Leo Trotzki

 

Aussichten der Weltentwicklung


VIII. U.S.A. und England

Der grundlegende Antagonismus der Welt verläuft auf der Berührungslinie der amerikanischen und englischen Interessen. Warum? Weil England nächst U.S.-Amerika noch immer das reichste und mächtigste Land ist. Das ist der wichtigste Rivale, das größte Hindernis auf dem Siegeszuge Amerikas. Wenn England unterminiert, kleingekriegt, oder gar gestürzt ist – was bleibt dann noch übrig? [1] Mit Japan wird U.S.-Amerika ohne weiteres fertig. Die Amerikaner haben alle Trümpfe in den Hand: Geld, Eisen, Kohle, Öl, und die politisch-vorteilhafte Lage gegenüber China, das die Amerikaner bekanntlich von japanischem Einfluss „befreien“ wollen – Amerika befreit immer jemand, das ist gewissermaßen den „Beruf“ dieses Landes. Der Antagonismus liegt also zwischen U.S.-Amerika und England. Er wächst mit jedem Tage. Die englische Bourgeoisie fühlte sich schon seit den ersten Versailler Jahren nicht ganz wohl dabei. Sie kennt den Wert der klingenden Münze – auf diesem Gebiet fehlt es ihr nicht an Erfahrung. Und sie kann die Tatsache nicht übersehen, dass der Dollar vollgewichtiger ist als das Pfund. Sie weiß, dass ein solches Übergewicht sich unvermeidlich auch in der Politik realisieren wird. Die englische Bourgeoisie hat die Macht ihres Pfundes in der internationalen Politik voll ausgekostet, und fühlt nun, dass jetzt die Ära des Dollars im Anzuge ist. Sie sucht sich zu trösten, erfindet Illusionen. Ernste englische Zeitungen schreiben: Ja, die Amerikaner sind sehr reich, aber es sind ja doch letzten Endes nur Provinzler. Sie kennen die Wege den Weltpolitik nicht. Wir Engländer besitzen unvergleichlich mehr Erfahrung. Die Yankees brauchen unseren Rat, unsere Anleitung. Und wir Engländer werden sie leiten, werden diese plötzlich reichgewordenen Verwandten aus den Provinz in Weltpolitik unterrichten, unsere Position selbstverständlich bewahren und dazu – ein gutes Geschäft machen.

Gewiss, ein Funken Wahrheit steckt in diesen Worten. Ich habe schon meine Zweifel darüber geäußert, ob alle amerikanischen Senatoren die Geographie Europas kennen, und muss gestehen, dass ich davon nicht ganz überzeugt bin. Wenn man aber ein großes europäisches Geschäft machen will, dann dürfte die Kenntnis den europäischen Geographie von Nutzen sein. Aber es ist für die besitzende Klasse nicht schwer, sich Wissen anzueignen. – Die Söhne unserer Morosow und Mamontow, deren Väter kaum mehr als Bauern gewesen waren, sahen fast wie englische Lords aus. Für die unterdrückte Klasse, für das Proletariat ist die Aufgabe sich zu entwickeln, sich zu differenzieren, sich alle Elemente der Kultur anzueignen, nicht so leicht. Aber für eine besitzende Klasse, zumal wenn sie so fabelhaft reich ist wie die amerikanische Bourgeoisie, ist das eine Kleinigkeit. Sie wird die Fachleute, die Lehrer, die sie braucht, finden, erziehen oder kaufen können. Der Amerikaner fängt erst an, sich seiner internationalen Bedeutung bewusst zu werden, aber ganz begriffen hat er sie noch lange nicht: Auch sein amerikanisches „Bewusstsein“ bleibt hinter dem „Sein“ Amerikas und der Welt zurück. Die ganze Frage darf nicht im Querschnitt des Heute erwogen werden, sondern in der Perspektive. Aber es ist keine Perspektive langer Jahrzehnte, sondern weniger kurzer Jahre.

Dieser babylonische Turm der ökonomischen Macht der Vereinigten Staaten wird sich in allem auswirken – heute hat er sich noch lange nicht ausgewirkt. Das, was das kapitalistische Europa in der Weltpolitik voraus hat, ist das Erbe seiner gestrigen ökonomischen Vormachtstellung, seines ehemaligen Einflusses, ein Überbleibsel, das den materiellen Gegebenheiten der Gegenwart nicht mehr entspricht. Amerika hat noch nicht gelernt, seine Herrschaft zu realisieren, das ist richtig. Aber es wird das am Leibe und an den Knochen Europas bald lernen. Amerika braucht einstweilen noch England als Manager auf dem Gebiete der Weltpolitik. Aber es wird bald anders werden. Wir wissen, wie schnell die besitzende Klasse beim Aufstieg ihren Charakter, ihr Aussehen, ihre Methoden ändert. Betrachten wir z. B. die deutsche Bourgeoisie. Wie lange ist es her, dass die Deutschen als blauäugige Träumer, als Volk der „Dichter und Denker“ galten? Aber es genügten einige Jahrzehnte den kapitalistischen Entwicklung, um die deutsche Bourgeoisie in die aggressivste, gepanzertste imperialistischste Klasse zu verwandeln. Freilich, die Abrechnung kam nur zu bald. Und wieder ändert sich der Charakter des deutschen Bürgers. Mit erstaunlicher Schnelligkeit eignet er sich auf der europäischen Bühne die Gesten und Gepflogenheiten eines geschlagenen Hundes an. Die englische Bourgeoisie ist nicht so leicht aus dem Konzept zu bringen. Sie ist ein Produkt von Jahrhunderten. Das Klassenbewusstsein ist ihr in Blut und Fleisch, in Knochen und Nerven übergegangen – man wird ihr die Herrschgelüste nicht so leicht austreiben können. Aber der Amerikaner wird es ihr schon besorgen, wenn er sich so recht ans Werk macht.

Vergebens tröstet sich der englische Bourgeois mit dem Gedanken, dass er den unerfahrenen Amerikaner leiten werde. Ja, eine Übergangszeit wird es geben. Aber mit der Rolle eines diplomatischen Haushofmeisters ist auf die Dauer kein Geschäft zu machen – es handelt sich um reale Macht, um Kapital, um die Industrie. Wenn man die Wirtschaft den Vereinigten Staaten prüft, ob es sich nun um Hafer oder um die größten Linienschiffe handelt, so muss man sagen, dass sie von keinem anderen Lande erreicht ist. Sie produzieren rund ½ bis ¾ aller Dinge, die die ganze Menschheit zusammengenommen zum Leben braucht. An Öl, das für Kriegswesen und Industrie von ausschlaggebender Bedeutung ist, erzeugen sie 2/3 der Weltproduktion, im Jahre 1923 – sogar 72 %! Es ist wahr, sie beklagen sich darüber, dass ihre Ölquellen zu versiegen drohen. Ich muss gestehen, dass ich in den ersten Jahren nach dem Kriege der Meinung war, dass diese Klagen nun den Zweck hätten, bevorstehende Attentate auf fremde Ölquellen in moralischeres Licht zu setzen. Doch die Geologen bestätigen tatsächlich, dass das amerikanische Öl bei gleichbleibendem Verbrauch nur 25-40 Jahre reichen wird. Aber in 25 bis 40 Jahren wird Amerika mit seiner Industrie und seiner Flotte zehnmal die Möglichkeit haben, anderen Leuten die Ölquellen fortzunehmen. Wir haben also keinerlei Veranlassung, uns darüber den Kopf zu zerbrechen.   Die Weltlage U.S.-Amerikas drückt sich in Zahlen aus, gegen die nicht aufzukommen ist. Ich will hier einige der wichtigsten anführen. Die Vereinigten Staaten produzieren ¼ der Weizenernte der Welt, über 1/3 der Haferernte der Welt, gegen ¾ der Weltmaisernte; ½ der Kohlenausbeute der Welt fällt auf die Vereinigten Staaten, ferner – gegen ½ des Eisenerzes, gegen der Gusseisenproduktion, 60 % der Stahlproduktion, 60 % den Kupferausbeute, 47 % der Zinkausbeute. Das Eisenbahnnetz der Vereinigten Staaten erreicht 36 % des Weltnetzes; die Handelsflotte, vor dem Kriege kaum erst vorhanden, erreicht jetzt 25 % der Welttonnage, die Zahl der in der transozeanischen Republik laufenden Kraftwagen beträgt 84,4 % der Gesamtmenge der Kraftwagen der Welt. Obwohl die Goldausbeute der Vereinigten Staaten einen relativ bescheidenen Platz einnimmt (14 %), so machte es ihre aktive Zahlungsbilanz ihnen möglich, 44,2 % den Goldvorräte der Welt in Amerika aufzuspeichern. Das Volkseinkommen der Vereinigten Staaten ist um das 2½fache größer als das Volkseinkommen Englands, Frankreichs, Deutschlands und Japans zusammengenommen. Das sind Zahlen, die entscheiden. Sie werden sich zu Wasser, zu Lande und in der Luft Geltung zu verschaffen wissen.

Was bedeuten diese Zahlen für Großbritannien? Nichts Gutes. Sie bedeuten vor allem das eine: auch England wird das allgemeine Schicksal der kapitalistischen Länder teilen müssen: Amerika wird Großbritannien auf Ration setzen. Ob es Seiner Lordschaft Curzon [2] gefällt oder nicht – auch sie wird sich die Rationierung gefallen lassen müssen. Doch wir können hinzufügen: wenn die Lage Englands derart geworden ist, dass es sich die Rationierung offenkundig gefallen lassen muss, dann wird es nicht Lord Curzon sein, der die Sache macht – das wird er nicht tun, dazu ist er zu stolz – nein, damit wird Macdonald beauftragt werden. Den Ehrgeiz den Politiker der englischen Bourgeoisie ist nicht derart, dass er die Rationierung des Staatslebens dieses größten Weltimperiums nach amerikanischen Rezepten dulden könnte. Dazu bedarf es der frommen Redekunst eines Macdonald, eines Henderson, der „Fabier“, die geneigt sind, einen Druck auf die englische Bourgeoisie auszuüben und die englischen Arbeiter zu solcher Auffassung zu überreden: „Nun, sollen wir etwa mit Amerika kämpfen? Nein, wir sind für den Frieden, wir sind für die friedliche Verständigung.“ Welcher Art diese Verständigung mit Onkel Sam sein kann – wird man ganz genau wissen, wenn man sich die angeführten Zahlen überlegt. Rationierung Englands – das ist die Verständigung, eine andere gibt es nicht. Willst du nicht – dann mach’ dich auf den Krieg gefasst.

England hat bisher Amerika ein Zugeständnis nach dem andern gemacht. Wir sahen doch mit eigenen Augen, wie der amerikanische Präsident Harding England, Frankreich und Japan nach Washington einlud und England mit der größten Seelenruhe einen Vorschlag machte. Welchen Vorschlag? Ein starkes Stück: England sollte seine Flotte einschränken. England bekannte sich ja vor dem Kriege zu der Doktrin, wonach die englische Flotte zweimal so stark sein müsse, als die Flotten der zwei stärksten Seemächte zusammengenommen. Die Vereinigten Staaten machten dieser Doktrin ein für allemal ein Ende. Wie zu erwarten war, begann Harding seine Rede in Washington mit den Worten: „Das Gewissen der Zivilisation ist erwacht,“ und beschloss sie folgendermaßen: Du wirst rationiert, England – du kannst fünf Einheiten haben, ich (einstweilen) auch nun fünf Einheiten, Frankreich – drei Einheiten, Japan – drei Einheiten! Wie kommt man auf dieses Zahlenverhältnis? Die amerikanische Flotte war vor dem Kriege unvergleichlich schwächer als die englische. Während des Krieges ist sie stark gewachsen. Wenn die Engländer die amerikanische Flotte mit misstrauischen Blicken betrachten, dann pflegen die amerikanischen Marineschriftsteller zu antworten: Wozu haben wir unsere Flotte gebaut? Doch nur, um eure englische Insel vor den deutschen U-Booten zu schützen. Zu diesem Zweck also haben die Amerikaner ihre Flotte gebaut. Aber sie ist auch für andere Zwecke zu gebrauchen. Warum hatten es die Vereinigten Staaten nötig, sich zu diesem Einschränkungsprogramm von Washington zu bekennen? Keineswegs deshalb, weil sie den Engländern im Bau von Kriegsschiffen, zumal den größten. Linienschiffe, nicht folgen konnten. Nein, auf diesem Gebiet übertreffen sie alle. Aber die erforderlichen Stammtruppen von Seeleuten lassen sich nicht in kurzer Zeit erziehen, schulen und schaffen – dazu braucht man Zeit – und das ist die Ursache für die in Washington beschlossene zehnjährige Pause. Das Programm der Einschränkung im Bau von Linienschiffen verteidigend, schrieben die Marineschriftsteller Amerikas: „Wenn ihr nicht ja sagt, dann backen wir Kriegsschiffe wie Semmeln.“ Die Antwort des führenden englischen Marinejournals lautete etwa folgendermaßen: „Wir sind ja bereit, die pazifistische Vereinbarung zu akzeptieren, warum droht ihn uns also noch?“ Hier kommt also schon die neue Psychologie des regierenden England zum Ausdruck. Sie gewöhnt sich an den Gedanken, dass man sich Amerika unterordnen müsse und dass – höfliche Behandlung das höchste ist, was man fordern könne. Und das ist in der Tat das Maximum dessen, worauf die europäische Bourgeoisie von amerikanischer Seite rechnen kann.

Bei der Rivalität zwischen Amerika und England sind für England nun Rückzüge möglich. Um den Preis dieser Rückzüge erkauft sich das englische Kapital das Recht auf Mitwirkung bei den Geschäften des amerikanischen Kapitals. Es entsteht gewissermaßen ein angelsächsisches Koalitionskapital. So wird der Schein gewahrt und nicht ohne Profit. Aber die dabei erzielten Gewinne werden, auf Kosten des Rückzugs, zu Amerikas Gunsten gemacht. Amerika verstärkt seine internationalen Stellungen, England schwächt die ihren. Dieser Tage verzichtete England auf die schon geschlossene Befestigung von Singapur. Hätten wir eine Karte vor uns, dann könnte man die wichtigsten Wege des Imperialismus zeigen. Singapur ist den Schlüssel zwischen dem Indischen und dem Stillen Ozean. Das ist eine außerordentlich wichtige Basis den englischen Politik im Fernen Osten. Aber England kann seine Politik im Stillen Ozean entweder nur mit Japan gegen Amerika, oder mit Amerika gegen Japan machen. Für die Befestigung von Singapur wurden ungeheure Summen bereitgestellt. Und Macdonald hatte zu entscheiden: mit Amerika gegen Japan, oder mit Japan gegen Amerika? Und er verzichtete auf die Befestigung von Singapur. Versteht sich, dass ist noch nicht das letzte Wort der englischen imperialistischen Politik. Diese Frage könnte von neuem aufgeworfen und dann anders entschieden werden. Aber in diesem Augenblick bedeutet das einen Verzicht Englands auf eine selbständige – oder japanfreundliche – Politik im Stillen Ozean. Und wer hat England befohlen (jawohl – befohlen!), dem Bündnis mit Japan ein Ende zu machen? Amerika. Das war ein förmliches Ultimatum, das den Bruch mit Japan vorschrieb. Und England brach mit Japan. Einstweilen zieht sich England ununterbrochen zurück. Aber bedeutet das, dass es immer so weitergehen wird, dass ein Krieg zwischen ihnen ausgeschlossen ist? Keinesfalls. Im Gegenteil: mit Zugeständnissen erkauft sich England doppelte Schwierigkeiten in den Zukunft. Unter dem Deckmantel der Arbeitsgemeinschaft häufen sich Widersprüche von unerhörter Explosivkraft. Es kann nicht nur zu einem Kriege kommen – es wird mit Notwendigkeit zum Kriege kommen; denn England kann sich auf die Dauer nicht zurückdrängen lassen und sein britisches Weltreich abbauen. In einem gegebenen Augenblick wird es gezwungen sein, alle seine Kräfte für den bewaffneten Widerstand mobil zu machen. Aber soweit man voraussehen kann, sind alle Chancen auch im offenen Kampfe auf Amerikas Seite.

England ist eine Insel, aber auch Amerika ist in seiner Art eine Insel, nur ist sie unendlich größer. Das tägliche Bestehen Englands hängt vollständig von den Übersee-Ländern ab. Der amerikanische „Insel“kontinent enthält dagegen alles, was zum Leben und zur Kriegführung erforderlich ist. England besitzt an allen Meeren Kolonien – Amerika wird kommen und sie „befreien“. Wenn Amerika gegen England Krieg führen wird, wird es 300 Millionen Inder auffordern, sich zur Verteidigung ihrer unantastbaren nationalen Rechte zu erheben. Den gleichen Ruf wird es an Ägypten, an Irland ergehen lassen – es gibt genug Länder, die man von dem Joch des englischen Kapitals „befreien“ kann! Ebenso wie Amerika sich jetzt den Mantel des Pazifismus umlegt, die Nährsäfte Europas auszusaugen, wird es auch im Kriege mit England als der große „Befreien“ der kolonialen Völker auftreten.

Die Geschichte wird dem amerikanischen Kapital für jedes Raubgeschäft eine Befreiungsparole in die Hand drücken. China gegenüber gilt die Parole der „offenen Tür“. Japan will China zerstückeln und sich gewisse Provinzen mit militärischer Gewalt unterordnen; denn Japan hat weder Eisen noch Kohle noch Öl – China aber hat das alles in Hülle und Fülle. Ohne Kohle, Eisen und Öl kann Japan weder leben noch kämpfen; das sind die drei ungeheuren Minus bei seinem Kampf mit U.S.-Amerika; daher strebt es nach den Reichtümern Chinas. Es ist also klar, warum die Vereinigten Staaten sagen: „Offene Tür in China!“ Für die Ozeane hat Amerika ein anderes Wort bei der Hand! „Freiheit den Meere!“ Das klingt wunderschön! Und was bedeutet diese Parole in Wirklichkeit? Sie besagt: „Mach Platz, englische Flotte, gib mir den Weg frei!“ Offene Tür in China bedeutet: „Japaner, mach dich fort und lass’ mich hinein!“ Es handelt sich natürlich stets um wirtschaftliche Pläne und Raubzüge. Aber die spezifischen Entwicklungsbedingungen U.S.-Amerikas lassen diese Tätigkeit im pazifistischen Lichte erscheinen und verleihen ihnen oft den Charakter einer Befreiungsaktion.

Gewiss, auch England hat enorme Vorzüge von seiner Entstehungsgeschichte her: vor allem mächtige Stützpunkte und Flottenbasen in der ganzen Welt. Amerika hat sie nicht. Aber erstens lässt sich das alles schaffen; zweitens nach und nach an sich reißen; und drittens – sind die Stützpunkte Englands mit seiner Kolonialherrschaft eng verbunden und daher sehr unsicher. Amerika wird immer genug Bundesgenossen und Helfer in der ganzen Welt finden – den Stärkste findet sie immer – und mit den Bundesgenossen werden sich auch die notwendigen Flottenbasen einstellen. Wenn Amerika jetzt, mit der Parole der Verteidigung der weißen Rasse vor der gelben, Kanada und Australien an sich bindet und damit sein Recht auf die maritime Überlegenheit begründet, so wird sich das nächstfolgende Stadium möglicherweise sehr bald einstellen: der fromme Presbyterianer wird erklären, dass auch die gelben Leute schließlich nach Gottes Ebenbilde geschaffen sind und also das volle Recht haben, die englische Kolonialherrschaft durch die amerikanische zu ersetzten. Die Lage der Vereinigten Staaten wäre bei einem Kriege mit England außerordentlich vorteilhaft, denn sie könnten die Inder, Ägypter und die übrigen Kolonialvölker sofort bewaffnen, unterstützen und zum Aufstand bringen. England wird sich die Sache zehnmal überlegen, ehe es sich zu einem Kriege entscheidet. Aber solange es sich dazu nicht entschließt, wird es dem Druck des amerikanischen Kapitals Schritt um Schritt nachgeben müssen. Zur Kriegführung braucht man die Lloyd George und Churchill; zum kampflosen Rückzug – die Macdonalds.

Das über die Beziehungen zwischen Amerika und England Gesagte gilt mit entsprechenden Änderungen zugunsten Amerikas, auch von Japan, ganz zu schweigen von Frankreich und anderen zweitrangigen europäischen Staaten. Worum reißt man sich in Europa? Um Elsass-Lothringen, um die Ruhr, um das Saargebiet, um Schlesien, kurz, um winzige Stückchen Erde. Amerika aber arbeitet indessen einen Plan aus, wie es Europa auf Ration setzen kann. Im Gegensatz zu England denkt Amerika nicht daran, für seine Kolonien, darunter auch für Europa, eine amerikanische Armee und eine amerikanische Verwaltung zu schaffen – es wird ihnen „gestatten“, bei sich zu Hause ein reformistisches, „pazifistisches“, zahnloses Regime mit Hilfe den Sozialdemokratie, der Radikalen und der anderen bürgerlichen Parteien und auf Kosten den eigenen Völker zu unterhalten; es wird die Leute dazu bringen, dass sie Amerika dafür segnen werden (bis auf weiteres!), dass es ihre „Selbständigkeit“ nicht angetastet habe. Das ist der Plan des amerikanischen Kapitals, das ist das Programm, auf dem die II. Internationale aufgebaut wird.

 

 

Fußnoten

1. In dem von mir im Auftrage des V. Kongresses verfassten Manifest (zum ersten Jahrzehnt nach dem Kriege) findet dieser Gedanke den folgenden Ausdruck:

Der gewaltigste internationale Antagonismus tastet sich langsam, aber hartnäckig jene Linie entlang, an der die Interessen des Britischen Reiches mit den Interessen der U.S.A. kollidieren. In den letzten zwei Jahren konnte es oft scheinen, als wenn zwischen diesen beiden Giganten ein dauerhaftes Einvernehmen erzielt worden sei. Aber den Anschein der Dauerhaftigkeit wird dieses Einvernehmen nur haben, solange der wirtschaftliche Aufstieg der nordamerikanischen Republik sich hauptsächlich auf der Grundlage des Innenmarktes entfalten kann. Dieser Zustand nimmt jetzt deutlich ein Ende. Die aus dem Ruin Europas hervorgegangene Agrarkrise in Amerika ist ein Vorbote der schon nahenden handels-industriellen Krise. Die Produktivkräfte Amerikas müssen sich neue breitere Zugänge zum Weltmarkt suchen. Der Außenhandel der Vereinigten Staaten kann sich aber vor allem auf Kosten des britischen Handels entfalten; die amerikanische Handels- und Kriegsflotte – im Gegensatz zur britischen Flotte. Die Periode der englisch-amerikanischen Arbeitsgemeinschaft wird einem wachsenden Kampf Platz machen müssen, der seinerseits eine Kriegsgefahr von unerhörten Ausmaßen in Aussicht stellt.

2. Inzwischen verstorben.

 


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008