MIA > Deutsch > Marxisten > Trotzki > Europa u. Amerika
Anhang 3
Aus: Wie rüstete sich die Revolution, Bd.1, S.386-388.
Die Vereinigten Staaten – das mächtigste kapitalistische Land – haben sich erst dann in den Krieg eingemischt, als die europäischen Völker fast drei Jahre lang einander zerfleischt hatten. Ich war in den kritischsten Monaten – Januar-Februar 1917 – in Amerika und beobachtete die Vorbereitungsperiode des Eintritts der U.S.A. in den Krieg. Man wird sich vielleicht erinnern, dass unsere patriotische Presse und die Presse aller Länder der Entente damals schrieb, dass der edle Präsident Wilson, durch die Zügellosigkeiten und Verbrechen des deutschen Militarismus, zumal durch den U-Boot-Krieg, die Vernichtung der Passagierdampfer usw. usw. außer sich gebracht, endlich auch sein Schwert auf die Wagschale des Weltkampfes geworfen habe – „um der Tugend zum Siege über das Laster zu verhelfen“. Nun sah die Wirklichkeit weit prosaischer aus, als es die bürgerliche Presse haben wollte.
Amerika hat von Anfang an den beiden Parteien gegenüber jene Stellung eingenommen, die in den früheren Kriegen England gegenüber dem Kontinent einzunehmen pflegte. Es tat es durch Organisation und Unterstützung der verschiedensten diplomatischen Kombinationen und Bündnisse. Ich sagte bereits, dass früher England Europa in zwei feindliche Lager einzuteilen pflegte; es saß auf seiner Insel und sagte: „Mögen sie einander aufreiben; ich werde den Schwächeren unterstützen, um keinen allzu starken Rivalen aufkommen zu lassen.“ Als Deutschland schließlich doch zu stark wurde, sah sich England gezwungen, in das Lager der offenen Feinde Deutschlands überzugehen. Auch Amerika hat auf seiner gigantischen Insel jenseits des „Großen Teiches“ zunächst eine abwartende Haltung eingenommen und sich gesagt: „Europa ist in zwei Lager gespalten. Wir Amerikaner werden uns einstweilen die Sache ansehen und beobachten, wie sie einander schwächen. Aber wir werden bei dieser Beschäftigung nicht passiv bleiben, sondern uns nach Möglichkeit um unser ‚business‘, um das Geschäft kümmern: wir wollen beiden Parteien Dynamit, Munition, Gewehre verkaufen und uns unsere Neutralität gut bezahlen lassen.“
Das war ursprünglich die Politik der bürgerlichen Klasse Nordamerikas. Auf diese Weise dirigierte der „ehrliche“ amerikanische Händler seit Anfang des Krieges die Politik des „ehrlichen“ Präsidenten Wilson. Er verkaufte sein ehrliches Dynamit beiden Gegnern, und zwar zu den allerehrlichsten Wucherpreisen. Aber England blockierte Deutschland und sagte zu Amerika: „Nein, du wirst dein Dynamit nicht an Deutschland verkaufen.“ Das ergab sofort eine peinliche Zuspitzung des Verhältnisses zwischen Amerika und England. Die amerikanische Börse schickte Wilson vor und ließ ihn sagen: „Die Gerechtigkeit ist mit Füßen getreten, die Freiheit der Meere geschändet – das ehrliche amerikanische Dynamit kann nicht nach Deutschland gelangen.“ Die ganze Börse, die ganze Kriegsindustrie kochten vor sittlicher Entrüstung über England, das die Blockade über Deutschland verhängt hatte. Aufgeregte Sitzungen der Industriekönige, Beratungen mit Bankiers und Diplomaten – man erörterte die Frage: Sollen wir England den Krieg erklären oder nicht? Der neutrale Wilson sagte: „Die Blockade schneidet uns jetzt von den mitteleuropäischen Staaten ab. Wenn wir mit England brechen, dann wird unsere Kriegsindustrie auch noch den englischen, französischen, russischen und italienischen Markt verlieren, und wir werden das Nachsehen haben.“ Die Interessen der amerikanischen Industrie und des amerikanischen Handels verlangten, dass Wilson seine neutrale Stellung beibehalte, die dem amerikanischen Kaufmann gestattete, ungeheure Warenmengen in die Ententeländer auszuführen.
In der Tat, der Außenhandel der Vereinigten Staaten hat in der Zeit des Krieges um das 2½fache zugenommen. Es war nicht mehr der alte Handel, wo man Getreide, Maschinen und überhaupt alle für das menschliche Leben wichtigen Waren exportierte. Dieser Handel bestand fast ausschließlich aus Rüstungsgegenständen. Man handelte mit Werkzeugen der Zerstörung und des Todes. Die Wilsonsche Neutralität erlaubte somit der amerikanischen Industrie gute Geschäfte zu machen.
Nun trat Deutschland, um das Vorgehen Englands auszugleichen, mit seinem verschärften U-Boot-Krieg auf den Plan. Das geschah im Januar 1917. Die Situation war folgende: ganz Amerika hatte sich mit zahllosen Betrieben der Kriegsindustrie bedeckt, die auf den europäischen Absatz rechneten. Die englische Blockade schnitt den Absatz auf dem mitteleuropäischen Markt ab, nun kam die deutsche U-Boot-Blockade und drohte, den Absatz nach England, Frankreich, Russland, Italien unmöglich zu machen. Es ist zu verstehen, dass der amerikanischen Kriegsindustrie die Geduld riss und also auch – dem Wilsonschen „Pazifismus“ und seiner „Neutralität“.
Ich vergaß zu sagen, dass Wilson ein Apostel des „Pazifismus“ war, d.h. der Idee der friedlichen Arbeitsgemeinschaft der Völker – solange diese Idee dem „neutralen“ amerikanischen Dynamit zum Absatz verhalf. Aber in dem Augenblick, als die beiden Blockaden ihm den Weg versperrten, kam der große Apostel der Heuchelei, Wilson, zu der Einsicht, dass es für Amerika Zeit sei, sich einzumischen. Die amerikanische Bourgeoisie ließ ihm Zeit, sich die Sache zu überlegen. Sie sagte zu ihm: „Hier ist ein Babelturm der Kriegsindustrie, hier – ein Montblanc von Geschossen und Patronen, die wir für Europa geschaffen haben – was soll man damit anfangen?“ Wilson zuckte die Achseln und erklärte, dass er kein Mittel zur Bekämpfung des U-Boot-Krieges erfunden habe. Darauf sagte man ihm: „Du sollst diese Waren für den amerikanischen Staat erwerben. Wenn du sie nicht nach Europa schaffen kannst, dann bezahle sie mit den Mitteln des amerikanischen Arbeiters und des amerikanischen Farmers.“
Das ist die Quelle des in dieser kurzen Zeitspanne aufgeschossenen großen amerikanischen Militarismus: die amerikanische Industrie wollte diesen Militarismus nach Europa exportieren, für den Gebrauch anderer Länder, aber dann wuchs er dem amerikanischen Volke über den Kopf, so dass es gezwungen war, diesen Militarismus selbst zu „konsumieren“. Die Einmischung Wilsons in den Krieg war somit durch das Bestreben hervorgerufen, einerseits Deutschland, und mit ihm ganz Europa, abzuwürgen, andererseits – aus der amerikanischen Kriegsindustrie die größtmöglichen Profite herauszuschlagen. Das waren die „sittlichen Prinzipien“ des alten Frömmlers Wilson.
Wir haben in Gestalt der Vereinigten Staaten von Nordamerika ein zentralisiertes militaristisches imperialistisches Land. Die Macht des amerikanischen Präsidenten ist keineswegs geringer als die eines Königs oder Zaren. In allen grundlegenden Fragen, die über Tod und Leben entscheiden, in Kriegs- und Friedensfragen, ist der amerikanische Präsident der Vollstrecker des Willens des Finanzkapitals – während des Krieges liegt die ganze Macht in seinen Händen. Der Militarismus Amerikas ist, wie alles in diesem Lande, von ungeheuren Ausmaßen. Die Lebenslage der Massen hat sich außerordentlich verschlechtert.
Zuletzt aktualisiert am 21.7.2008