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Treten wir unter diesem Gesichtspunkt an das verflossene Jahrzehnt heran, so wird sich zeigen, dass es aus einigen scharf voneinander getrennten Perioden besteht. Die erste ist die des imperialistischen Krieges, die eine Zeit von über vier Jahren umfasst - für Russland etwas über drei Jahre. Die zweite Periode dieses Jahrzehnts beginnt mit dem Februar und besonders mit dem Oktober 1917. Das ist die Periode der revolutionären Abrechnung für den Krieg. Die Jahre 1918-1919 und in einigen Ländern auch das Jahr 1920, die Geschichte dieser drei Jahre also steht ganz und gar im Zeichen der Liquidation des imperialistischen Krieges und der unmittelbaren Erwartung der Revolution in ganz Europa. Wir hatten die Oktober-Revolution in Russland, den Sturz der Monarchien in den mitteleuropäischen Staaten, wir hatten einen gewaltigen Aufschwung der proletarischen Bewegung in ganz Europa und sogar in Amerika. Die letzten Ausläufer dieses nachrevolutionären Aufstiegs sind: der Septemberaufstand 1920 in Italien, die Märztage 1921 in Deutschland. Der Septemberaufstand 1920 in Italien fällt fast genau in die Zeit unserer Bewegung – der Offensive der Roten Armee gegen Warschau, die ebenfalls ein Bestandteil der großen revolutionären Flut war und ebenso wie die Bewegung in Italien abebbte. Man könnte sagen, dass diese Epoche des direkten revolutionären Ansturms der Nachkriegszeit mit dem drohenden Höhepunkt in Deutschland im Jahre 1921 abschließt. Wir im (zaristischen) Russland haben gesiegt, und die Macht des Proletariats hat sich bei uns gehalten. Die Monarchien Mitteleuropas brachen fast kampflos zusammen. Aber wenn man die episodischen Ereignisse in Ungarn und Bayern unberücksichtigt lässt, kann man sagen, dass das Proletariat nirgends die Macht erobert hat, und in diesen beiden episodischen Ausnahmen sie wieder aus den Händen geben musste. Es könnte nach alledem scheinen, und unsere Feinde und Gegner waren tatsächlich der Meinung, dass jetzt eine Epoche der Wiederherstellung des kapitalistischen Gleichgewichts, der Vernarbung der Wunden beginne, die der imperialistische Krieg geschlagen hat – eine Epoche der Festigung der bürgerlichen Gesellschaft.
Vom Standpunkte unserer revolutionären Politik setzt diese neue Periode mit einem Rückzug ein. Die Tatsache dieses Rückzuges haben wir – nicht ohne einen tiefen inneren Kampf – Mitte 1921 auf dem III. Kongress der Komintern offiziell anerkannt. Wir haben damals konstatiert, dass der erste, auf den imperialistischen Krieg folgende mächtige Ansturm zum Siege nicht ausgereicht hat, denn es fehlte an einer führenden Partei, die den Sieg gesichert hätte, und dass das letzte große Ereignis dieser dreijährigen Periode, die Märzbewegung in Deutschland, die größte Gefahr bot. Wenn die Bewegung diesen Weg weiter verfolgt hätte, dann hätte sie die jungen Parteien der Kommunistischen Internationale vernichten können. Der Dritte Kongress rief: „Zurück! Zurück von der unmittelbaren Kampflinie, auf die unsere Parteien in Europa von den Ereignissen der Nachkriegszeit gestellt waren.“ Es beginnt eine Epoche des Kampfes, um den Einfluss auf die Massen, eine Periode der energischen systematischen agitatorischen und organisatorischen Arbeit, zunächst mit der Parole: Arbeitereinheitsfront, dann: Arbeiter- und Bauernfront. Diese Periode dauerte gegen zwei Jahre. Und in dieser kurzen Zeit entwickelte sich eine Psychologie, die sich der gemessenen agitatorischpropagandistischen Arbeit anpasst. Die revolutionären Ereignisse schienen in eine unbestimmte, recht weitliegende Zukunft verlegt zu sein. Und doch wurde Europa gerade in der zweiten Hälfte dieser kurzen Periode von dem großen Krampf der Ruhrbesetzung heimgesucht.
Diese Okkupation des Ruhrgebiets könnte auf den ersten Blick als eine kleine Episode in dem blutgetränkten Europa scheinen. Sie war in Wirklichkeit eine kurze gedrängte Wiederholung des imperialistischen Krieges. Die Deutschen wiedersetzten sich nicht, denn sie waren wehrlos, die Franzosen drangen mit bewaffneter Macht in das Nachbarland ein und besetzten das Industriegebiet, das Herz der deutschen Wirtschaft. Die Folge davon war, dass Deutschland und mit ihm, bis zu einem gewissen Grade, das ganze übrige Europa wieder in die Kriegssituation gerieten. Die deutsche Wirtschaft erlitt eine Desorganisation, die auch auf die französische einwirkte. Die Geschichte hat sozusagen den Versuch wiederholt. Nachdem der imperialistische Krieg die ganze Welt erschüttert, die zurückgebliebensten Massen auf die Beine gebracht, sie aber nicht zum Siege geführt hat – nach alledem macht die Geschichte gewissermaßen einen neuen Versuch, eine Art Nachexamen. Sie sagt: „Ich gebe euch eine kleine Wiederholung des imperialistischen Krieges. Ich werde die schon ohnehin erschütterte Wirtschaft Europas wieder umschmeißen und Euch, den Proletariern, den kommunistischen Parteien die Möglichkeit geben, das in diesen letzten Jahren Versäumte nachzuholen.“ Wir sehen, wie die Lage in Deutschland sich im Laufe des Jahres 1923 sofort ändert und eine revolutionäre Richtung einschlägt. Die bürgerliche Gesellschaft ist bis in ihre Grundfesten erschüttert. Der bürgerliche Ministerpräsident spricht offen aus, dass er an der Spitze der letzten bürgerlichen Regierung Deutschlands stehe. Die Faschisten sagen: „Mögen die Kommunisten ans Ruder kommen, wir kommen später.“ Das staatlich-nationale Bestehen Deutschlands ist vollständig aus dem Geleise gebracht. Das Schicksal der Mark, wie überhaupt der ganzen deutschen Volkswirtschaft dieser Periode, ist bekannt. Die Massen strömen der Kommunistischen Partei zu. Die Sozialdemokratie, der wichtigste retardierende Faktor im Dienste der alten Gesellschaft, ist zersplittert, geschwächt, jedes Vertrauens beraubt; die Arbeiter verlassen ihre Reihen. Jetzt, da man diese Periode, die sich fast über das ganze Jahr 1923 erstreckt (besonders seine zweite Hälfte, seit Juni, nach dem Abbau des passiven Widerstandes), rückblickend prüft und die ganze Situation in Deutschland mit einem Blick erfasst, jetzt sagt man sich: Günstigere Bedingungen für die Revolution des Proletariats und für die Eroberung der Macht hat die Geschichte noch nie geschaffen und wird sie kaum jemals schaffen. Wenn man unseren jungen marxistischen Gelehrten die Aufgabe stellte, eine für die proletarische Machteroberung wirklich günstige Situation zu konstruieren, so werden sie, meines Erachtens, nichts Günstigeres, ersinnen können – vorausgesetzt natürlich, dass sie mit realem und nicht märchenhaftem, phantastischem Material operieren. Nur das eine hat damals gefehlt. Es fehlte jener Grad der Scharfsichtigkeit, Entschlossenheit und Kampffähigkeit der Kommunistischen Partei, der erforderlich ist, um einen rechtzeitigen Angriff und Sieg sicherzustellen. Und an diesem Beispiel lernen wir – und vor allem die Jüngeren unter uns – die Bedeutung der Führerrolle der Kommunistischen Partei – dieses, der historischen Folge nach letzten, der Bedeutung nach mit des wichtigsten Faktors der proletarischen Revolution.
Der Zusammenbruch der deutschen Revolution eröffnet eine neue Periode in der Entwicklung Europas und zum Teil der ganzen Welt. Wir haben diese neue Periode als eine Zeit bezeichnet, in der demokratisch-pazifistische Elemente der bürgerlichen Gesellschaft die Macht ergreifen. An die Stelle der Faschisten traten Pazifisten, Demokraten, Menschewisten, Radikale und andere Parteien des Kleinbürgertums. Es untersteht keinem Zweifel, dass wenn die Revolution in Deutschland gesiegt hätte, das ganze historische Kapitel unserer Gegenwart einen ganz anderen Inhalt gehabt hätte. Wenn es in Frankreich eine Regierung Herriot wirklich gegeben hätte, so würde dieser Herriot ganz anders aussehen, und auch die Dauer seines politischen Lebens wäre eine weit kürzere, obwohl ich auch jetzt eine Bürgschaft für ihre Dauer ablehnen würde. Das gleiche gilt auch von Macdonald und allen anderen Abarten desselben demokratisch-pazifistischen Grundtypus.
Zuletzt aktualisiert am 27.7.2004