Leo Trotzki

 

Aussichten der Weltentwicklung


I. Nochmals über die Voraussetzungen der proletarischen Revolution

Zehn Jahre sind seit dem Anfang des imperialistischen Krieges verflossen. Die Welt hat sich in dieser Zeit sehr verändert, wenn auch nicht so, wie wir es vor zehn Jahren angenommen und erhofft hatten. Wir betrachten die Geschichte vom Gesichtspunkte der sozialen Revolution. Dieser Standpunkt ist zugleich ein theoretischer und ein praktisch-aktiver. Wir analysieren die Entwicklungsbedingungen, wie sie sich ohne unser Zutun, unabhängig von unserem Willen gestalten, damit wir sie, nachdem wir sie begriffen haben, mit unserem aktiven Willen, d.h. dem Willen der organisierten Klasse, beeinflussen können. Diese zwei Seiten unserer marxistischen Einstellung zur Geschichte sind auf das engste und untrennbar miteinander verbunden. Wenn man sich auf die Registrierung dessen, was sich abspielt, beschränkt, so läuft man Gefahr, in Fatalismus, Indifferenz und soziale Gleichgültigkeit zu verfallen; wenn diese Einstellung einen gewissen Grad erreicht, dann nimmt sie die Gestalt des Menschewismus an, der sehr viel Fatalismus und Passivität gegenüber den Dingen hat, die sich hinter dem Rücken der Menschen abspielen. Wenn man sich andererseits nur auf den Willen, nur auf die revolutionäre Aktivität beschränkt, dann riskiert man, einem Subjektivismus zu verfallen, der mancherlei Abarten aufweist: die eine ist der Anarchismus, eine andere – die Einstellung der linken Sozial-Revolutionäre (dies die russische Abart des Subjektivismus); endlich gehören hierher auch jene Erscheinungen im Kommunismus selbst, die Wladimir Iljitsch als „Kinderkrankheiten des Radikalismus“ bezeichnete. Die ganze Kunst der revolutionären Politik besteht in der richtigen Koordination der objektiven Einschätzung und der subjektiven Einwirkung. Darin liegt das Wesen des Leninismus.

Ich sagte, dass wir an die Geschichte vom Gesichtspunkte der Revolution herantreten, jener Revolution, die die Gewalt zwecks kommunistischer Umgestaltung der Gesellschaft in die Hände der Arbeiterklasse legen wird. Welches sind nun die Voraussetzungen für die soziale Revolution, unter welchen Bedingungen kann sie entstehen, sich entfalten und siegen? Der Voraussetzungen sind viele. Aber sie lassen sich immer in drei große Gruppen, zunächst vielleicht in zwei, eingliedern. Die objektiven sind eben jene, die sich „hinter dem Rücken“ der Menschen gestalten. Wenn man mit dem Fundament, mit den Grundlagen beginnen will – und das müssen wir –, dann müssen wir sagen, dass die objektiven Voraussetzungen vor allem durch ein bestimmtes Entwicklungsniveau der Produktivkräfte geschaffen werden. (Ich muss hier jene um Entschuldigung bitten, für die das, was ich jetzt sage, Selbstverständlichkeiten sind. Ich nehme jedoch an, dass nicht alle hier Anwesenden mit diesen Dingen vertraut sind. Es dürfte übrigens uns allen nützlich sein, von Zeit zu Zeit zu diesen „Selbstverständlichkeiten“, zu den Grundlagen, zurückzukehren, um mit Hilfe der alten Methode zu neuen, von der gegenwärtigen Situation diktierten Schlussfolgerungen zu gelangen.) Die grundlegende und wichtigste Voraussetzung der sozialen Revolution ist also ein bestimmtes Niveau der Entwicklung der Produktivkräfte – ein Niveau, bei dem der Sozialismus und dann der Kommunismus als Wirtschafts- und Produktionsform, als Methode der Verteilung der materiellen Güter, materielle Vorteile bieten. Auf dem Bauernpflug lässt sich kein Sozialismus, geschweige denn Kommunismus aufbauen. Es ist demnach ein bestimmtes Entwicklungsniveau der Technik notwendig. Fassen wir die gesamte kapitalistische Welt ins Auge und fragen uns: Ist dies Niveau jetzt erreicht? Zweifellos. Wie lässt sich das beweisen? Dadurch, dass in der ganzen Welt die großen und größten kapitalistischen Betriebe und deren Konzerne – die Trusts und Syndikate – die mittleren und kleinen Betriebe verdrängen. Wir können daraus schließen, dass eine soziale Wirtschaftsorganisation, die sich nur auf die Technik der großen und größten Unternehmungen stützt, die nach dem Muster der Trusts und Syndikate, aber auf den Grundlagen der Solidarität aufgebaut ist, die sich auf die Nation, den Staat und dann auf die ganze Welt erstreckt – ungeheure materielle Vorteile bieten würde. Diese Voraussetzung ist also gegeben, und zwar schon seit langem. Die zweite objektive Voraussetzung ist die folgende: Es muss eine solche Gliederung der Gesellschaft sein, dass sich eine Klasse herauskristallisiert hat, die an dem sozialistischen Umsturz interessiert, zahlreich und in der Produktion genügend einflussreich ist um einen solchen Umsturz durchzuführen. Aber das allein genügt nicht. Es ist notwendig, dass diese Klasse – und hier wenden wir uns den subjektiven Voraussetzungen zu – die Situation begreift dass sie den Umsturz bewusst erstrebt, dass an ihrer Spitze eine Partei steht, die fähig ist, die Führung dieser Klasse während des Umsturzes zu übernehmen und den Sieg sicherzustellen. Und das setzt andererseits einen entsprechenden Zustand der regierenden bürgerlichen Klasse voraus: Verlust ihres Einflusses auf die Volksmassen, Lockerung in den eigenen Reihen, Einbuße des Wertgefühls in der Klasse selbst. Ein solcher Zustand der Gesellschaft ist eben revolutionärer Zustand. Nur auf der Grundlage von bestimmten sozialen und produktionstechnischen Vorbedingungen können die zur Durchführung des Aufstandes und zu seinem siegreichen Ende erforderlichen psychologischen, politischen und aktiv-organisatorischen Voraussetzungen erstehen.

Wenn wir uns fragen, ob die zweite Vorbedingung, die Klassengliederung, d.h. die Rolle und Bedeutung des Proletariats in der Gesellschaft, gegeben ist, ob diese für die soziale Revolution unerlässliche Vorbedingung herangereift ist, so können wir auch hier antworten: Zweifellos, schon seit Jahrzehnten. Am besten beweist das die Rolle des russischen, noch ganz jungen Proletariats. Also was hat denn bisher gefehlt? Es fehlte die letzte subjektive Voraussetzung, die Bewusstwerdung im europäischen Proletariat seiner Aufgabe in der Gesellschaft, es fehlte die entsprechende Organisiertheit und die dazu gehörige Erziehung durch eine Partei, die die Führung der Klasse übernehmen kann. Daran hat es bis jetzt gefehlt. Wir Marxisten haben schon oft gesagt, dass die Erkenntnis der Gesellschaft, trotz aller idealistischen Theorien, hinter den objektiven Entwicklungsbedingungen zurückbleibt – und wir sehen die Richtigkeit dieser Behauptung an dem Schicksal des Proletariats in erschreckendem historischen Maßstabe bestätigt! Die Produktivkräfte sind für den Sozialismus schon seit langem gereift. Schon lange spielt das Proletariat, wenigstens in den führenden kapitalistischen Ländern, die entscheidende wirtschaftliche Rolle. Von ihm hängt die ganze Mechanik der Produktion und folglich auch die soziale Struktur ab. Was uns fehlt – das ist der letzte Faktor, das subjektive Moment: Das Bewusstsein bleibt hinter dem Sein zurück.

Der imperialistische Krieg könnte einerseits als eine historische „Buße“ dafür angesehen werden, dass die Erkenntnis des Proletariats hinter den Tatsachen zurückbleibt, andererseits als ein Anstoß nach vorwärts von gewaltiger Wirkung. So haben wir den imperialistischen Krieg auch aufgefasst. Er konnte überhaupt nur deshalb zustande kommen, weil das Proletariat nicht die Kraft hatte, ihn abzuwenden, denn es erkannte seine Rolle in der Gesellschaft nicht, seine historische Mission – sich zu organisieren, die Frage der Machteroberung zu stellen und sie zu lösen. Zugleich musste der imperialistische Krieg, der eine Sühne für das, was nicht Schuld, sondern Unglück des Proletariats war, die Rolle eines mächtigen revolutionären Faktors übernehmen.

Der Krieg enthüllte die dringende und unabweisbare Notwendigkeit, die soziale Ordnung zu ändern. Wir sagten, dass der Übergang zur sozialistischen Gesellschaft schon lange vor dem Kriege bedeutende Vorteile bot. Das bedeutet, dass die Produktivkräfte sich schon vor dem Kriege auf sozialistischen Grundlagen weit besser hätten entfalten können, als unter dem kapitalistischen Regime. Indes sahen wir, dass die Produktivkräfte vor dem Kriege nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa trotz der kapitalistischen Grundlagen sich schnell entwickelten. Darin bestand die relative „Berechtigung“ für das Bestehen des Kapitalismus. Aber seit dem kapitalistischen Kriege ändert sich das Bild vollständig: die Produktivkräfte wachsen nicht, sie zerfallen. Es ist ihnen im Rahmen der nationalen Staaten, im Rahmen des Privateigentums allmählich zu eng geworden. Jetzt nach dem Kriege, sehen wir, dass es sich nur um einen Wiederaufbau des Zerstörten, keineswegs aber um eine weitere Entwicklung der Produktivkräfte handeln kann. Der Rahmen des privaten Eigentumsrechtes auf die Produktionsmittel und der Rahmen jener nationalen Staaten, die der Versailler Frieden geschaffen hat, drücken weit mehr auf die Produktivkräfte als früher. Im letzten Jahrzehnt hat sich zum erstenmal, und zwar mit unabweisbarer Deutlichkeit gezeigt, dass der Kapitalismus eine weitere Steigerung der menschlichen Entwicklung vollkommen ausschließt. In diesem Sinne war der Krieg ein revolutionärer Faktor. Aber nicht nur dadurch allein. Die unerbittlichen Methoden des Krieges wühlten die ganze Organisation der Gesellschaft auf, trieben das Bewusstsein der werktätigen Massen aus dem Geleise des Konservativen und Althergebrachten. So traten wir in die Epoche der Revolution ...

 


Zuletzt aktualisiert am 27.7.2004