Leo Trotzki

 

Aussichten der Weltentwicklung


IV. Wovon hängt das Schicksal des europäischen Reformismus ab?

In den wichtigsten Ländern Europas liegt jetzt die Regierungsgewalt in den Händen der Reformisten. Der Reformismus setzt gewisse Zugeständnisse von Seiten der besitzenden Klassen zugunsten der Besitzlosen voraus, gewisse, wenn auch bescheidene „Opfer“ des bürgerlichen Staates zugunsten der Arbeiterklasse. Können wir annehmen und glauben, dass das Europa der Gegenwart, das seit dem Kriege so sehr verarmte Europa, über irgendwelche ökonomische Grundlagen, die zur Durchführung tiefer und breiter sozialer Reformen erforderlich sind, verfügt? Auch die Reformisten selbst sprechen wenig davon, wenigstens auf dem Kontinent. Wenn man auch jetzt zuweilen von „sozialen Reformen“ spricht, so doch nur in entgegengesetztem Sinne: Von der Abschaffung des Achtstundentages, von der Einführung solcher Korrekturen zu diesem Achtstundentage, die ihn de facto aufheben usw. Aber es gibt eine praktische Frage, die den „Reformen“ sehr nahe steht und die eine Lebensfrage für die ArbeiterInnen Europas, vor allem Deutschlands, einiger Gebiete des ehemaligen Österreich-Ungarns, Polens und auch Frankreichs ist – es ist die Frage der Stabilisierung der Währung. Die Stabilisierung der Geldeinheit – der Mark, der Krone, des Francs – bedeutet Stabilisierung des Arbeitslohns, Sicherung vor dem furchtbaren Abwärtsspringen des Lohns. Das ist eine zentrale Frage im Leben des ganzen kontinentalen europäischen Proletariats. Es steht außer Zweifel, dass jene relativen, sehr schwankenden und unverlässlichen Erfolge, die in der Stabilisierung der Währung bisher erreicht sind, eine der wichtigsten Grundlagen der gegenwärtigen reformistischpazifistischen Ära sind. Wenn die Mark in Deutschland ihr Gleichgewicht verlieren und wieder in den Abgrund rollen würde, dann wäre die revolutionäre Situation restlos wiederhergestellt. Und wenn der französische Franc fortfahren wird, von Stufe zu Stufe hinabzukollern, wie er es vor einigen Monaten getan hat, dann wird das Schicksal des Ministeriums Herriot noch problematischer und zweifelhafter sein, als es ohnehin ist.

Die Frage des Neoreformismus, die wir jetzt zu behandeln haben, ist also vor allem folgendermaßen zu formulieren: Wie sind die Hoffnungen auf eine Festigung des wirtschaftlichen Gleichgewichts, zu mindesten relativen und vorübergehenden Gleichgewichts, insbesondere auf die Stabilisierung der Valuta und des Arbeitslohns begründet? Welches sind diese Grundlagen, und wie steht es mit ihrer Haltbarkeit? Bei der Prüfung dieser Frage stoßen wir auf die Zentralgestalt der neuesten Geschichte der Menschheit – die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Wer jetzt den Versuch macht, sich über das Schicksal Europas oder des Weltproletariats klar zu werden, ohne die Bedeutung der U.S.A. in Rechnung zu ziehen, der macht die Rechnung ohne den Wirt. Wir müssen es uns einprägen: Der Wirt der kapitalistischen Menschheit ist New York und seine Regierungszentrale Washington. Wir erkennen das jetzt allein schon an dem Sachverständigengutachten. Wir sehen, wie Europa, dieses gestern noch gewaltige, auf seine Kultur und seine historische Vergangenheit stolze Europa, um irgendwie aus der gegenwärtigen Klemme, aus jenen fürchterlichen Gegensätzen und Nöten herauszukommen, in die es sich selbst getrieben hat – sich gezwungen sieht, einen General Dawes über den Atlantischen Ozean zu holen, von dem gar nicht ausgemacht ist, dass er das Pulver oder auch nur das Salz erfunden hat. Nein, das weiß kein Mensch. Man lässt ihn also aus Amerika kommen, und er setzt sich, seines Wertes voll bewusst, an den Tisch, legt sogar, wie manche behaupten, die Beine auf den Tisch und macht einen genauen Fahrplan, nach dem die Ordnung in Europa wiederhergestellt werden muss. Dann wird dieser Fahrplan allen Regierungen Europas vorgelegt, damit sie wissen, wann sie kommen und gehen dürfen. Und dieser Plan wird akzeptiert: Hughes, der Außenminister der U.S.A., macht als „nicht offizielle Person“ eine Vergnügungsreise nach Europa. Indes organisieren Macdonald und Herriot eine überaus offizielle Konferenz. Alle diese gewohnten diplomatischen Gebräuche sind uns sattsam bekannt. Hinter dem Rücken der Konferenz, hinter den Kulissen (eigentlich nicht einmal hinter den Kulissen, denn jedermann kann die ausgezeichneten dauerhaften amerikanischen Schuhe des Mr. Hughes sehen) agiert dieser Außenminister Amerikas, fordert und befiehlt. Warum befiehlt er? Weil er die Macht in Händen hält. Und worin besteht diese Macht? Im Kapital. Im Reichtum. In dem unerhörten ökonomischen Übergewicht. [1] Die Vergangenheit Europas und der ganzen Welt hat sich in einem Tempo entwickelt, das zum großen Teil von einem englischen Taktstock angegeben wurde. England ist es zuerst gelungen, Kohle und Eisen in weiterem Ausmaße auszunützen, und das legte die Führung der Welt für lange Zeit in seine Hände. Mit anderen Worten: England hat seine wirtschaftliche Überlegenheit politisch ausgemünzt, unter anderem auch in den internationalen Beziehungen. Es hat Europa kommandiert, ein Land gegen das andere aufgehetzt, Anleihen gegeben oder verweigert, den Kampf gegen die Französische Revolution finanziert und vieles andere getan. England herrschte über die Welt. Die U.S.A. sind ja die älteste Tochter Englands, die eine gute Aussteuer mitbekommen hat. Aber die Überlegenheit, die England in seiner besten Blütezeit Europa und der übrigen Welt gegenüber gehabt hat, ist nichts, verglichen mit jenem Übergewicht, das die U.S.A. jetzt über die ganze Welt, England inbegriffen, haben. Und das eben ist jetzt die wichtigste Frage der Geschichte Europas und der Welt. Nur wenn man sie berücksichtigt und versteht, wird man das Schicksal unserer neuesten Geschichte, ihrer nächsten Kapitel, verstehen. Es ist kein Zufall, dass der General Dawes über den Ozean kam, es ist kein Zufall, dass wir alle jetzt wissen müssen, dass dieser Mann Dawes heißt und den Rang eines Generals hat. Einige amerikanische Bankiers begleiten ihn. Sie prüfen die diplomatischen Dokumente der europäischen Regierungen und sagen: Das gibt’s nicht; das fordern wir; jenes mag hingehen. Wie ist das möglich? Die ganze Reparationsangelegenheit wird nicht klappen, wenn Amerika nicht die erste Zahlung leistet, im Grunde genommen klägliche 800 Millionen Goldmark, zur Sicherstellung der deutschen Valuta. Von Amerika hängt es ab, ob der Frank steht oder fällt, von Amerika hängt es ein wenig ab, ob das Pfund Sterling steht oder fällt oder nicht fällt, sondern schwankt. Ja, von Amerika hängt es ab. Und wir wissen, dass die Mark, der Franc und das Pfund Sterling im Leben der europäischen Völker eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen.

 

 

Fußnote

1. Am 22. Juli 1925 hielt Hughes in einer Versammlung der englischen Minister und Juristen eine Rede, die, seiner Behauptung nach, nicht einmal einen „Schatten des Offiziellen“ an sich hatte. Der Redner äußerte sich sehr ironisch (seine Ironie erinnert sehr an die Sohlen der amerikanischen Stiefel) über jene Europäer, die nach Amerika kommen, um aufzuklären, zu überreden, den Sympathien der Yankees und zumal ihrer Hilfe nachzujagen. Dann begann Hughes auch seinerseits „aufzuklären und zu überreden“, den Europäern klarzumachen, wie die europäischen Völker die Unterstützung und Mitwirkung der Vereinigten Staaten erreichen können. „Die westliche Halbkugel (Nord- und Südamerika) – ich bin glücklich, dass ich das sagen kann – ist ein Musterbeispiel des Friedens.“ Es stellt sich heraus, dass die Amerikaner das fertiggebracht haben, was die Europäer nicht erreichen können. „Unsere Beziehungen zu Kanada sind ein Muster des Friedens ... Mit einer Gewissheit, die fast ebenso groß ist wie unser Wissen über die Bewegung der Planeten, wissen wir, daß wir den Frieden (mit Kanada) erhalten werden.“ Das will so viel besagen, als: wenn ihr, Engländer, es einmal wagen solltet, mit uns Krieg zu führen, dann müsst ihr wissen, daß eure Kolonie Kanada mit uns gegen euch sein wird. „Ihr habt den Dawes-Plan ...“ und ihr seid verpflichtet, ihn anzunehmen: denn wenn ihr die amerikanischen Rentner nicht zufriedenstellt, dann wird aus der ganzen Sache nichts. „Meine Überzeugung, dass ein Weg zur Überwindung aller bestehenden Schwierigkeiten gefunden wird, beruht darauf, dass der Misserfolg zu einem Chaos führen würde“, d.h., wenn ihr Widerstand leistet, dann werden wir euch fallen lassen, und Europa wird ohne unsere Hilfe zugrunde gehen. „Sie müssen berücksichtigen“ ... „Sie müssen“ ... „Sie sollen nicht“ ... – in diesem Ton ist diese Rede gehalten, in einer Versammlung, an der der englische Thronfolger und die Minister Seiner Britischen Majestät teilgenommen haben. Das ganze offizielle England hat diese Rede mit einem Zähneknirschen beantwortet, das die Beziehungen zwischen Amerika und Europa in ein helles Licht setzt. Aber es ist bekannt, dass Zähneknirschen kein gutes Kampfmittel ist. – L.T.

 


Zuletzt aktualisiert am 16.8.2004