Leo Trotzki

 

Europa und Amerika


VIII. Hat sich der Kapitalismus überlebt?

Ich möchte zum Schluss eine Frage aufwerfen, die, wie es mir scheint, aus dem Wesen meines Berichtes hervorgeht. Diese Frage ist: Hat sich der Kapitalismus überlebt oder nicht? Anders ausgedrückt: Ist der Kapitalismus noch fähig, Produktivkräfte im Weltmaßstabe zu entfalten und die Menschheit vorwärtszubringen? Das ist eine grundlegende Frage. Sie ist von entscheidender Bedeutung für das Proletariat Europas, für die unterdrückten Völker des Ostens, für die ganze Welt, und vor allem – für das Schicksal der Sowjetunion. Wenn es sich erweisen sollte, dass der Kapitalismus noch fähig ist, eine fortschrittliche historische Mission durchzuführen, dass er fähig ist, die Völker reicher und ihre Arbeit produktiver zu machen, dann würde es bedeuten, dass wir, die Kommunistische Partei der Sowjetunion – uns zu früh auf den Leichenschmaus vorbereitet haben, oder, mit anderen Worten, zu früh die Macht in unsere Hände genommen haben, um den Sozialismus aufzubauen. Denn Marx hat uns gelehrt, dass keine soziale Gesellschaftsordnung verschwindet, ehe alle in ihr liegenden Möglichkeiten erschöpft sind. Angesichts der neuen Wirtschaftslage, die sich vor uns entfaltet, jetzt, da Amerika sich über die ganze kapitalistische Menschheit erhebt, indem es das Verhältnis der Wirtschaftskräfte radikal geändert hat, müssen wir uns wieder die Frage vorlegen: Hat sich der Kapitalismus überlebt oder steht ihm noch eine Entwicklungsperiode bevor?

Wie ich versucht habe aufzuzeigen, ist diese Frage entschieden zu verneinen. Europa ist nach dem Kriege in eine schwierigere Lage geraten als vor dem Kriege. Und auch der Krieg war keine zufällige Erscheinung. Der Krieg war ein blinder, elementarer Aufstand der Produktivkräfte gegen die kapitalistischen Formen und darunter gegen den nationalen Staat; die vom Kapitalismus geschaffenen Produktivkräfte konnten sich nicht mehr in den Rahmen der sozialen kapitalistischen Formen, darunter in den Rahmen von nationalen Staaten, einfügen. Daher der Krieg. Was hat der Krieg Europa gebracht? Eine unvergleichlich schlechtere Situation als vor dem Kriege: es sind dieselben kapitalistischen Gesellschaftsformen, aber weit reaktionärer; dieselben Zollschranken, aber unerbittlicher; dieselben Grenzen, aber enger; dieselben Truppen, aber zahlreicher; größere Verschuldung und eingeengter Absatzmarkt. Das ist die allgemeine Lage Europas. Wenn England heute aufsteigt, dann geschieht es auf Deutschlands Kosten; wenn Deutschland morgen aufsteigt, dann wird es auf Englands Kosten geschehen. Wenn man die Handelsbilanzen dieser Länder prüft und bei dem einen ein Plus vorfindet, so kann man sicher sein, bei dem anderen Lande ein entsprechendes Minus vorzufinden. In die Sackgasse wurde Europa durch die allgemeine Entwicklung, vor allem durch die Entwicklung der Vereinigten Staaten, hineingetrieben. Die letzteren sind von jetzt ab die grundlegende Kraft der kapitalistischen Welt, und der Charakter dieser Kraft bedingt automatisch die hoffnungslose Lage Europas im Rahmen des kapitalistischen Regimes. Der europäische Kapitalismus ist im absoluten Sinne des Wortes reaktionär geworden, d.h. er führt die Nationen nicht nur nicht vorwärts, er ist nicht einmal imstande, das in der Vergangenheit erreichte Lebensniveau zu erhalten. Und das ist die ökonomische Basis der gegenwärtigen revolutionären Epoche. Politische Fluten und Ebben treten auf dieser Grundlage in Erscheinung, ohne sie ändern zu können.

Aber wie steht es mit Amerika? Hinsichtlich Amerikas scheint das Bild in einem ganz anderen Lichte. Und mit Asien? Es geht nicht gut an, Asien einfach zu ignorieren. Asien und Afrika machen 55% der Erdoberfläche und 60% der Erdbevölkerung aus. Diese Länder müssen gesondert und eingehend behandelt werden – im Rahmen meines heutigen Referates lässt sich das nicht machen. Aber es wird aus dem Gesagten klar geworden sein, dass der Kampf zwischen Amerika und Europa vor allem ein Kampf um Asien ist. Wie steht es denn damit: Ist der Kapitalismus in Amerika noch imstande, eine fortschrittliche Rolle zu spielen? Und der Kapitalismus in Asien und Afrika? In Asien hat die kapitalistische Entwicklung die ersten bedeutenderen Schritte unternommen, und in Afrika ist sie erst im Begriff, den gewaltigen Kontinent von der Peripherie aus zu zersetzen. Welche Aussichten bieten sich uns nun hier? Die folgende Schlussfolgerung drängt sich auf: In Europa hat sich der Kapitalismus überlebt, in Amerika bringt er die Produktivkräfte noch vorwärts, und in Asien und Afrika steht noch die ganze Arbeit bevor, eine Arbeit für Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte. Stimmt das wirklich? Wenn es so stünde, dann würde es bedeuten, dass der Kapitalismus seine Mission in den Ausmaßen der Weltwirtschaft noch nicht vollendet hat. Und wir leben doch alle unter den Verhältnissen der Weltwirtschaft. Und dieser Umstand ist es gerade, der über das Schicksal des Kapitalismus entscheidet: er kann sich in Asien nicht isoliert entwickeln, unabhängig von dem, was in Europa oder Amerika vorgeht. Die Zeit der lokal begrenzten Wirtschaftsprozesse ist ein für allemal vorüber. Gewiss, der amerikanische Kapitalismus ist unvergleichlich kräftiger und stabiler als der europäische, er kann dem Morgen mit unvergleichlich größerer Zuversicht entgegenblicken. Aber der amerikanische Kapitalismus genügt sich selbst schon seit langem nicht mehr. Im inneren Gleichgewicht kann er sich nicht mehr halten. Er bedarf eines Gleichgewichts in der Welt. Europa gerät in eine steigende Abhängigkeit von Amerika, aber das bedeutet, dass auch Amerika seinerseits in eine immer größer werdende Abhängigkeit von Europa gerät. Amerika spart jährlich 7 Milliarden Dollar. Was soll es mit diesem Gelde anfangen? Wenn man dieses Geld in den Keller legt, dann wird es als totes Kapital die Volkseinnahmen verringern. Jedes Kapital verlangt nach Zinsen. Wo soll man diese Mittel investieren? Im Lande selbst? aber das Land braucht keine Mittel, es nimmt nichts mehr auf, der Binnenmarkt ist übersättigt. Man muss also einen Weg nach außen suchen. Man beginnt anderen Ländern Anleihen zu geben und das Geld in die ausländische Industrie zu investieren. Und was soll man mit den Zinsen anfangen? Die Zinsen kommen ja wieder nach Amerika zurück. Wenn diese Zinsen in Form von Gold nach Amerika zurückkehren, dann muss man sie also wieder ins Ausland bringen, oder man muss die Zinsen in Form von europäischen Waren einführen. Aber diese Wareneinfuhr wird ja die amerikanische Industrie beeinträchtigen, die ohnehin einen Weg nach außen sucht. Das ist das Dilemma. Entweder muss man Gold einführen, das man nicht braucht, oder man führt zum Schaden seiner Industrie Waren ein. Diese „Goldinflation“ (wir wollen sie hier so nennen!) ist für die Wirtschaft in ihrer Art ebenso gefährlich wie die wohlbekannte Papierinflation. Man kann nicht nur an der Blutarmut, sondern auch an Vollblütigkeit sterben. Zuviel Gold bringt keine neuen Einnahmen, es setzt den Kapitalzins herab und macht dadurch einen weiteren Ausbau der Produktion unzweckmäßig und sogar sinnlos. Produzieren und exportieren und das Gold in den Kellern aufstapeln – ist dasselbe, als wenn man produzieren und die Waren ins Meer werfen würde. Amerika wird somit mit jedem Tage mehr zur Expansion gezwungen, d.h. zum Investieren seiner überschüssigen Mittel in Lateinamerika, in Europa, Asien, Australien und Afrika. Aber damit wird die Wirtschaft Europas und der anderen Weltteile in zunehmendem Grade ein Bestandteil der Wirtschaft der Vereinigten Staaten.

Im Kriegshandwerk pflegt man zu sagen, dass derjenige, der dem Feind in den Rücken fallen will, um ihn abzuschneiden, sehr oft die Gefahr läuft, selbst abgeschnitten zu werden. Auch in der Wirtschaft spielt sich etwas Ähnliches ab: Gerade deshalb, weil die Vereinigten Staaten die ganze Welt in eine steigende Abhängigkeit von sich bringen, geraten sie mit jedem Tage mehr in ein Abhängigkeitsverhältnis zu eben dieser Welt mit allen ihren Widersprüchen und bedrohlichen Erschütterungen. Schon heute bedeutet eine Revolution in Europa eine Erschütterung für die amerikanische Börse, und morgen, wenn die Rolle des amerikanischen Kapitals in der europäischen Wirtschaft noch zugenommen haben wird, wird es noch mehr der Fall sein.

Und die nationalrevolutionäre Bewegung in Asien? Auch hier wieder – dieselbe wechselseitige Abhängigkeit. Die Entwicklung des Kapitalismus in Asien bringt ein automatisches Wachstum der nationalrevolutionären Bewegung mit sich, die in um so feindseligere Konflikte mit dem ausländischen Kapital, dem Träger des Imperialismus, gerät. Wir sehen, wie in China die sich unter Mitwirkung der imperialistischen Kolonisatoren vollziehende Entwicklung des Kapitalismus zu revolutionären Kämpfen und Erschütterungen führt.

Ich sprach von der Machtstellung der Vereinigten Staaten gegenüber dem geschwächten Europa und den wirtschaftlich zurückgebliebenen kolonialen Völkern. Aber diese Machtstellung U.S.-Amerikas ist gleichzeitig seine Achillesferse; denn sie bringt eine wachsende Abhängigkeit von wirtschaftlich und politisch unbeständigen Ländern und Kontinenten mit sich. U.S.-Amerika ist gezwungen, seine Vorherrschaft auf dem labilen Europa zu basieren, d.h. auf den kommenden Revolutionen Europas, und auf der nationalrevolutionären Bewegung Asiens und Afrikas. Man kann Europa nicht als eine sich selbst genügende Einheit betrachten. Aber auch Amerika ist es nicht mehr. Die innere Ausbalancierung der Vereinigten Staaten erfordert zunehmende Expansion nach außen, und dieses Streben nach anderen Staaten und Ländern infiziert die amerikanische Wirtschaftsordnung mit den Elementen der europäischen und asiatischen Misshelligkeiten. Eine siegreiche Revolution in Europa und Asien wird unter diesen Umständen unvermeidlich zu einer revolutionären Epoche in den Vereinigten Staaten führen. Zweifellos wird die einmal begonnene Revolution in den Vereinigten Staaten sich mit „amerikanischer“ Geschwindigkeit entwickeln. Diese Aussichten ergeben sich aus einer zusammenhängenden Beurteilung der Weltlage in ihrer Gesamtheit.

Aus dem Gesagten ergibt sich zugleich, dass Amerika die zweite Etappe der revolutionären Bewegung sein wird. Die erste fällt Europa und dem Osten zu. Der Übergang Europas zum Sozialismus kann nur unter den folgenden Vorzeichen gedacht werden: Gegen das kapitalistische Amerika und mit seinem energischen Widerstand. Es wäre natürlich vorteilhafter, wenn die Vergesellschaftung der Produktionsmittel in dem reichsten Lande, in U.S.-Amerika, beginnen und sich dann von dort aus über die ganze Welt ausdehnen würde. Aber unsere eigene Erfahrung hat gezeigt, dass man die revolutionäre Reihenfolge nicht willkürlich bestimmen kann. Wir, das ökonomisch schwache und zurückgebliebene Land, waren als die ersten für die proletarische Revolution berufen. Jetzt ist die Reihe an Europa. Amerika wird nicht dulden, dass das kapitalistische Europa auf einen grünen Zweig kommt. Darin besteht jetzt die revolutionäre Bedeutung der amerikanischen kapitalistischen Machtstellung. Welcher Art die politischen Schwankungen in Europa auch sein mögen, seine wirtschaftliche Aussichtslosigkeit bleibt grundlegende Tatsache. Und diese Tatsache wird das Proletariat früher oder später auf den Weg der Revolution führen.

Wird die europäische Arbeiterklasse imstande sein, die Macht zu erhalten und eine sozialistische Wirtschaft ohne Amerika und gegen Amerika aufzubauen? Damit hängt die Frage nach den Kolonien aufs engste zusammen. Die kapitalistische Wirtschaft Europas ist eng verbunden mit seinem Kolonialbesitz und mit der Rohstoff- und Lebensmittelversorgung durch die Kolonien. Das gilt besonders für England. Seine sich selbst überlassene, von der Außenwelt abgeschnittene Bevölkerung würde in kürzester Frist wirtschaftlich und physisch sterben. Die Industrie von Europa ist außerordentlich abhängig von den Beziehungen mit Amerika und den Kolonien. Nachdem das europäische Proletariat der Bourgeoisie die Macht entrissen hat, wird es vor allem den kolonialen unterdrückten Völkern helfen, ihre Kolonialketten abzuwerfen. Wird sich das europäische Proletariat unter diesen Umständen halten und die sozialistische Wirtschaft aufbauen können?

Wir, Völker des zaristischen Russlands, haben uns in den Jahren der Blockade und des Bürgerkrieges gehalten. In Not, Armut, Epidemien – aber wir haben uns halten können. Unsere Zurückgebliebenheit erwies sich bei dieser Gelegenheit als ein Vorzug. Die Revolution hielt sich, gestützt auf ihr gigantisches Bauernhinterland. Hungernd, Epidemien ausgeliefert – bestand die Revolution die Prüfung! Anders steht es mit dem industrialisierten Europa, zumal England. Es kann davon nicht die Rede sein, dass ein zersplittertes Europa wirtschaftlich sich wird halten können, auch unter der Diktatur des Proletariats nicht, wenn es seine Zersplitterung beibehält. Proletarische Revolution bedeutet Zusammenschluss Europas. Bürgerliche Ökonomen, Pazifisten, Profitjäger, Phantasten und Schwätzer neigen heutzutage dazu, von den Vereinigten Staaten Europas zu sprechen. Aber die durch und durch von Widersprüchen zersetzte europäische Bourgeoisie ist dieser Aufgabe nicht gewachsen. Nur das siegreiche Proletariat wird Europa vereinigen können. Wo die Revolution auch anfangen mag, in welchem Tempo sie sich auch entfalten mag – die unbedingte Voraussetzung für den sozialistischen Umbau Europas ist ein wirtschaftlicher Zusammenschluss. Die Komintern hat das 1923 bereits gesagt: Alle jene, die Europa zersplittert haben, müssen zum Teufel gejagt werden, die Macht des zersplitterten Europa muss erobert werden, um Europa zu vereinigen, um die Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas zu schaffen. Wir sind inzwischen stark genug geworden, um dem revolutionären Europa in den schwierigsten Tagen und Monaten hier und da helfen zu können. Den Weg zu den Rohstoffen, zu den Lebensmitteln, den Weg zu den Dörfern wird das revolutionäre Europa finden. Darüber hinaus sind wir für Europa eine gute Brücke nach Asien. Hand in Hand mit den Völkern Indiens wird das proletarische England die Unabhängigkeit dieses Landes sicherstellen. Aber das bedeutet nicht, dass England die Möglichkeit einer engen wirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaft mit Indien verlieren wird. Ein freies Indien wird der europäischen Technik und Kultur bedürfen; Europa wird die Erzeugnisse Indiens verarbeiten. Die Vereinigten Sowjetstaaten von Europa werden gemeinsam mit unserer Sowjetunion für die Völker Asiens ein gewaltiger Magnet sein, für jene Völker, die engste wirtschaftliche, ökonomische und politische Beziehungen zu dem proletarischen Europa erstreben werden. Wenn das proletarische Britannien Indien als Kolonie verlieren wird, dann wird es Indien in der europäisch-asiatischen Völkerföderation als Bruderland wiederfinden. Der gewaltige Block der Völker Europas und Asiens wird unerschütterlich dastehen, und vor allem den Vereinigten Staaten die Spitze bieten können. Die Machtstellung der letzteren unterschätzen wir keineswegs. Bei der Beurteilung der revolutionären Aussichten gehen wir vor allem aus der klaren Erkenntnis der Tatsachen, so wie sie in Wirklichkeit sind, aus. Und mehr als das: Wir sind der Ansicht, dass die Macht der Vereinigten Staaten – dies ist die dialektische Methode! – jetzt der größte Hebel für die europäische Revolution ist. Wir übersehen nicht, dass dieser Hebel sich sowohl in politischer als auch militärischer Hinsicht mit furchtbarer Wucht gegen die europäische Revolution kehren wird, wenn diese einmal ausgebrochen ist. Wir wissen, dass das amerikanische Kapital, wenn seine Existenz auf dem Spiel stehen wird, eine maßlose Kampfenergie entwickeln wird. Es ist sehr möglich, dass alles das, was wir aus Büchern und eigener Erfahrung über den Kampf der privilegierten Klassen um ihre Herrschaft wissen, vor dem Bilde jener Gewaltakte verblassen wird, die das amerikanische Kapital gegen das revolutionäre Europa richten wird. Aber das Vereinigte Europa wird in seiner revolutionären Arbeitsgemeinschaft mit den Völkern Asiens unvergleichlich mächtiger sein als die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Die Sowjetunion wird die Werktätigen Europas und Asiens mit unlösbaren Banden verbinden. Das revolutionäre europäische Proletariat, im Bunde mit den aufständischen Kolonialsklaven des Ostens, wird das Kontrollaktienpaket der Weltwirtschaft dem amerikanischen Kapital entreißen und das Fundament für die Föderation der sozialistischen Völker des ganzen Erdballs legen.

 


Zuletzt aktualisiert am 27.7.2004