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Veröffentlicht: Za Novyi, Dezember 1925. [1]
Kopiert mit Dank von der Webseite der Sozialistischen Linkspartei (Österreich).
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Unser Fortschritt kann am genauesten anhand jener praktischen Maßnahmen gemessen werden, die wir zur Verbesserung der Lage von Mutter und Kind durchführen. Dieser Index ist sehr zuverlässig und untrügerisch. Er zeigt gleichermaßen die materiellen Errungenschaften wie die kulturellen Fortschritte im weiteren Sinne auf. Wie uns die historische Erfahrung zeigt, ist selbst das gegen seine Unterdrücker kämpfende Proletariat noch weit davon entfernt, der unterdrückten Stellung der Frau als Hausfrau, Mutter und Ehefrau die notwendige Aufmerksamkeit zu gewähren. So stark ist noch die schreckliche Kraft der Gewöhnung an die Versklavung der Frau in der Familie! Und was die Bauernschaft angeht, so wird über diesen Punkt nicht einmal gesprochen. Das Los der Bauersfrauen, und nicht nur in den armen, sondern sogar in den mittleren Familien, kann mit seiner Last und Hoffnungslosigkeit heutzutage wohl nicht einmal mit der schlimmsten Zuchthausstrafe verglichen werden. Keine Erholung, kein Urlaub, kein Hoffnungsschimmer! Nur allmählich erreicht unsere Revolution die Grundlagen der Familie, und gegenwärtig auch erst in den Städten in Industriegebieten, während sie nur sehr langsam auf das Land vordringt. Und gerade hier sind die Probleme zahllos.
Die Stellung der Frau kann an ihren Wurzeln nur verändert werden, wenn in den gesamten Bedingungen der gesellschaftlichen, familiären und häuslichen Existenz ein Wandel erfolgt. Wie grundlegend die Frage der Mutter ist, kommt in dem Umstand zum Ausdruck, dass sie in ihrem Wesen einen lebenden Punkt darstellt, an dem sich alle entscheidenden Stränge ökonomischer und kultureller Arbeit kreuzen. Vor allem anderen ist die Frage der Mutterschaft eine Frage des Wohnraumes, fließenden Wassers, einer Küche, eines Waschraums, eines Essraums. Aber ebenso sehr geht es hierbei um die Schule, Bücher, einen Platz zur Erholung. In gnadenlosester Form trifft die Trunksucht die Hausfrau und die Mutter; kaum weniger die Unwissenheit und Arbeitslosigkeit. Fließendes Wasser und Elektrizität in den Wohnungen erleichtern die Last der Frauen vor allem anderen. Die Mutterschaft ist die Kernfrage aller andern Fragen. Hier treffen sich alle Stränge, und von hier weisen sie in alle Richtungen.
Das unzweifelhafte Anwachsen der materiellen Versorgung in unserem Lande ermöglicht es – und erfordert es daher –, uns der Lage von Mutter und Kind unvergleichlich breiter und tiefer als früher zu widmen. Das Maß an Energie, das wir in dieses Feld investieren, wird zeigen, wieweit wir gelernt haben, die entscheidenden Punkte in den Grundfragen unseres Lebens miteinander zu verknüpfen .
Wie wir den Sowjetstaat nicht errichten konnten, ohne die Bauernschaft aus den Fesseln der Leibeigenschaft zu befreien, so werden wir den Sozialismus nicht erreichen, wenn wir nicht die Bauersfrauen und die Arbeiterfrauen aus der Gefangenschaft in der Familie und im Haushalt befreien.
Und wenn wir die Reife eines revolutionären Arbeiters nicht allein aufgrund seiner Haltung gegenüber dem Kapitalisten, sondern ebenfalls anhand seiner Haltung zum Bauern, d. h.seines Verständnisses für die Notwendigkeit, den Bauern aus der Knechtschaft zu befreien, beurteilt haben, – so können und müssen wir jetzt die sozialistische Reife des Arbeiters und des fortschrittlichen Bauern anhand ihrer Haltung zu Frau und Kind messen, ihres Verständnisses für die Notwendigkeit, die Mutter aus den Fesseln der Gefangenschaft zu befreien, ihr die Möglichkeit zu geben, sich aufzurichten und sich am gesellschaftlichen und kulturellen Leben zu beteiligen, wie es von ihr erwartet wird.
Die Mutterschaft steht im Mittelpunkt aller Probleme. Deshalb müssen alle neuen Maßnahmen, jedes Gesetz, jeder praktische Schritt im ökonomischen und gesellschaftlichen Aufbau auch unter der Fragestellung geprüft werden, wie sie auf die Familie einwirken, ob sie das Los der Mutter verschlimmern oder erleichtern und ob sie die Stellung des Kindes verbessern.
Dass wir noch immer nach allen Seiten hin in den Stricken der alten Gesellschaft gefangen sind, die sich in der Epoche ihres Niedergangs in der bösartigsten Weise noch Geltung verschafft, – dafür ist die große Zahl heimatloser Kinder in unseren Städten das erschreckende Zeugnis. Die Stellung der Mutter und des Kindes war noch nie so schwierig wie in den Jahren des Übergangs von der alten zur neuen Gesellschaft, insbesondere in den Jahren des Bürgerkriegs. Die Intervention der Clemenceau und Churchill und Koltschak, der Denikin und Wrangel und Konsorten traf die Arbeiterfrauen,die Bauersfrauen und die Mütter mit den grausamsten Schlägen und hinterließ uns ein nie dagewesenes Erbe heimatloser Kinder. Das Kind kommt von der Mutter, und die Heimatlosigkeit des Kindes ist vor allem die Folge mütterlicher Heimatlosigkeit. Sorge für die Mutter ist der wahre und grundlegende Weg, um das Los des Kindes zu verbessern. Das allgemeine wirtschaftliche Wachstum schafft die Bedingungen für eine allmähliche Rekonstruktion des familiären und häuslichen Lebens. Alle Fragen, die damit zusammenhängen, müssen in ihrer vollen Bedeutung gestellt werden. Wir arbeiten aus verschiedenen Richtungen auf die Erneuerung des Grundkapitals des Landes hin; wir schaffen neue Maschinen an, um die alten zu ersetzen; wir errichten neue Fabriken; wir erneuern unsere Eisenbahn; der Bauer erhält Pflüge, Sämaschinen, Traktoren. Aber das grundlegende „Kapital“ ist das Volk, d. h. seine Kraft, seine Gesundheit, sein kulturelles Niveau. Dieses Kapital hat eine Erneuerung noch viel eher nötig als die Fabriken oder die landwirtschaftliche Ausrüstung. Wir dürfen nicht glauben, dass die Zeitalter der Sklaverei, des Hungers und der Gefangenschaft, die Jahre des Kriegs und der Epidemien ohne Spuren an den Menschen vorübergegangen seien. Sie haben am lebendigen Organismus des Volkes Wunden und Narben hinterlassen. Tuberkulose, Syphilis, Neurasthenie, Alkoholismus – alle diese Krankheiten und noch viele mehr sind unter den Massen der Bevölkerung weit verbreitet. Die Nation muss davon genesen; sonst ist der Sozialismus undenkbar. Wir müssen an die Wurzeln, die Quellen herankommen. Und worin liegt die Quelle der Nation, wenn nicht in der Mutter? Der Kampf gegen die Vernachlässigung der Mütter muss Vorrang erhalten! Der Bau von Häusern, die Schaffung von Erleichterungen bei der Kinderpflege, von Kindergärten, kommunalen Kantinen und Wäschereien muss in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit gestellt werden, und diese Aufmerksamkeit muss wach und gut organisiert sein. Die Frage der Qualität entscheidet hier alles. Erleichterungen bei der Kinderpflege, beim Essen und Waschen müssen in solcher Weise verwirklicht werden, dass sie Kraft der Vorteile, die sie bieten, der alten, abgeschlossenen und isolierten Familieneinheit, die vollständig auf den gekrümmten Schultern der Hausfrau und Mutter lastete, den Todesstoß versetzen können. Die Verbesserung der Umwelt ruft unvermeidlich eine Flut von Bedürfnissen hervor und stellt eine Fülle von Mitteln bereit. Die Versorgung der Kinder in öffentlichen Einrichtungen, ebenso wie das Essen der Erwachsenen in kommunalen Kantinen, ist billiger als in der Familie. Aber die Verlagerung der materiellen Mittel von der Familie zu den Versorgungszentren für Kinder und den Kantinen wird nur dann stattfinden, wenn die gesellschaftliche Organisation es lernt, die vorrangigen Bedürfnisse besser als die Familie zu befriedigen. Besondere Aufmerksamkeit muss jetzt auf die Frage der Qualität gerichtet werden. Aufmerksame gesellschaftliche Kontrolle und ständiger Nachdruck gegenüber allen Organen und Institutionen, die den familiären und häuslichen Bedürfnissen der arbeitenden Masse dienen, sind unbedingt erforderlich.
Die Initiatoren des großen Kampfes für die Befreiung der Mütter müssen selbstverständlich die fortgeschrittenen Arbeiterfrauen sein. Um jede Preis muss sich diese Bewegung dem Dorf zuwenden. Und auch unser städtisches Leben trägt noch viele kleinbürgerliche-bäuerliche Züge. Viele Arbeiter nehmen den Arbeiterfrauen gegenüber noch immer keine sozialistische, sondern eine konservative, bäuerliche, ihrem Wesen nach mittelalterliche Haltung ein. Das führt dazu, dass die bäuerliche Mutter, die durch das Joch der Familie unterdrückt wird, die proletarische Mutter mit sich hinabzieht. Aber die Bauersfrau muss empor gehoben werden. In ihr muss der Wunsch erweckt werden, sich selbst zu erheben, d. h. sie muss erweckt und ihr muss der Weg gewiesen werden.
Es ist unmöglich voranzuschreiten, während die Frau im Nachtrab zurückbleibt. Die Frau ist die Mutter der Nation. Aus der Versklavung der Frauen erwachsen Vorurteile und Aberglaube, die die Kinder der neuen Generation einhüllen und tief in alle Poren des nationalen Bewusstseins eindringen. Der beste und gründlichste Weg das Kampfes gegen den Aberglauben der Religion ist der Weg allseitiger Sorge für die Mutter. Sie muss empor gehoben und aufgeklärt werden. Die Mutter begreifen heißt: die letzte Nabelschnur kappen, die das Volk noch immer mit der finsteren und abergläubischen Vergangenheit verbindet.
1. Dieser Artikel erschien zum ersten Mal im Dezember 1925 in Za Novyi.
Zuletzt aktualisiert am 3. September 2014