzeit an. Iwan Wassiljewitsch stellte Fragen, schlichtete, ergänzte.

Der Heizer Jaschka, manchmal war er auch Hammerschmied, ein düsterer, rothaariger Mann von etwa dreißig Jahren, konnte es nicht lange auf ein und demselben Platz aushalten. Wenn es ihn überkam, verschwand er, mal im Herbst, mal im Frühling; nach einem halben Jahre erschien er wieder. Er trank selten, aber dann quartalsweise sehr stark. Er war ein leidenschaftlicher Jäger, hatte er sein Gewehr vertrunken. Foma erzählte, wie Jaschka in Bobrinez barfüßig, die Füße mit schwarzer Erde beklebt, in einen Laden kam, um Zündhütchen für sein Ladestockgewehr zu fordern. Absichtlich ließ er die Schachtel fallen, begann aufzusammeln, trat dabei auf ein Zündhütchen und trug es mit dem Schmutz seines Fußes weg.

„Schwindelt Foma?“ fragte Iwan Wassiljewitsch.

„Wozu schwindeln?“ antwortete Jaschka. „Ich hatte keine einzige Kopeke.“ Diese Methode, zu notwendigen Gegenständen zu kommen, erschien mir bemerkenswert und der Nachahmung würdig.

„Unser Ignat ist gekommen“, teilte das Stubenmädchen Mascha mit, „und Dunjka ist weg, ist nach Haus zum Fest gegangen.“ Der Heizer Ignat hieß unser, zum Unterschiede von dem buckligen Ignat, der vor Taras Dorfschulze gewesen war. „Unser“ Ignat fuhr zur Musterung. Iwan Wassiljewitsch selbst hatte ihm die Brust ausgemessen und gesagt: „Keinesfalls wird er genommen.“ Die Musterungskommission brachte Ignat für einen Monat zur Nachprüfung in einem Krankenhaus unter. Dort machte er Bekanntschaft mit städtischen Arbeitern und beschloß nun, in einer Fabrik sein Glück zu suchen. Ignat trug jetzt städtische Stiefel und einen Gehpelz mit farbigem Besatz, erzählte von der Stadt, von der Arbeit, von der Ordnung, von den Drehbänken, vom Lohn.

„Klar, eine Fabrik“ ... sagte grübelnd Foma.

„Eine Fabrik, das ist keine Werkstatt“, fügte Filipp hinzu.

Und alle schauten nachdenklich über die Werkstatt hinweg in die Luft.

„Viele Drehbänke?“ fragte Viktor gierig. „Wie ein Wald.“

Ich hörte, ohne mit der Wimper zu zucken, zu und stellte mir die Fabrik vor etwa wie einen dichten Wald: oben, rechts, links, unten, hinten und vorne ist nichts zu sehen, nur Maschinen und zwischen den Maschinen Ignat, mit einem Lederriemen eng umgürtet. Ignat hatte außerdem eine Uhr mitgebracht. Sie ging von Hand zu Hand. Abends schritt der Gutsherr mit Ignat auf dem Hofe hin und her, hinter ihnen der Aufseher. Ich daneben, bald an Vaters Seite, bald an der Seite Ignats. – „Nun und die Beköstigung? Kaufst du Brot? Kaufst du Milch? Zahlst du die Wohnung?“ „Gewiß. Für alles muß man zahlen, für alles“, stimmte Ignat zu ... „aber mit dem Verdienst steht es anders.“

„Ich weiß, daß es damit anders steht, aber dein ganzer Verdienst wird für den Unterhalt draufgehen.“

„Aber dennoch“, verteidigte sich Ignat mit Nachdruck, „habe ich mich in einem halben Jahr ein wenig anziehen können, habe mir eine Uhr gekauft. Hier in der Tasche liegt das Maschinchen.“ Und er zeigte wieder die Uhr. Dieser Einwand war unwiderlegbar. Der Wirt schwieg und fragte dann wieder: „Trinkst du auch nicht, Ignat? Dort sind ringsherurn genug Lehrmeister, die es einem schnell beibringen.“

„Aber ich habe ja gar kein Verlangen danach, nach diesem Wodka“

„Nun, Ignat, und wie ist es, wirst du Dunjka mitnehmen?“ fragte die Gutsherrin.

Ignat lächelte, sich schuldbewußt abwendend, schwieg aber.

„Aha, ich sehe schon, ich sehe schon“, sagte die Gutsherrin, „hast dir schon ein städtisches Luder angeschafft, gesteh es, du Luftikus.“ So reiste Ignat aus Janowka ab.

In die Gesindestube zu gehen war den Kindern verboten. Aber wer wollte das überwachen? In der Gesindestube gab es immer viel Neues. Lange Zeit war eine Frau mit knochigen Backen und eingefallener Nase Köchin. Ihr Mann, ein Greis mit einem halb gelähmten Gesicht, war Viehhirt. Sie wurden Kazapen genannt, weil sie aus einem Gouvernement im Innern des Landes waren. Dieses Ehepaar hatte ein Mädchen von etwa acht Jahren, sehr lieblich, blauäugig und blondhaarig. Sie war daran gewöhnt, daß sich ihr Vater und ihre Mutter stets zankten.

An Sonntagen beschäftigten sich die Mädchen damit, daß sie den Burschen und einander die Köpfe absuchten. Auf einem Strohbündel in der Gesindekammer lagen nebeneinander zwei Tatjanas, Tatjana die große und Tatjana die kleine. Der Pferdeknecht Afanassij, Sohn des Aufsehers Pud und Bruder der Köchin Paraßjka, setzte sich quer zwischen sie, die Beine legte er über die kleine, den Kopf lehnte er auf die große Tatjana.

„Schau, was für ein Mahomet“, sagte neidisch der junge Gutsaufseher. „Ist es nicht Zeit für dich, die Pferde zu tränken?“

Dieser rote Afanassij und der schwarze Mutusok waren meine Quälgeister. Kam ich im Augenblick der Austeilung der Suppe oder der Kascha, ertönte unvermeidlich die spöttische Stimme: „Du solltest doch mal mit uns zu Mittag essen, Ljowa“ oder „na Ljowa, bitte doch die Mutter mal um Hühnchen für uns.“ Ich wurde verlegen und ging still weg. Zu Ostern wurden für die Arbeiter Osterbrote gebacken und Eier gefärbt. Tante Raissa war eine Meisterin im Eierfärben. Sie brachte aus der Kolonie einige gemusterte Eier mit und schenkte mir zwei davon. Hinter dem Keller, am Abhang, spielte man mit den Eiern, ließ sie rollen und schlug sie aneinander, um auszuprobieren, welche fester waren. Ich kam erst zum Schluß, als nur noch Afanassij da war. „Hübsch?“ fragte ich, ihm die Muster zeigend. „Es geht“, antwortete Afanassij mit gleichgültiger Miene. „Willst du, probieren wir aus, welches fester ist?“ Ich wagte nicht, die Herausforderung abzulehnen. Afanassij schlug an, mein bemaltes Ei zerplatzte an der Spitze. „Also, meins“, sagte Afanassij. „Na, nun laß mal das andere sehen.“ Gehorsam hielt ich das zweite Ei hin, Afanassij schlug wieder zu. „Auch dies gehört mir.“ Gelassen nahm er beide Eier und ging, ohne sich umzusehen, davon. Ich blickte ihm erstaunt nach, hatte große Lust zu weinen; doch war die Sache nicht mehr gutzumachen.

Dauernd beschäftigte Arbeiter, die das Gut das ganze Jahre über nicht verließen, gab es nur wenige. Die Mehrzahl; die in den Jahren der großen Aussaat nach Hunderten zählte, bildeten Saisonarbeiter aus den Gouvernements Kiew, Tschernigow, Poltawa; man dingte sie bis zum Marientag, das heißt bis zum 1. Oktober In guten Erntejahren verschlang das Gouvernement Cherson 200.000 bis 300.000 solcher Arbeiter. Für die vie? Sommermonate bekamen die Schnitter 40 bis 50 Rubel, die Frauen 20 bis 30 Rubel bei freier Beköstigung. Als Wohnplatz diente das offene Feld, im Regenwetter der Heuschober. Das Mittagessen war – Borschtsch und Kascha, das Abendbrot – Hirsebrei. Fleisch gab es überhaupt nicht, Fett nur pflanzliches und dies nur in geringen Mengen. Wegen der Verpflegung kam es manchmal zu Gärungen. Die Arbeiter verließen die Felder, versammelten sich im Hof, legten sich im Schatten der Speicher auf den Bauch, hielten die nackten, vom Stroh zerrissenen und zerstochenen Beine nach oben und warteten. Man gab ihnen dicke Milch oder Melonen oder einen halben Sack getrockneter Fische, und sie gingen wieder an die Arbeä, nicht selten mit Gesang. So ging es auf allen Gütern zu. Es gab Schnitter, ältere, sehnige, braungebrannte Arbeiter, die zehn Jahre nacheinander nach Janowka kamen, da sie wußten, daß es hier für sie sicher Arbeit gab. Sie bekamen einige Rubel mehr und von Zeit zu Zeit ein Gläschen Wodka, weil sie das Arbeitstempo bestimmten. Manche erschienen an der Spitze einer ganzen Familienbrut. Sie kamen aus ihren Gouvernements zu Fuß, gingen oft einen ganzen Monat, ernährten sich von Brot, übernachteten auf Märkten. Eines Sommers erkrankten sämtliche Arbeiter an Nachtblindheit. In der Dämmerung bewegten sie sich langsam, mit vorgestreckten Armen. Der im Dorf zu Besuch weilende Neffe meiner Mutter schrieb darüber in einer Zeitung; man wurde auf den Artikel aufmerksam, und das Semstwo schickte einen Inspektor. Man war mit dem „Korrespondenten“, den Vater und Mutter sehr gerne hatten, unzufrieden. Auch er selbst war nicht froh. Unangenehme Folgen hat die Sache jedoch nicht gehabt: die Inspektion stellte fest, daß die Krankheit durch Fettmangel entstehe, daß sie fast im ganzen Gouvernement verbreitet sei, da man die Leute fast überall in gleicher Weise ernähre, an manchen Stellen sogar noch schlechter.

In der Werkstatt, in der Gesindestube, in den Hofwinkeln zeigte sich das Leben mir breiter und anders als in der Familie. Der Film des Lebens hat kein Ende, und ich war erst am Anfang. Meine Anwesenheit störte niemanden, solange ich klein war. Die Zungen waren locker, besonders in Abwesenheit Iwan Wassiljewitschs und des Verwalters, die beide doch halb zur Herrschaft gehörten. Im Schein des Schmiede- oder des Küchenfeuers erschienen mir Eltern, Verwandte, Nachbarn mitunter in ganz anderem Licht. Viele der damals geführten Unterhaltungen sind mir für immer im Gedächtnis geblieben. Manches hat dann die Basis für meine Einstellung zur heutigen Gesellschaft gebildet.


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003