Leo Trotzki

 

Europa und Amerika


Anhang 6

Aus der Rede
Aussichten und Aufgaben im Osten

(21. April 1924)


Aus: Westen und Osten, S.32, 33, 38.


Nimmt man so prosaische Bücher, wie die Jahresberichte der englischen und amerikanischen Banken von 1921, 1922 und 1923 zur Hand, so wird man aus den Zahlen der Bankbilanzen von London und New York das kommende revolutionäre Schicksal des Ostens herauslesen können. England hat seine alte Rolle des Weltwucherers wieder aufgenommen. Die Vereinigten Staaten haben eine ungeheure Menge Gold gespart: in den Kellern der Zentralbank wird Gold für 3 Milliarden Dollar, d.h. für über 12 Milliarden Mark, aufbewahrt. Das Gold überschwemmt die Wirtschaft der Vereinigten Staaten. Man fragt sich: Wem gewähren England und die Vereinigten Staaten Anleihen? Uns, der Sowjetunion, geben sie, wie ihr gehört habt, einstweilen kein Geld, Deutschland auch nicht, Frankreich gaben sie klägliche Summen, um den Frank zu stützen – also wem geben sie's? Sie geben es hauptsächlich in die Kolonialländer, sie finanzieren die industrielle Entwicklung Asiens, Südamerikas, Südafrikas. Ich werde hier keine Zahlen anführen – ich besitze sie zwar, aber das würde mein Referat allzu sehr in die Länge ziehen -‚ es genügt, wenn ich sage, dass die kolonialen und halbkolonialen Länder vor dem letzten imperialistischen Kriege von den U.S.A. und England etwa die Hälfte der Kredite erhielten, die diese beiden Staaten den Ländern des hoch entwickelten Kapitalismus zuzuführen pflegten; jetzt dagegen übersteigt die Investierung in die kolonialen Länder ganz bedeutend die Einlagen in die alten kapitalistischen Länder. Wie kommt das? Es gibt sehr viele Ursachen dafür, aber die zwei wichtigsten sind: einerseits – Misstrauen gegen das alte ruinierte entkräftete Europa mit dem wilden französischen Militarismus in seinem Herzen, der neue, ungeahnte Erschütterungen heraufbeschwören kann; andererseits – das Bedürfnis der kolonialen Länder, dieser Rohstofflieferanten und Verbraucher von Maschinen und Fabrikaten Englands und der U.S.A.. Wir beobachteten während des Krieges und auch jetzt eine rapide Industrialisierung der kolonialen, halbkolonialen und überhaupt der zurückgebliebeneren Länder: Japan, Indien, Südamerika, Südafrika ...


Wir sehen, wie Europa, dessen frühere Entwicklung einen ungeheuren Konservatismus der „Spitzen“ der Arbeiterklasse entstehen ließ, immer mehr und mehr dem wirtschaftlichen Verfall anheim fällt. Es hat keinen Ausweg. Und das zeigt sich im besonderen auch darin, dass Amerika ihm keine Anleihen gibt, weil es der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit Europas mit Recht misstraut. Wir beobachten andererseits, wie sich Amerika und auch England gezwungen sehen, die wirtschaftliche Entwicklung der kolonialen Länder zu finanzieren und sie dadurch in beschleunigtem Tempo der Revolution zuführen. Wenn Europa in seinem gegenwärtigen Fäulniszustande durch diese zünftlerische stupide, privilegierte Macdonald-„Aristokratie“ der Arbeiterklasse konserviert werden wird, dann wird sich der Schwerpunkt der revolutionären Bewegung ganz und gar nach dem Osten verschieben. Und dann wird sich folgendes herausstellen: ebenso wie es einiger Jahrzehnte der kapitalistischen Entwicklung Englands bedurft hat, um mit Hilfe dieses revolutionierenden Faktors unser altes Russland und den alten Osten hoch zu reißen, so wird später auch die Revolution des Ostens notwendig sein, um einige englische „Dickschädel“ einsichtiger zu machen oder, wenn notwendig, zu zertrümmern – und der Revolution des europäischen Proletariats den letzten Anstoß zu geben. Das ist die eine historische Möglichkeit. Man muss sie sich vor Augen halten.

 


Zuletzt aktualisiert am 21.7.2008