Leo Trotzki

 

Aussichten der Weltentwicklung


VI. Der Plan, „Europa auf Ration“ zu setzen

Was will das amerikanische Kapital, was verlangt es? Es verlangt, sagt man uns, Stabilität, es will den europäischen Markt wieder herstellen, es will Europa zahlungsfähig machen. Wie? Auf welchem Wege? In welchem Ausmaße? Das amerikanische Kapital kann doch unmöglich Europa konkurrenzfähig machen wollen, es kann nicht zulassen, dass England und zumal Deutschland und Frankreich – vor allem aber Deutschland – ihre Weltmärkte zurückerobern; denn auch dem amerikanischen Kapital ist es jetzt ein wenig zu eng geworden, denn es ist jetzt auch exportierendes Kapital geworden: es exportiert Erzeugnisse, es exportiert sich selbst. Das amerikanische Kapital will sich eine exponierte Stellung schaffen, es will einen amerikanischen imperialistischen Absolutismus auf unserem Planeten verwirklichen – das ist sein Ziel. Was soll es mit Europa anfangen? Man sagt, es will in Europa den Frieden schaffen. Wie? Unter seiner Hegemonie. Und das bedeutet? Das bedeutet, dass man Europa gestatten will, innerhalb bestimmter, im Voraus festgesetzter Grenzen zu gesunden, wozu Europa bestimmte, fest umrissene Parzellen des Weltmarktes eingeräumt werden. Das amerikanische Kapital hat das Kommando in der Hand – die Diplomaten fügen sich. Ja, es geht daran, seine befehlshaberische Gewalt auf die europäischen Banken und Trusts, auf die europäische Bourgeoisie in ihrer Gesamtheit auszudehnen. Danach strebt es. Es wird die allen zukommenden Gebiete des Absatzmarktes zuschneiden, es wird die Tätigkeit der europäischen Finanziers und Industriellen normieren. Wenn man die Frage was will das amerikanische Kapital? – klar und präzise beantworten will, so wird man sagen müssen: Es will das kapitalistische Europa „auf Ration“ setzen. Das bedeutet, dass Amerika Europa sagen wird, wie viel Tonnen, Liter oder Kilogramm es von dieser oder jener Ware kaufen und verkaufen darf. Schon in den Thesen zum Dritten Kongress haben wir gesagt, dass Europa balkanisiert ist. Dieser Vergleich erhält jetzt eine weitere Entwicklung. Die Staaten der Balkanhalbinsel haben immer einen Protektor in Gestalt des zaristischen Russlands oder Österreich-Ungarns gehabt. Das ganze politische Leben: der Wechsel der regierenden Parteien, sogar der Wechsel der Dynastien (in Serbien) geschah nach dem Willen des mächtigen Protektors. Jetzt gerät das balkanisierte Europa in eine ähnliche Lage gegenüber U.S.-Amerika und zum Teil gegenüber England. In dem Grade, als der Antagonismus unter den europäischen Regierungen diese oder jene Form annehmen wird, werden sie die Audienzzimmer von Washington oder London überlaufen, der Wechsel der Parteien und der Regierungen wird letzten Endes durch den Willen des amerikanischen Kapitals bestimmt werden, das Europa sagen wird, wie viel es essen und trinken darf ... Die Ration – wir wissen es aus eigener Erfahrung – ist eine recht unangenehme Sache, zumal dann, wenn diese amerikanische, streng normierte Ration nicht nur den europäischen Völkern, sondern auch deren herrschenden Klassen, die auf die Zuspeise nicht verzichten können, geboten wird. Es handelt sich im Grunde genommen nicht nur um Deutschland oder Frankreich, sondern auch um Großbritannien. Ja, auch diese Großmacht wird sich allmählich auf dasselbe Schicksal gefasst machen müssen. Man spricht zwar oft genug, dass Amerika jetzt mit England zusammengehe, dass sich ein angelsächsischer Block gebildet habe, man spricht von angelsächsischem Kapital, von angelsächsischer Politik. Der grundlegende Antagonismus der Welt ist – so sagt man – die Feindschaft zwischen Amerika und Japan. Aber so sprechen jene, die nichts von der Sache verstehen. Der grundlegende Antagonismus verläuft an den Berührungspunkten der U.S.-amerikanischen und englischen Interessen. Das wird mit jedem Tage mehr in Erscheinung treten.

 


Zuletzt aktualisiert am 27.7.2004