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Anhang 4
Aus: 5 Jahre Komintern, 2. Aufl., S.537-539, 548-549.
Es wäre unrichtig, von Amerika dasselbe zu sagen, was wir hinsichtlich Europas behaupten, dass nämlich der Kapitalismus für Amerika schon jetzt einen Stillstand der wirtschaftlichen Entwicklung bedeute. Europa verwest, Amerika lebt. In den ersten Jahren, oder besser gesagt, in den ersten zwanzig Monaten nach dem Kriege, konnte es scheinen, dass Amerika durch den wirtschaftlichen Verfall Europas mitgerissen würde; denn Amerika nährte nicht den europäischen Markt im allgemeinen und den Kriegsmarkt im besonderen, sondern beutete ihn aus. Dieser Markt war nach Kriegsende erschöpft, und der groteske Babelturm der amerikanischen Industrie schien, seines Fundamentes beraubt, endgültig zusammenzubrechen. Amerika verlor zwar den früheren ausgiebigen europäischen Markt, aber es eroberte nach und nach die Märkte einiger europäischen Länder – Deutschlands und zum Teil Englands; außerdem blieb ihm die Ausbeutung des eigenen Binnenmarktes, die Ausbeutung der hundert Millionen starken, reichen Bevölkerung. Und wir beobachten, dass die amerikanische Wirtschaft in den Jahren 1921/22 einen wirklichen handelsindustriellen Aufschwung durchmacht, während in Europa sich nur entfernte Andeutungen dieses Aufschwunges bemerkbar machen. Daraus ist zu schließen, dass in Amerika die Produktivkräfte auch unter dem Kapitalismus sich entfalten können – wenn auch natürlich langsamer, als es unter sozialistischem Regime der Fall wäre. Wie lange dieser Prozess anhalten wird – das ist eine andere Frage. Die amerikanische Arbeiterklasse ist in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht reif genug, um die Staatsgewalt zu übernehmen, aber ihren politischen und organisatorischen Traditionen nach ist sie unvergleichlich weiter von diesem Ziel entfernt, als die europäische Arbeiterschaft; unsere Kraft – die Kraft der kommunistischen Internationale – ist in Amerika noch sehr schwach. Und wenn man die Frage aufwirft (es ist natürlich nur eine bedingte Fragestellung), was sich früher ereignen wird: der Sieg der proletarischen Revolution in Europa, oder die Schaffung einer starken kommunistischen Partei in Amerika – so würde ich auf Grund der Tatsachen, über die wir jetzt verfügen (es können natürlich verschiedene neue Faktoren in Erscheinung treten, z. B. ein Krieg zwischen Amerika und Japan, und ein Krieg ist ja immer eine gewaltige Triebkraft der Geschichte), die Behauptung wagen, dass es weit wahrscheinlicher ist, dass das Proletariat früher in Europa siegen, als dass in Amerika eine wirklich starke kommunistische Partei entstehen wird. Mit anderen Worten: ebenso wie der Sieg der revolutionären Arbeiterklasse im Oktober 1917 die Voraussetzung für die Schaffung der Kommunistischen Internationale und für das Wachsen der Kommunistischen Parteien in Europa war, ebenso wird, wahrscheinlich, auch der Sieg des Proletariats der wichtigsten Länder Europas eine Voraussetzung für eine schnelle Revolutionierung Amerikas sein. Darin liegt der Unterschied dieser zwei Gebiete – Europa mit seiner zerfallenden, absterbenden Kapital-Wirtschaft und mit seinem nicht mehr wachsenden (weil alle Grenzen erreicht sind), sondern wartenden Proletariat, wartend auf die Entwicklung der Kommunistischen Partei – und Amerika, das kapitalwirtschaftlich noch vorwärts strebt, das den Verfall Europas ausbeutet.
Wir haben bisher Europa und Amerika zu wenig differenziert gesehen, daher konnte die Langsamkeit in der Entwicklung des Kommunismus in Amerika manchem pessimistische Ideen einflößen, etwa in dem Sinne, dass die Revolution in Europa auf Amerika warten müsse.
Das ist nicht der Fall. Europa kann gar nicht warten. Mit anderen Worten – wenn die Revolution in Europa ein Dutzend Jahre aufgeschoben werden könnte, dann bedeutet das, dass Europa als Kulturkraft überhaupt ausschaltet. Ihr wisst, dass in Europa jetzt die modische Philosophie Spenglers vom „Untergang des Abendlandes“ umgeht. Diese Philosophie ist in ihrer Art ein durchaus gerechtfertigtes Klassenvorgefühl der Bourgeoisie. Sie übersieht, dass das Proletariat die Bourgeoisie ersetzen und die Gewalt in seine Hände nehmen kann, und redet vom Untergange Europas. Wenn sie recht hätte, dann könnte von einem Untergang, oder besser gesagt, von einem wirtschaftlich-kulturellen Fäulnisprozess Europas gesprochen werden, dann würde allerdings eines Tages die amerikanische Revolution kommen und Europa ins Schlepptau nehmen. Aber für eine solche, im Hinblick auf die Zeitdauer pessimistische Prognose, haben wir keine Ursachen. Gewiss, die Prophezeiung von Zeiträumen ist immer sehr unzuverlässig und oft nicht ernst zu nehmen, aber ich sage: – wir haben keinen Grund zu glauben, dass zwischen dem Jahre 1917, dem Anfang der neuen revolutionären europäischen Epoche, und ihrem endgültigen Siege in Westeuropa mehr Jahre liegen müssen, als zwischen unseren Zeitabschnitten 1905 und 1917. Bei uns sind 12 Jahre seit dem Anfang der Revolution, von der ersten Erfahrung bis zum endgültigen Siege verflossen. Wie viel Jahre der Zeitraum zwischen 1917 und dem ersten großen und dauerhaften Siege in Europa sein wird, können wir natürlich nicht wissen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass weniger als 12 Jahre vergehen werden. Es ist jedenfalls ein ungeheurer Vorsprung, dass jetzt ein Sowjetrussland, eine Kommunistische Internationale existieren, diese zentralisierte Organisation der revolutionären Avantgarde, die die Kommunistischen Parteien aller Länder systematisch organisiert und festigt.
Und selbst, wenn Amerika zurückbleibt, werden wir unser Ziel dennoch erreichen. Die amerikanische Bourgeoisie hat sich am Feuer des imperialistischen Krieges in Europa die Hände gewärmt. Aber wenn das revolutionäre Feuer in Europa einmal aufgeflammt sein wird, dann wird sich die amerikanische Bourgeoisie nicht lange halten können. Es ist nicht gesagt, dass das europäische Proletariat warten müsse, bis das amerikanische gelernt hat, auf die Vorspiegelungen seiner Bourgeoisie nicht mehr hereinzufallen. Das ist keineswegs der Fall. Die amerikanische Bourgeoisie arbeitet jetzt bewusst daran, Europa im Zustand der Fäulnis zu konservieren. Die amerikanische Bourgeoisie, mit europäischem Blut und mit europäischem Gold fett geworden, spielt in der ganzen Welt den Herrn, schickt ihre Bevollmächtigten zu den Konferenzen, wo sie schweigend, ohne irgendwelche Verpflichtungen übernommen zu haben, entscheiden und von Zeit zu Zeit die Füße auf den Tisch legen, wobei die europäischen Diplomaten sich davon überzeugen können, dass diese Füße in ausgezeichneten amerikanischen Schuhen stecken, und dass Amerika mit diesen Schuhen Europa seinen Willen diktiert. Die europäische Bourgeoisie – nicht nur die Deutschlands, Frankreichs, sondern auch Englands – tanzt nach der Pfeife der amerikanischen Bourgeoisie, die Europa während der Kriegszeit mit ihrer Unterstützung, ihren Anleihen, ihrem Gold vergewaltigt hat und jetzt dieses Europa künstlich im Zustand der Agonie erhält. Die amerikanische Bourgeoisie wird die Rechnung bezahlen müssen, die ihr das europäische Proletariat einmal vorlegen wird. Und diese Rache wird um so schneller eintreten, je größer unsere Sowjeterfolge sein werden. Unsere Propaganda – ob sie gut oder schlecht ist, das ist eine zweit- und drittrangige Frage; von entscheidender Bedeutung wird unsere Wirtschaft sein. Genossen Bauern – soviel ich weiß, sind hier auch parteilose Bauern anwesend –‚ ich sage es aus tiefster Überzeugung, dass jede Garbe Korn ein kleines Gewicht auf der Schale der europäischen Revolution ist. Was fürchtet die Arbeiterklasse Englands, was fürchtet die deutsche Arbeiterklasse? Drei Kriegsjahre lang hat das hungrige Europa existieren können, und später hat es von amerikanischem Brot gelebt. Die amerikanische Bourgeoisie droht natürlich damit, Europa bei Ausbruch einer Revolution auszuhungern, ebenso wie England und Frankreich Sowjetrussland industriell blockiert haben. Diese Frage ist für die europäische, vor allem die deutsche Arbeiterklasse außerordentlich wichtig. Und wir, Sowjetrussland, müssen ihnen sagen, dass Sowjetrussland die europäische proletarische Revolution mit Brot versorgen wird. Und wir müssen diesen Entschluss nicht nur zum Ausdruck bringen, sondern auch praktisch vorbereiten.
Das sind keine leeren Worte, keine Phrasen: das ganze Schicksal Europas hängt von der Lösung dieser Frage ab. Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder ein europäisches Proletariat unter dem Stiefelabsatz des amerikanischen Spießers, oder ein europäisches Proletariat, das in den schwersten Tagen und Monaten der Revolution die Unterstützung der russischen Arbeiter und Bauern, die Unterstützung mit Brot genießt.
Zuletzt aktualisiert am 21.7.2008