Leo Trotzki

 

Aussichten der Weltentwicklung


V. Der „pazifistische“ Imperialismus der Vereinigten Staaten

Amerika hat den Weg der aktiven imperialistischen Weltpolitik schon seit langem definitiv betreten. Wenn man versucht, chronologische Zahlen heranzuziehen, so ergibt sich, dass die entscheidende Wendung in der Politik der U.S.A. etwa in die Grenzscheide zweier Jahrhunderte, 19. und 20., fällt. Der Spanisch-Amerikanische Krieg war 1898; damals eroberte Amerika Kuba, sicherte sich so den Schlüssel zum Panamakanal und damit den Zugang zum Stillen Ozean, China und dem asiatischen Kontinent. Im Jahre 1900, im letzten Jahre des 19. Jahrhunderts, fiel die Ausfuhr Nordamerikas an Industrieprodukten zum erstenmal in der Geschichte der Vereinigten Staaten größer aus als die Einfuhr der Industrieprodukte. Das machte Amerika – sozusagen buchhalterisch – zu einem Lande mit aktiver Weltpolitik. 1901 oder 1902 sichert sich Amerika die Panamaprovinz Kolumbiens. Amerika hat hier ein eigenes politisches System, das es auf den Hawaii-Inseln verfolgt hat, ferner, wenn ich nicht irre, auf den Samoa-Inseln und jedenfalls in Panama; dieselbe Politik kommt jetzt in Mexiko zur Anwendung. Wenn die große transatlantische Republik sich ein fremdes Gebiet aneignen oder unterordnen, oder einen wucherischen Vertrag abschließen will, dann inszeniert sie eine kleine Revolution und erscheint dann als Friedensstifter auf der Bildfläche – genau wie General Dawes jetzt in Europa erschien, um das durch den Krieg, also unter Amerikas Mithilfe zerstörte Land, mit den Segnungen eines amerikanischen Friedens zu beglücken. So sichern sich die U.S.A. 1902 Panama, beginnen dann mit den Kanalbauten, vollenden sie in großen Zügen; 1920 eröffnet der vollkommen fertige Panamakanal im wahren Sinne des Wortes das neue große Kapitel der Geschichte Amerikas und des ganzen Erdballs. U.S.-Amerika hat im Interesse und im Geiste des amerikanischen Imperialismus die Geographie auf radikale Weise korrigiert. Stellen wir uns die Karte Amerikas vor. Die Industrie der U.S.A. ist bekanntlich auf dem östlichen atlantischen Gebiet konzentriert. Der Westen des Landes ist vorwiegend landwirtschaftlich. Das ganze Streben der Vereinigten Staaten – besser gesagt, das grundlegende Streben – ist nach China gerichtet, nach dem Lande mit den 400 Millionen Menschen, mit seinen unerschöpflichen, unermesslichen Quellen. Die amerikanische Industrie hat sich mit dem Panamakanal einen Wasserweg von Osten nach Westen geschaffen und ihn so um einige tausend Kilometer gekürzt. Diese Daten – 1898, 1900, 1914 und 1920 – sind Etappen auf dem Wege der U.S.A. zum Imperialismus, auf der großen Landstraße der internationalen Räuberei. Der imperialistische Krieg ist die entscheidende Weiche auf diesem Wege. Die U.S.A. haben sich bekanntlich erst gegen Ende des Krieges in das Gemetzel eingemischt. Drei Jahre lang haben die U.S.A. nicht gekämpft. Mehr als das: Wilson erklärte zwei Monate vor der Einmischung in den Krieg, dass von einer Teilnahme Amerikas an den blutigen Gräueln der besessenen Europäer keine Rede sein könne. Die Vereinigten Staaten gaben sich bis zu einem gewissen Moment damit zufrieden, das Blut der „besessenen Europäer“ in Dollars auszumünzen. Aber in der Stunde, als die Befürchtung aufkam, dass der Krieg mit einem Siege Deutschlands, des in Zukunft gefährlichsten Rivalen, enden könnte, mischten sich die Vereinigten Staaten aktiv in den Krieg ein. Und diese Stunde entschied über den Ausgang des Kampfes.

Folgendes ist sehr interessant: aus eigennützigen Motiven hat Amerika den Krieg mit seiner Industrie genährt, aus eigennützigen Motiven hat es sich in den Krieg eingemischt, um einen gefährlichen Konkurrenten aus der Welt zu schaffen – und trotzdem bewahrt Amerika den Ruf eines pazifistischen Landes! Das ist eines der merkwürdigsten Paradoxe, einer der lustigsten Scherze der Geschichte, einer jener Scherze, die uns schon oft traurig stimmten und uns auch in Zukunft häufig genug in diese Stimmung versetzen werden. Der amerikanische Imperialismus, dieser im eigentlichsten Sinne des Wortes brutale, raubgierige Imperialismus, hat infolge der besonderen Verhältnisse in Amerika die Möglichkeit, sich in ein pazifistisches Gewand zu hüllen. Er macht es ganz anders, als die imperialistischen Wegelagerer der Alten Welt: bei diesen tritt alles offen zutage, bei U.S.-Amerika aber – bei ihrer Bourgeoisie, bei ihren Regierungen – hat sich die pazifistische Maske dem imperialistischen Gesicht so fest angelegt, dass es nicht leicht ist, sie herunterzureißen. Das ist kein Zufall – abgesehen von den besonderen Entwicklungsbedingungen Amerikas, halfen die geographische Lage, aber auch die Geschichte nach Kräften mit. Die Vereinigten Staaten sind stets ohne eine reguläre Landarmee ausgekommen. Wie kommt das? Das ist klar – wen sollten sie fürchten: rechts – der Atlantische, links – der Stille Ozean, der auch der Pazifische Ozean heißt -; wer ihnen beikommen? England ist eine Insel, und darin liegt eine der grundlegenden Voraussetzungen für seine Eigenart und damit auch für seine Vorzüge. Aber auch die Vereinigten Staaten bilden eine gigantische Insel, wenn man sie der Alten Welt gegenübersteht. England sichert sich mit einer Flotte. Aber wenn man die Linie der englischen Flotte durchbricht, liegen die britischen Inseln hilflos da – man könnte diesen schmalen Erdstrich mit einem Kavalleriesäbel zerhauen. Mit Amerika, mit den Vereinigten Staaten, lässt das sich nicht so leicht machen. Das ist eine Insel, die gleichzeitig alle Vorzüge Russlands, seine gigantischen Ausmaße besitzt. Selbst wenn die Vereinigten Staaten keine Flotte hätten, so wären sie selbst dann für Europa oder Japan dank dieses Umstandes fast unangreifbar. Das ist die grundlegende geographische Ursache für die pazifistische Maske, die Amerikas zweites Gesicht wurde. In der Tat: Trotz des waffenstarrenden Europa, trotz aller übrigen Länder verzichtet Amerika auf eine Armee. Wenn aber Amerika eines Tages eine Armee schafft, dann ist es eben „dazu gezwungen“ worden. Wer hat es dazu gezwungen? Die Barbaren, der Kaiser, die deutschen Imperialisten, jene Menschen, die nicht die Segnungen der presbyterianischen und der Quäkerreligion erfahren haben. Die andere Ursache der pazifistischen Ehrbarkeit ist, wie bereits erwähnt, in der Geschichte zu suchen. U.S.-Amerika hat die Weltbühne sehr spät betreten, damals, als sie schon längst aufgeteilt und in festen Händen war. Das imperialistische Vordringen U.S.-Amerikas vollzieht sich daher unter der Parole: „Freie Seewege“, „offene Tür“ usw. Wenn also Amerika zu einer offenkundig militaristischen niederträchtigen Aktion gezwungen wird, so fällt die Verantwortung – in den Augen der Bevölkerung der U.S.A., und bis zu einem gewissen Grade in den Augen der ganzen Menschheit – auf andere Bürger der Welt, nur nicht auf Amerika selbst.

Nachdem Wilson geholfen hatte, Deutschland den letzten Stoß zu versetzen, erschien er im Glorienschein der 14 Punkte in Europa, um aller Welt allgemeinen Wohlstand und Frieden, den Völkern das Selbstbestimmungsrecht, dem verbrecherischen Kaiser die verdiente Strafe, den tugendhaften Nationen die lang ersehnte Belohnung zu versprechen. Evangelium Wilsons! Wir haben es noch gut im Gedächtnis. Und das ganze kleinbürgerliche Europa, zum großen Teil auch das Europa der Arbeiter, d.h. das menschewistische Europa, erbaute sich lange Wochen und Monate hindurch an diesem Wilson-Evangelium. Dieser Professor aus der Provinz, der berufen war, die Rolle des Vertreters des amerikanischen Kapitals zu spielen, der bis zu den Knien in Blut watete – denn er war es ja, der das europäische Gemetzel nach Kräften entfachte -, dieser Mann also erschien in Europa als der Apostel des Pazifismus und des Friedens. Und alle sagten: Wilson wird uns den Frieden geben, Wilson wird Europa in Ordnung bringen. Aber das, was Wilson wollte, ist ihm nicht gelungen, das hat der jetzt nach Europa geschickte General Dawes mit seinem Bankiergefolge wieder aufgenommen. Wilson aber drehte Europa seinen beleidigten Rücken zu und kehrte nach Amerika zurück. Was war das damals für ein demokratisch-pazifistisches, sozialdemokratisches Gejammer über den Irrsinn der europäischen Bourgeoisie, die mit Wilson nicht einig werden konnte und es nicht verstanden, die Befriedung Europas herzustellen!

Wilson wurde abgesetzt. Die republikanische Partei kam ans Ruder. In Amerika begann ein handels-industrieller Aufschwung – fast ausschließlich auf der Grundlage des Binnenmarkts, d.h. auf der Grundlage des vorübergehenden Gleichgewichts zwischen Industrie und Landwirtschaft, zwischen dem Osten und dem Westen des Landes. Dieser Aufstieg währte nicht lange, etwa zwei Jahre. Seit dem vorigen Jahr schlug er in ein labiles Gleichgewicht um, und im Frühjahr dieses Jahres zeigten sich deutliche Anzeichen einer handelsindustriellen Krise, der eine harte, in landwirtschaftlichen Gebieten der U.S.A. wütende Agrarkrise voranging. Wie immer, gab die Krisis auch jetzt dem Imperialismus eine neuen lebendigen Anstoß. Die Folge davon war, dass das U.S.-amerikanische Finanzkapital seine Vertreter nach Europa schickte, um jenes Unternehmen zu Ende zu führen, das mit dem imperialistischen Kriege einen sehr soliden Anfang genommen hatte und sich im Versailler Frieden recht gut auswirkte: das Unternehmen der wirtschaftlichen Versklavung Europas.

 


Zuletzt aktualisiert am 27.7.2004